Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Reggae in Polen: Gottes Musik in Babylon
> Reggae regiert nicht nur Jamaika. Auch in Polen halfen Sound und Attitüde
> beim Überwinden des Sozialismus. Eine Spurensuche.
Bild: Feeling Irie: Reggae-Fans bei einem polnischen Reggae-Festival nahe Küst…
„Wolny naród musi być, wolny naród!“ – „Eine freie Nation muss sein,…
freie Nation!“, singt Robert Brylewski, Enfant terrible der polnischen
Musikgeschichte im Refrain. Dazu muss man sich seine punkige Stimme
vorstellen: „Es gibt kein Leben in vergifteten Städten / Es gibt kein Leben
in vergifteten Flüssen! / Was werden künftige Generationen sagen, über
Hass und Gewalt, über Segregation und Diskriminierung?“
„Wolny naród“, „Freie Nation“, ist einer der bekanntesten Songs der
polnischen Reggaeband Izrael. Er befindet sich auf dem Album „Nabij Faję“
(Stopf die Pfeife), veröffentlicht 1986. Man kann durchaus erahnen, dass
die Pfeife nicht mit Tabak, sondern mit einem Heilkraut gestopft werden
soll.
Musikalisch stellt der Song eine Fusion aus Punk, Progrock und Dubreggae
dar. Jenseits seiner Originalität ist der rohe, ungeschliffene Sound auch
ein wichtiges Dokument der Underground-Freiheit im damals totalitären
Polen. „Legen Dub“, „Równe prawa“ (Gleiche Rechte) und „Wolność“…
lauten weitere Songtitel des Albums, das in Polen Legendenstatus besitzt.
## Ziemlich logisch
Die auf den ersten Blick ungewöhnliche Genre-Mischung Izraels ist, wenn man
die polnische Popgeschichte als Ganzes betrachtet, ziemlich logisch.
Musikkritiker und DJ Filip Lech schreibt zu den Anfängen von polnischem
Reggae: „Diese Szene umfasste ehemalige Punks (oder Punker, wie man in den
1980er Jahren zu sagen pflegte), Hippies, Post-Hippies, New-Wave-Fans und
-Künstler, ja sogar Jazzmusiker.
[1][Reggae- und Punkbands gingen gemeinsam auf Tournee]. Als Izrael und die
Punkband TZN Xenna in Zakopane spielten, entwarfen sie ein Plakat mit der
ironischen Aufschrift: 'Gottes Musik in Babylon’.“ Daraus habe sich
schließlich die folgende absurde Situation im erzkatholischen Polen
ergeben: Mehrere ältere Frauen nahmen das Plakat beim Wort und kamen mit
der Erwartung zum Konzert, dass es sich um eine religiöse Veranstaltung
handele. Als sie dann den Sänger von Xenna in Punk-Klamotten auf der Bühne
sahen, beschimpften sie ihn als Satan.
[2][Zu Beginn der 1980er war Reggae aus Jamaika nicht zuletzt dank Punk in
London und ganz Großbritannien etabliert] – weniger bekannt ist, dass Sound
und Lebenshaltung es auch ins sozialistische Polen schafften. Mit dem
Reggae-Spirit schuf sich der polnische Musik-Underground ganz eigene
Freiräume. Tonträger wurden von den wenigen, die reisen konnten, aus dem
Westen eingeschmuggelt, auf DiY-Weise vervielfältigt und ausgiebig gehört.
## Mangelware Freiheit
Freiheit war im kommunistischen Polen jener Zeit Mangelware: Im Dezember
1981 wurde unter dem damaligen Ministerpräsidenten Wojciech Jaruzelski das
Kriegsrecht im Land ausgerufen. Die damit verbundene extreme Einschränkung
von Bürgerrechten sollte die von der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność
organisierten Streiks im Keim ersticken.
Solidarność wurde offiziell verboten und führte ihre Aktivitäten im
Untergrund und im Exil fort. Das Polen dieser Zeit war einerseits von einer
Atmosphäre der Repressionen und Angst geprägt, andererseits gab es einen
massiven Freiheitsdrang, den die Staatsgewalt nicht aufhalten konnte und
der im polnischen Reggae seinen musikalischen Ausdruck fand: „Babylon
brennt“, wie die Band Izrael 1985 die Lage besang.
Polnische Reggaebands sprossen Anfang der 1980er wie Pilze aus dem Boden:
Izrael, Daab, Bakshish (Bakszysz) und Miki Mousoleum zählten zu den
Pionieren, auf sie folgten viele weitere. Neben Bands gab es eine
ausgeprägte Fanzine-, Konzert- und Festival-Kultur. „Polnische Reggae-Musik
erschien mir immer wie eine Postkarte von weither. Ich glaube, der Sound
bekam erst dann Lokalkolorit, als er sich mit Punkrock kreuzte und
abkühlte.
## Kindliche Naivität
Bands wie Izrael hatten ihre eigene politische Ebene, drückten den Wunsch
nach Freiheit anschaulich aus und zeigten gleichzeitig den Wunsch nach
Spiritualität. Die kindliche Naivität der polnischen Reggaemusik hat mir
immer gefallen. Sie drückte Sehnsucht nach etwas Besserem aus – das gefiel
mir“, beschreibt Rapper und Musikproduzent Piernikowski der taz sein
Verhältnis zum polnischen Reggae.
Die Musik war von Grund auf freiheitsliebend und provokativ. Aufgrund einer
Provokation kam übrigens auch Izrael zu ihrem Bandnamen: „Es ist eine Folge
unserer mystischen Interessen und zugleich Provokation. Als jemand diesen
Namen 1983 in die Runde warf, kamen viele Kumpels zu uns und sagten, dass
die Band so nicht heißen sollte, dass 'jemand’ uns dafür Schwierigkeiten
bereiten würde […].
Und das hat uns erst recht dazu bewogen, ihn zu wählen“, kommentierte
Sänger Robert Brylewski den Namen der Band in einem Interview. Brylewski
trug zwischendurch Dreadlocks und war etwas später, 1996–2001, verheiratet
mit der polnischen Jazzsängerin Vivian Quarcoo, die afrikanische Wurzeln
hat.
## Gegen Gewalt
„Die Generation, zu der ich gehöre, war von Reggaebands wie Izrael und Daab
beeinflusst, ihre Songs spielten eine wichtige Rolle im
80er-Jahre-Underground-Widerstand“, bestätigt Tomasz Różycki, heute einer
der einflussreichsten Gegenwartslyriker Polens, der taz. „Diese Musik
machte Front gegen das System, aber auch gegen Gewalt. [3][Solidarność, das
war mehr etwas für die christlich geprägten Eltern], Reggae und Punk
hingegen – war Soundtrack für die rebellischen Kids.“
Der Journalist und Musikkritiker Rafał Księżyk geht sogar so weit zu
behaupten, dass der Zündfunke von Reggae ein Faktor beim Zusammenbruch des
Ostblocks wurde. Von ihm seien wichtige Impulse aus dem polnischen
Untergrund gekommen – das lag auch am spezifischen polnischen
Reggae-Punk-Gemisch.
So tourte Izrael tatsächlich im April 1989 durch die Tschechoslowakei, zu
einer Zeit, als der Kommunismus in Polen bereits mächtig bröckelte und die
tschechoslowakische Samtene Revolution unmittelbar bevorstand. Bei einem
offiziellen Konzert im Prager Kulturpalast lösten die Musiker einen Skandal
aus.
## Freiheit für die Galionsfigur
Sie drehten der legendenhaften Erzählung zufolge die Veranstaltungsausweise
mit der Aufschrift „Rockfest 1989“, die ihnen um den Hals hingen, auf den
Kopf, sodass sich die Zahl 1968, das Jahr des Prager Frühlings ergab. Sie
riefen zu Beginn ihres Auftritts dazu auf, [4][Václav Havel, die
Galionsfigur der tschechischen Subkultur], – er wurde später zum
Staatspräsidenten – aus dem Gefängnis zu entlassen und spielten danach
ihren Hit „Wolny naród“, „Freie Nation“.
Nach weiteren revolutionären Bekundungen wurde der Band der Strom
abgedreht, aber die Musiker blieben auf der Bühne und spielten einfach
weiter, unter anderem coverten sie Bob Marleys Hymne „Get Up Stand Up“, zu
der das Publikum begeistert mitskandierte. Danach setzten sie das Konzert
an einer inoffiziellen Location fort, gemeinsam mit Mitgliedern der
berühmt-berüchtigten tschechischen Underground-Psychedelic-Band Plastic
People of the Universe.
Zum achten Jahrestag der Ausrufung des Kriegsrechts, am 13. Dezember 1989,
fand in den Hallen der Danziger Werft ein von Aktivist:innen der
Solidarność organisiertes Konzert in Solidarität mit der südafrikanischen
Anti-Apartheid-Bewegung statt. Neben Izrael und Daab bestand das Line-up
aus internationalen Reggae-Künstler:innen wie den jamaikanischen Twinkle
Brothers und dem karibischen Briten Linton Kwesi Johnson. Das Konzert
wurde sogar von der BBC übertragen.
## Kooperation mit Jamaika
Auch nach Ende des Sozialismus blieb der Reggae im Polen der 1990er Jahre
präsent und weiterhin populär. Aufgrund der neuen Freiheiten und der
Öffnung des Landes waren nun auch ganz andere Dinge möglich, beispielsweise
die Kooperation mit jamaikanischen Musikern.
[5][Die Twinkle Brothers nahmen bereits 1988 ein Dub-Album in Warschau auf
und veröffentlichten 1992 gemeinsam mit Trebunie-Tutki, einer Band, die aus
dem Tatra-Gebirge kam und Volksmusik spielte, das Album „Higher Heights und
Twinkle inna polish Stylee“ auf]. Izrael spielten Anfang der 1990er mehrere
Konzerte in London.
Sie traten sogar live im japanischen Fernsehen auf, aber ein
internationaler Durchbruch wollte ihnen nicht gelingen. Und so kehrten sie
schließlich frustriert nach Polen zurück. 2018 starb Izrael-Frontmann
Robert Brylewski im Alter von 57 Jahren an den Folgen eines gewalttätigen
Überfalls – und mit ihm verschwand auch der letzte Rest rebellischen
Geistes aus dem polnischen Reggae.
Zwar ist der Sound in Polen nach wie vor beliebt – seit 2001 findet etwa
das jährliche Ostróda Reggae Festival in Masuren statt, hauptsächlich mit
lokalen Acts. Polnischer Reggae ist inzwischen eher Mainstream und hat mit
dem Freiheitsgedanken der 1980er und frühen 90er kaum mehr etwas gemein.
Piernikowski resümiert:
„In den nuller Jahren galt polnischer Reggae im Allgemeinen als langweilig.
Ich persönlich habe das nie so empfunden, denn die Musik inspiriert mich.
Ich betrachte den Sound als Inszenierung einer fernen Kultur. Memes und
Witze über polnische Reggaemusik öden mich an. Die Kombination von Reggae
mit HipHop und Dancehall gefiel mir dann allerdings nicht – mich hat das
weit weniger berührt als der Sound der Pioniere.“
4 Jan 2024
## LINKS
[1] /Vivien-Goldmans-Musikbiografie/!5604243
[2] /Renaissance-von-Dubreggae/!5738310
[3] /Lech-Wasa-wird-80/!5963175
[4] /Nachruf-Vaclav-Havel/!5105094
[5] https://www.youtube.com/watch?v=01gdpQjOATw&t=1s
## AUTOREN
Yelizaveta Landenberger
## TAGS
Reggae
Polen
1989
Schwerpunkt Stadtland
Kulturpolitik
Polen
Festival
Punk
## ARTIKEL ZUM THEMA
Reggae-Festival auf dem Dorf: „Es war immer ein tolles Fest“
20 Jahre lang hat Rico Klose das Weedbeat-Festival in Rössing bei
Hildesheim organisiert. Nun hört er auf.
Kulturpolitik in Polen: Ans Eingemachte
In Polen erweist sich der Machtwechsel politisch und gesellschaftlich als
kompliziert. Und im Kulturbereich drohen Budgetkürzungen.
Kulturszene Polens nach der Wahl: In ihrer Haltung bestärkt
Nach der Parlamentswahl in Polen zeichnet sich ein Regierungswechsel ab.
Wie reagiert die Kulturszene des Landes darauf?
„Unsound“-Festival in Krakau: Beim Splongeflux stockt der Atem
„Unsound“ widmet sich Dada und KI: Das Elektronik-Festival in Krakau bleibt
interessiert an Neuem. Eine Bilanz der Ausgabe 2023.
Vivien Goldmans Musikbiografie: Identität, Liebe, Geld, Protest
„Revenge of the She-Punks“ von Vivien Goldman ist eine überaus gelungene
Geschichte des Punk – verfasst aus feministischer Perspektive.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.