# taz.de -- Ausbeutung in der Fleischindustrie: Dann lieber zu Amazon | |
> Drei Jahre nachdem ein Gesetz die Verhältnisse in der Fleischindustrie | |
> ändern sollte, gibt es viele der Probleme heute noch. Wie kann das sein? | |
Bild: Geschlachtete und gerupfte Puten in einem Schlachtbetrieb in Ahlhorn. Neb… | |
Die Worte, die Hubertus Heil am 16. Dezember 2020 wählte, waren groß. Der | |
damalige und heutige Arbeitsminister begann seine Rede im Bundestag mit dem | |
ersten Satz des Grundgesetzes, der sagt, dass die Würde des Menschen | |
unantastbar ist. Und er schloss sie mit einem Versprechen: „Wir räumen | |
gründlich auf in der Fleischindustrie, weil es um die Menschenwürde von | |
Beschäftigten geht.“ Knapp eine Woche später wurde das Gesetz, für das der | |
Sozialdemokrat hier um Zustimmung warb, beschlossen. Das | |
Arbeitsschutzkontrollgesetz, [1][das endlich Schluss machen sollte mit den | |
Verhältnissen in der deutschen Fleischindustrie], ist jetzt seit drei | |
Jahren in Kraft. | |
Ende November 2023 sitzt Daria Georgescu auf ihrer Bettkante, weil sie dem | |
Besuch alle Stühle in ihrer Wohnung angeboten hat. Sie erzählt von dem Job, | |
den sie den schlimmsten ihres Lebens nennt: Als Produktionshelferin bei | |
Heidemark, einem Putenschlachtbetrieb, im niedersächsischen Ahlhorn. | |
Güllegürtel wird diese Gegend südlich von Oldenburg genannt, weil es hier, | |
in den Landkreisen Cloppenburg und Vechta, die deutschlandweit höchste | |
Dichte an Massentierhaltungsbetrieben gibt. Diese Tiere müssen | |
weiterverarbeitet werden. Mehr als 14 Millionen Puten werden pro Jahr bei | |
Heidemark in Ahlhorn geschlachtet, zerteilt und verpackt, von rund 1.300 | |
Mitarbeiter:innen. Eine von ihnen war Georgescu, die eigentlich anders | |
heißt, aber aus Angst vor Konsequenzen seitens Heidemark anonym bleiben | |
möchte. | |
Ein knappes halbes Jahr hat Georgescu bei Heidemark gearbeitet, nachdem das | |
Arbeitsschutzkontrollgesetz bereits in Kraft getreten war. Dann wurde ihr | |
gekündigt, kurz vor Ablauf der Probezeit, nachdem sie zum zweiten Mal eine | |
Krankschreibung eingereicht hatte. Krankgeschrieben war sie wegen starker | |
Rückenschmerzen vom Heben der schweren, mit Fleisch gefüllten Wannen. Ihre | |
erste Krankschreibung bekam sie, als sie während der Arbeit ausgerutscht | |
war und sich in den Oberschenkel geschnitten hatte, so steht es im | |
Arztbericht. „Ich wurde angeschrien, dass ich schneller machen soll, dann | |
ist mir das passiert“, sagt sie. | |
Die taz hat neben Georgescu mit fünf weiteren Menschen gesprochen, die bei | |
Heidemark und zwei weiteren Betrieben in der Region arbeiten oder bis vor | |
Kurzem gearbeitet haben, und konnte Arbeitsverträge, Kündigungsschreiben | |
und medizinische Dokumente einsehen. Dazu hat die taz Daten aus allen 16 | |
Bundesländern abgefragt, die zeigen, wie häufig der Arbeitsschutz in den | |
Betrieben kontrolliert wird. | |
## Gewerkschaftliche Organisierung? Praktisch unmöglich | |
Die Recherche zeigt: Nach wie vor werden [2][in der Fleischindustrie] | |
Menschen auf eine Weise beschäftigt, bei der sie körperlich und psychisch | |
kaputtgehen. Die Einhaltung gesetzlicher Vorschriften wird kaum überprüft, | |
und die wenigsten Beschäftigten halten den Job lange durch. Ein System, das | |
nur funktioniert, weil immer [3][neue Arbeitskräfte nachkommen, vor allem | |
aus Rumänien und Bulgarien, aber auch aus anderen Ländern]. Ein System, das | |
trotz des neuen Gesetzes, das diese Menschen doch endlich schützen sollte, | |
weiter zu bestehen scheint. Wie kann das sein? | |
Der Kern des Arbeitsschutzkontrollgesetzes ist ein Verbot von | |
Subunternehmen, Leiharbeit und Werkverträgen im Kerngeschäft der | |
Fleischindustrie: Schlachtung, Zerlegung, Fleischverarbeitung. Ein solches | |
Verbot ist einmalig. | |
Die Gewerkschaften und andere Organisationen forderten es seit Jahrzehnten, | |
weil das System der Subunternehmen entscheidend zu den ausbeuterischen | |
Arbeitsverhältnissen beigetragen hatte. Die Beschäftigten standen in | |
Abhängigkeitsverhältnissen zu den Chefs der Subunternehmen, die Konzerne | |
konnten die Verantwortung von sich weisen, gewerkschaftliche Organisierung | |
war durch die Zersplitterung in viele verschiedene Betriebe praktisch | |
unmöglich. | |
Doch erst die massiven Corona-Ausbrüche, etwa bei Tönnies, rückten die | |
Arbeitsbedingungen so stark ins Licht der Öffentlichkeit, dass der | |
politische Druck für das Verbot groß genug wurde. Dazu kam, dass sich das | |
Subunternehmen-System auch für die Konzerne als immer ineffizienter erwies. | |
Erstaunlich schnell setzten sie das Gesetz um, meist wurden die kompletten | |
Belegschaften eines Unternehmens übernommen. | |
Darin liegt ein Problem: Viele Betriebe, so sagen es Branchenkenner, haben | |
mit der Belegschaft auch die autoritären Strukturen des jeweiligen | |
Subunternehmens übernommen. „An vielen Orten ist der zuständige Vorarbeiter | |
der gleiche geblieben“, sagt Anna Szot, die bei der gewerkschaftlichen | |
Beratungsstelle Faire Mobilität für die Fleischindustrie zuständig ist. | |
„Dadurch entsteht für Beschäftigte der Eindruck, es habe sich nichts | |
verändert.“ | |
## Die Macht der Vorarbeiter | |
Wenn Daria Georgescu über ihre Arbeit bei Heidemark spricht, erzählt sie | |
von den vielen „kleinen Chefs“ und den wenigen „großen Chefs“. Die kle… | |
Chefs, das sind die Vorarbeiter, zuständig für einen bestimmten Bereich der | |
Produktion, meist für eines der vielen Fließbänder. Sie müssen dafür | |
sorgen, dass das Tempo gehalten wird, dass Vorgaben von oben umgesetzt | |
werden. | |
Georgescu sagt: „Alles hängt davon ab, wie dein Verhältnis zum Vorarbeiter | |
ist.“ Die anderen Beschäftigten, mit denen die taz spricht, schildern es | |
genauso. „Angst, Rache und Strafe“ würden die Arbeitsatmosphäre bei | |
Heidemark bestimmen, sagt Raluca Dobre (Name geändert), die dort ein Jahr | |
gearbeitet hat. Wer sich krankmeldet, wer sich beschwert, wer zu viele | |
Fragen stellt, werde vom Vorarbeiter dafür bestraft, indem er auf eine | |
Position mit härterer Arbeit versetzt wird. | |
„In Rumänien habe ich bei McDonald’s gearbeitet, das war besser als | |
Heidemark“, sagt Dobre. Ein Verwandter habe sie bei Heidemark angeworben, | |
später habe sie erfahren, dass er dafür 250 Euro von seinem Vorarbeiter | |
bekam, der vermutlich wiederum von weiter oben den Auftrag bekommen hatte, | |
mehr Personal heranzuschaffen. | |
2.000 Euro netto seien ihr versprochen worden und eine angenehme Arbeit. | |
„Der erste Tag war ein richtiger Schock“, sagt sie. Eine Einarbeitung gebe | |
es nicht, „mach, was die anderen machen“, sei ihr gesagt worden, mehr | |
nicht. „Die Neuen müssen die härteste Arbeit machen, die schwersten Kisten | |
heben, und weil sie zu langsam sind, kriegen sie sofort Stress mit | |
Kollegen, die selbst Angst haben, sonst Ärger zu bekommen, weil das Tempo | |
nicht stimmt“, sagt Dobre. | |
Die taz hat Heidemark darum gebeten, Stellung zu den Vorwürfen der | |
Angestellten zu beziehen. „Wir möchten betonen, dass wir der Einhaltung | |
aller gesetzlichen Vorschriften und Standards in Bezug auf | |
Arbeitsbedingungen und Arbeitnehmerrechte höchste Priorität einräumen“, | |
schreibt das Unternehmen auf Anfrage. „Der enge Draht zu unseren | |
Mitarbeitenden, unsere Duz-Kultur, das Aufzeigen einer Perspektive und die | |
Schaffung sicherer Arbeitsplätze sind uns dabei besonders wichtig.“ An der | |
Verbesserung des Arbeitsschutzes werde kontinuierlich gearbeitet. Eine | |
Reihe von konkreten Fragen zu den Schilderungen der Angestellten will | |
Heidemark auch auf Nachfrage nicht beantworten. | |
## Blasenentzündung wegen zu wenigen Toilettenpausen | |
Wie auch in anderen Schlachtbetrieben ist die Arbeit bei Heidemark | |
grundsätzlich hart. Gearbeitet wird im Schichtsystem, entweder ab | |
frühmorgens oder bis in die Nacht. Bei einer Arbeitszeit von bis zu neun | |
Stunden gibt es zwei Pausen à 15 Minuten, bei Schichten, die länger als | |
neun Stunden gehen, gibt es drei solcher Pausen. | |
Daria Georgescu sagt, weil der Pausenraum so weit weg sei und jedes Mal die | |
Arbeitskleidung aus- und wieder angezogen werden müsse, reiche das kaum, um | |
etwas zu essen. Raluca Dobre berichtet, sie habe mehrmals eine | |
Blasenentzündung bekommen, weil sie zu selten aufs Klo gehen konnte. | |
In den Hallen ist es kalt, die Arbeit ist monoton und körperlich belastend. | |
Raluca Dobre hat in der Verpackung gearbeitet, ihre Aufgabe: mit Fleisch | |
gefüllte Kisten vom Fließband nehmen und auf Paletten stapeln, immer und | |
immer wieder. Daria Georgescu war in der Zerlegung eingesetzt, hier hängen | |
die Puten an Haken von oben herab und die Angestellten bearbeiten sie unter | |
hohem Zeitdruck mit scharfen Messern und Scheren: Brust auslösen, Flügel | |
abtrennen, Keulen herausschneiden. | |
Die Angestellten bekommen zwar den Mindestlohn, zahlen aber oft überzogene | |
Mieten in den über die Unternehmen organisierten oder von Anwohnern | |
vermieteten Wohnungen und Unterkünften in der Region. Dazu kommen Kosten | |
für den Transport zum Arbeitsplatz und zurück, der oft über die Vorarbeiter | |
organisiert wird. Konfrontiert mit Darstellungen der Angestellten, wonach | |
diese ihr Arbeitswerkzeug selbst hätten bezahlen müssen, sagt ein | |
Heidemark-Sprecher, es werde ein Pfand auf „einzelne besonders hochwertige | |
Arbeitsmittel“ erhoben. | |
## Bitten nach einem Krankenwagen werden verweigert | |
Doch das, was die Angestellten berichten, geht über diese fragwürdigen | |
Verhältnisse noch hinaus. Das betrifft etwa den Umgang mit Arbeitsunfällen: | |
Ein Mann erzählt, er sei auf dem glitschigen Boden ausgerutscht, sein Knie | |
habe stark geschmerzt, doch der Vorarbeiter habe ihn angewiesen, einfach | |
weiterzuarbeiten. Ein Arzt diagnostiziert ihm am nächsten Tag einen | |
Meniskusriss. | |
Auch in anderen Fällen hätten sie beobachtet, wie bei der Arbeit | |
entstandene Verletzungen nur oberflächlich verarztet worden seien, die | |
Bitte nach einem Krankenwagen verweigert wurde, sagen die Menschen, mit | |
denen die taz gesprochen hat. Heidemark weist diese Vorwürfe zurück: „Im | |
Falle eines medizinischen Notfalls werde erste Hilfe geleistet und | |
„unverzüglich medizinische Hilfe angefordert“, schreibt ein | |
Unternehmenssprecher. | |
Das betrifft auch den Umgang mit Arbeitszeit. Im | |
Arbeitsschutzkontrollgesetz ist vorgeschrieben, dass diese erfasst werden | |
muss. „Aus unserer Beratungspraxis wissen wir, dass das zum Teil dazu | |
führt, dass die Arbeit verdichtet wird, die Bänder laufen einfach | |
schneller“, sagt Anna Szot. | |
Bei Heidemark, so sagen es Daria Georgescu und andere, sei das | |
elektronische Erfassungssystem mehrmals kaputt gewesen. Sie gehen davon | |
aus, dass sie nicht für alle Überstunden, die sie geleistet haben, auch | |
tatsächlich bezahlt wurden. „Wenn mal zu wenig zu tun war, wurden wir nach | |
Hause geschickt, der Tag wurde uns von unseren Urlaubstagen abgezogen“, | |
sagt Georgescu. | |
Heidemark räumt auf Anfrage ein, dass es im September 2023 einen Ausfall | |
der elektronischen Arbeitszeiterfassung gegeben habe. In dieser Zeit sei | |
die Arbeitszeit manuell erfasst worden – wie genau und wie lange dieser | |
Ausfall gedauert habe, will das Unternehmen nicht beantworten. | |
## Der Mangel an Kontrollen | |
Die beste Möglichkeit, um festzustellen, ob Heidemark und ähnliche Konzerne | |
sich tatsächlich an die Gesetzeslage halten, wäre, genau das zu | |
kontrollieren. Auch dafür hat das Arbeitsschutzkontrollgesetz eine wichtige | |
Neuerung gebracht: Es schreibt vor, dass ab dem Jahr 2026 jährlich | |
mindestens 5 Prozent aller Betriebe in einem Bundesland von den | |
Arbeitsschutzbehörden kontrolliert werden müssen. Diese | |
Mindestbesichtigungsquote gilt nicht nur für die Fleischindustrie, sondern | |
für alle Branchen. Die Vorschrift gilt zwar erst ab 2026, allerdings legt | |
das Gesetz auch fest, dass die Länder ihre Kontrollquoten bis dahin | |
schrittweise bis auf die vorgeschriebenen 5 Prozent erhöhen müssen. | |
Die taz hat in allen 16 Bundesländern abgefragt, in wie vielen Betrieben | |
dort im Jahr 2022 eine sogenannte Besichtigung mit Systembewertung | |
durchgeführt wurde, die für die Berechnung der Quote ausschlaggebend ist. | |
Die Zahlen stimmen mit denen überein, die letzte Woche in einem | |
Zwischenbericht zur Umsetzung der Kontrollquote veröffentlicht wurden. | |
Das Ergebnis: Im Schnitt wurden lediglich 0,8 Prozent der Betriebe | |
kontrolliert. Bis auf Sachsen-Anhalt, das auf eine Quote von 3 Prozent | |
kommt, gibt es kein Bundesland, in dem mehr als 2 Prozent der Betriebe | |
kontrolliert wurden, beim Schlusslicht Baden-Württemberg waren es gerade | |
einmal 0,3 Prozent. | |
Doch obwohl die Zahlen zeigen, dass die Länder die Kontrollquoten bisher | |
kaum oder gar nicht steigern konnten, lehnt es die Bundesregierung ab, hier | |
tätig zu werden. „Die Bundesregierung hat auch gegenwärtig keinen Anlass, | |
Zusicherungen der Länder, dass diese alle notwendigen Anstrengungen | |
unternehmen, um die Mindestbesichtigungsquote bis 2026 zu erfüllen, in | |
Zweifel zu ziehen“, sagt ein Sprecher des Arbeitsministeriums auf Anfrage | |
der taz. Die Zahlen für 2022 ließen „keinen Schluss darüber zu, ob die | |
Länder die Mindestbesichtigungsquote in 2026 erfüllen werden oder nicht“. | |
Welche Konsequenzen es haben wird, wenn die Länder die vorgeschriebene | |
Quote bis 2026 nicht erreichen, hatte die Linken-Bundestagsabgeordnete | |
Susanne Ferschl die Bundesregierung bereits vor anderthalb Jahren gefragt. | |
Darüber werde frühestens 2026 entschieden, hieß es damals in der Antwort, | |
auch daran hält die Bundesregierung trotz der nun bekannt gewordenen Zahlen | |
fest, sagt ein Sprecher auf taz-Anfrage. | |
## Arbeitsschutzbehörden fehlt Personal | |
Ferschl, die sich seit mehreren Jahren mit den Arbeitsbedingungen in der | |
Fleischindustrie beschäftigt, kann das nicht nachvollziehen. „Es liegen nun | |
Zahlen auf dem Tisch, die die bisherige Untätigkeit der Regierung in Sachen | |
Arbeitsschutz überdeutlich belegen“, sagt sie der taz. Ergreife die | |
Bundesregierung weiterhin keine Maßnahmen, sei das „Versagen mit Ansage, | |
auf dem Rücken der Beschäftigten“, so Ferschl. | |
Aus den Ländern heißt es, sie hätten der 5-Prozent-Quote nur zugestimmt, | |
weil damit die Hoffnung verbunden war, dann auch mehr Ressourcen für den | |
Arbeitsschutz zu bekommen. Das habe sich jedoch nicht erfüllt. In den | |
Arbeitsschutzbehörden fehle Personal, die Situation werde sich in den | |
kommenden Jahren aufgrund des Renteneintritts vieler | |
Arbeitsschutzbeamt:innen vermutlich noch verschlechtern. | |
Die Arbeitsbedingungen bleiben hart, die Vorarbeiter-Despotie besteht auch | |
ohne Subunternehmen weiter, und es wird nach wie vor nur ein Bruchteil der | |
Betriebe kontrolliert. Hat sich durch das Arbeitsschutzkontrollgesetz also | |
wirklich gar nichts verbessert? | |
Doch, sagt Anna Szot. „Bei Problemen mit der Lohnzahlung ist es jetzt viel | |
einfacher, den richtigen Ansprechpartner zu finden und diese zu klären“, | |
sagt sie. Vorher sei oft nur der Gang zum Arbeitsgericht geblieben, den | |
sich die wenigsten Betroffenen zutrauen. „Mit dem Gesetz sind außerdem die | |
Grundlagen dafür getroffen, dass sich mehr Beschäftigte gewerkschaftlich | |
organisieren können, auch wenn dieser Prozess weiterhin Zeit braucht“, sagt | |
Szot. | |
Klar ist auch: Nicht jeder Teil der komplexen Ausbeutungsverhältnisse, die | |
in den Gesprächen mit den Beschäftigten deutlich werden, lässt sich auf der | |
Ebene der Gesetzgebung lösen. Weibliche Angestellte, so sagt ein | |
Branchenkenner, seien in der Fleischindustrie beliebt, weil sie „präziser | |
und leidensfähiger“ seien als die Männer, doch die Vorarbeiter sind | |
überwiegend männlich – dass ihre Untergebenen oftmals patriarchale | |
Verhältnisse gewohnt sind, stärkt ihre Machtposition. | |
## Mafiöse Strukturen im Güllegürtel | |
Auch die Verhältnisse in den Herkunftsländern der Beschäftigten stützen das | |
System: Daria Georgescu berichtet, wie sie versucht habe, Kolleg:innen | |
bei Heidemark dazu zu bringen, sich gemeinsam über die Bedingungen zu | |
beschweren – vergeblich. „Viele, die dort arbeiten, kommen aus sehr armen | |
Verhältnissen und sind sehr, sehr harte Arbeit gewöhnt“, sagt sie. Dass | |
Verträge fast ausschließlich befristet vergeben werden, hält Beschäftigte | |
ebenso davon ab, sich zu beschweren, geschweige denn sich gewerkschaftlich | |
zu organisieren. | |
Dazu kommen, gerade im Güllegürtel, die engen Verflechtungen zwischen der | |
Fleischindustrie, der Politik und der Gesellschaft. Kenner sprechen von | |
mafiösen Strukturen. Der in der Region tätige [4][Priester Peter Kossen, | |
der sich seit Jahren gegen die Verhältnisse in der Fleischindustrie | |
einsetzt], fand einst einen Kaninchenkopf vor seiner Haustür, offenbar ein | |
Einschüchterungsversuch. | |
Immer wieder werden Angestellte, die mit Journalist:innen sprechen, | |
bedroht, auch gegen Medienberichte selbst gehen die Konzerne teils mit | |
immensen Schadenersatzforderungen vor. Längst nicht alle Beschäftigten, mit | |
denen die taz für diese Recherche sprechen wollte, waren dazu auch bereit. | |
Viele haben Angst, manche sind auch resigniert: „Wozu soll ich ein | |
Interview geben“, fragt eine Frau, die ebenfalls bei Heidemark arbeitet. | |
„Alle wissen, dass man uns wie Tiere behandelt.“ | |
Die bislang spürbarste Verbesserung für die Beschäftigen war die Einführung | |
des Mindestlohns im Jahr 2015. Seit Anfang des Jahres beträgt dieser 12,41 | |
Euro, das ist nicht viel, schon gar nicht für diese Art von Arbeit. Aber es | |
ist weitaus mehr, als die Beschäftigten in dieser Branche vor 2015 | |
verdienten, als Löhne um 5 Euro die Stunde normal waren. | |
Eine weitere Veränderung ist schleichender, aber ebenfalls bereits spürbar: | |
Der Arbeitskräftemangel macht sich auch in der Fleischindustrie bemerkbar. | |
Der stetige Zustrom neuer Arbeitskräfte, auf dem das ganze System basiert, | |
scheint auf einmal nicht mehr ganz so unerschöpflich. Als der Ukraine-Krieg | |
ausbrach, [5][warb Tönnies direkt an der ukrainisch-polnischen Grenze | |
Arbeitskräfte an]; Transport nach Deutschland gegen die Verpflichtung, dort | |
für den Konzern zu arbeiten, so der Deal. Doch die Hoffnungen in die | |
ukrainischen Arbeitskräfte hätten sich nicht erfüllt, heißt es aus der | |
Branche, viele von ihnen seien nicht bereit, zu diesen Bedingungen zu | |
arbeiten. | |
Ob diese Situation die Arbeitsbedingungen verbessern wird, weil die | |
Unternehmen sonst keine Beschäftigten mehr finden, ist offen. Klar ist | |
jedenfalls: Die Fleischindustrie muss zunehmend mit anderen Branchen um | |
Arbeitskräfte konkurrieren. Das gilt auch für Heidemark. In Ahlhorn hat im | |
Sommer 2023 ein Amazon-Logistikzentrum eröffnet, 1.000 Menschen sollen hier | |
arbeiten. „Alle, die ein bisschen Deutsch oder Englisch können, versuchen | |
von Heidemark dorthin zu wechseln“, sagt Daria Georgescu. Auch sie möchte | |
sich bewerben. Schließlich seien dort die Hallen wenigstens nicht so kalt, | |
außerdem gebe es einen etwas höheren Stundenlohn. | |
Amazon als Wunsch-Arbeitgeber: Diese bittere Pointe zeigt vielleicht am | |
besten, wie es um die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie drei Jahre | |
nach Einführung des Gesetzes, das den Beschäftigten die Menschenwürde | |
zurückbringen sollte, bestellt ist. | |
24 Jan 2024 | |
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