| # taz.de -- Protest gegen Südschnellweg-Ausbau: „Wir kämpfen weiter“ | |
| > Vergangene Woche wurde in Hannover die Baumhaussiedlung Tümpeltown von | |
| > der Polizei geräumt. Über ein Jahr hatten die Aktivist*innen Bäume | |
| > besetzt. | |
| Bild: Mit Fernglas und Funkgerät: Aktivist*innen in Habachtstellung in der Kü… | |
| Ein Holzernte-Bagger, der mitten auf dem hannoverschen Südschnellweg steht, | |
| greift am Montag mit seinem riesigen Arm zu. Es riecht nach Diesel und | |
| Sägespänen. Ein dicker, weit verästelter Baum knickt krachend, aber mühelos | |
| wie ein Zahnstocher, um. Am westlichen Ende der Schnellstraße durch das | |
| Naherholungs- und Naturschutzgebiet Leinemasch werden Tatsachen geschaffen: | |
| Es wird gerodet. Von weit her schallen Rufe. Etwa einen Kilometer weiter | |
| [1][räumt die Polizei gerade das Baumhausdorf „Tümpeltown“]. Es ist eine | |
| Zäsur in einem jahrelangen Konflikt. Die Aktivist*innen, die die Polizei | |
| wie reife Früchte aus den Baumwipfeln pflückt, sind die Speerspitze des | |
| Widerstands gegen den Ausbau der Schnellstraße. | |
| Der Südschnellweg soll auf mehr als zwei Kilometer Länge von 14 auf 25,60 | |
| Meter verbreitert werden. Mit neuer Standspur, allerdings ohne zusätzliche | |
| Fahrbahn und ohne Fahrradweg. Auf etwa 13 Hektar werden im | |
| Naturschutzgebiet Bäume gefällt. Teile sollen später renaturiert werden. | |
| Außerdem ist, wenn alles nach Plan läuft – und bei welcher Großbaustelle | |
| ist das je der Fall – mit mindestens zehn Jahren Bauzeit zu rechnen. | |
| Seit Jahren machen [2][Aktivist*innen, Anwohner*innen und Umweltverbände | |
| dagegen mobil]. Die Proteste richten sich gegen die auf Individualverkehr | |
| ausgelegte Verkehrspolitik der vergangenen Jahrzehnte, die hier fortgeführt | |
| wird. Dem Heiligsten der Deutschen – dem Auto – haben | |
| Klimagerechtigkeitsaktivist*innen schon lange den Kampf angesagt. | |
| Drei Tage zuvor herrscht in Tümpeltown am östlichen Ende des Südschnellwegs | |
| reges Treiben. Die Polizei zeigt zwar immer mehr Präsenz, bleibt aber noch | |
| auf Abstand. Es sind die letzten Tage und Stunden der Baumhaussiedlung. | |
| Kontinuierlich donnern Autos auf dem Damm des Schnellwegs auf Augenhöhe | |
| vorbei. Ein Autofahrer brüllt eine sexistische Beleidigung in Richtung der | |
| Aktivist*innen. Sie seien das schon gewohnt, sagen sie der taz. Flaschen | |
| und sogar Böller seien schon vom Schnellweg geflogen, behaupten sie. | |
| Überprüfen lässt sich das nicht. | |
| Tag und Nacht sitzen trotz Minusgraden Menschen um ein kleines Feuer. Zwei | |
| davon sind Belgrad und Quadrat. Die beiden Vermummten stehen | |
| Journalist*innen Rede und Antwort. Belgrad nennt Tümpeltown ihr | |
| Zuhause. Seit dem 30. September 2022 [3][ist das Waldstück besetzt]. | |
| Tümpeltown sei stetig gewachsen, erinnert sich Belgrad. Mindestens dreizehn | |
| feste Strukturen zählt die Polizei Hannover in den Bäumen. | |
| In ihren letzten Tagen wächst die Besetzung noch mal gewaltig. | |
| Aktivist*innen spannen Traversen aus Polyprop. Ein riesiges Netz hängt | |
| über der Besetzung. Per Leiter geht es etwa fünf Meter hoch hinaus, auf die | |
| erste Stufe der Waldbesetzung. Die Küche „Hobbykeller“ ist die größte | |
| geschaffene Struktur. Klettergurte und eingefrorene Dosen Kichererbsen | |
| reihen sich hier fein säuberlich aneinander. Am kleinen Fenster der Küche | |
| hängt ein Fernglas. Ein Funkgerät rauscht. Alle sind bereits in | |
| Habachtstellung. Draußen fährt mit Sirenen eine | |
| Bereitschaftspolizeihundertschaft vorbei. | |
| Unbeirrt erzählt Quadrat weiter: „Wir sehen den Ausbau als eine Fortführung | |
| von fossil-kapitalistischen Logiken und richten uns dagegen.“ Tümpeltown | |
| sei sowohl die physische Verhinderung des Ausbaus des Südschnellwegs als | |
| auch ein autonomer Freiraum, der möglichst anarchistisch und | |
| queerfeministisch gestaltet werde, sagt Quadrat. Der Ausbau dagegen stehe | |
| stellvertretend für das System und [4][reihe sich in diverse andere | |
| Straßenbauprojekte ein], so Belgrad. „Wir befinden uns mitten in der | |
| Klimakrise und da ist es komplett zynisch, noch weiter Straßen bauen zu | |
| wollen“, sagt Belgrad. Dem stellen sich die Aktivist*innen als Ultima | |
| Ratio mit ihren Körpern in den Weg. | |
| Alle sind bereit: Auf dem Fußballfeld neben der Besetzung errichten die | |
| Aktivist*innen eine Burg aus Bauzäunen und Schlamm. Ein tiefer, mit | |
| Wasser gefüllter Graben umschließt die Konstruktion. Das sorgt vor allem | |
| beim Platzwart der Bezirkssportanlage Döhren für Unmut, wie dieser der taz | |
| schildert. Noch ist der Boden nach dem Hochwasser der Leine gefroren. Das | |
| ändert sich im Laufe der Woche und die Räumung wird zur Schlammschlacht. | |
| „Wenn ich könnte, würde ich das auch machen“, sagt die 64-jährige Rentne… | |
| Carmen Beutler, die nahe des anderen Endes des Schnellweges zu Hause ist. | |
| Sie fühlt sich übergangen und allein gelassen und hofft, dass die | |
| Aktivist*innen die Baumbesetzung lange halten können, sagt sie der taz. | |
| Denn der Ausbau bedroht Beutlers Sommersitz. Ihr Kleingarten soll einer | |
| Baustraße weichen. | |
| Beutler ist stinksauer. „Niemand hat mir das gesagt, als ich den Garten im | |
| Sommer gepachtet habe“, klagt die Rentnerin, beim Spaziergang durch ihre | |
| für den Winter eingepackte Parzelle. Ersatz hat sie noch nicht. Der sei in | |
| Klärung, heißt es vom Bezirksverband der Kleingärtner Hannover e.V.. Die | |
| Baupläne, die schon lange feststehen, betreffen noch mehrere andere | |
| Kleingärten. | |
| Auch andere Pächter*innen wehren sich. Etwa die Künstlerin Anna | |
| Piquardt. Ihr Garten ist zwar nicht von möglichen Rodungen betroffen, | |
| allerdings läge er zukünftig unmittelbar an der Baustraße. Unzählige | |
| Aufkleber und Schilder an ihrem Gartentor verraten ihr Engagement. | |
| Besonders hart trifft es einen Eigentumsgarten, der ihrem direkt gegenüber | |
| liegt, erzählt sie. Denn hier, am Rand der Kolonie, gibt es mindestens | |
| einen Eigentümer, der in einer selbst gezimmerten Hütte direkt neben dem | |
| Schnellweg lebt. | |
| Meterhoch steht auch im tiefen Winter das Gebüsch um das kleine | |
| verschachtelte Haus. Eine Klingel gibt es nicht. Piquardt erzählt, ihr | |
| Nachbar befinde sich in einem Rechtsstreit wegen des Ausbaus. Alle | |
| Kontaktversuche der taz bleiben erfolglos. Doch dem Anwohner droht laut | |
| Bauplänen auf jeden Fall die Räumung. Im kommenden Oktober geht es den | |
| Kleingärten spätestens an den Kragen, habe man ihr bei der Landesbaubehörde | |
| gesagt, erzählt Beutler. Bereits jetzt ist der Kahlschlag erfolgt. Rund um | |
| die Kleingärten wird am Montagmorgen als allererstes gerodet. | |
| Die Kleingärtner*innen sind ein gutes Beispiel für die Dynamik der | |
| Proteste gegen den Schnellstraßenausbau. Ein breites Bündnis verteidigt das | |
| Naherholungs- und Landschaftsschutzgebiet Leinemasch eisern. | |
| [5][„Leinemasch bleibt“] und die Bürgerinitiative (BI) Leinemasch-West | |
| machen mit Informationsveranstaltungen, [6][Petitionen], Mahnwachen, | |
| Menschenketten und (Fahrrad-)Demonstrationen seit mehreren Jahren | |
| fortlaufend auf die Situation aufmerksam. „Leinemasch bleibt“ ruft zwar | |
| nicht zu zivilem Ungehorsam auf, erklärt sich aber solidarisch. | |
| Zu einer Großdemonstration zu Beginn der laufenden Rodungssaison im | |
| vergangenen Oktober kamen Tausende. Währenddessen kletterten etwa 50 | |
| Aktivist*innen in weißen Maleranzügen auf Baumaschinen – und wurden von | |
| den Demonstrant*innen bejubelt. Die Baustelle legte eine | |
| Zwangssonntagspause ein. Eigentlich wird am Schnellweg Tag und Nacht und | |
| auch am Wochenende gearbeitet. Denn es ist auch ein Rennen gegen die Zeit: | |
| Wird das Monsterbauprojekt nicht fertig, droht die Sperrung der maroden | |
| Hochstraße wegen Einsturzgefahr. | |
| So groß das Bündnis auch sein mag, die Ausbaupläne des Schnellwegnetzes in | |
| Hannover sind beschlossene Sache und haben mächtige Unterstützer*innen: die | |
| Industrie- und Handelskammer, den ADAC und Verkehrsminister [7][Olaf Lies] | |
| (SPD). Sie alle sagen, die Erneuerung sei notwendig. Für den | |
| Wirtschaftsstandort und aus Sicherheitsgründen. So sei etwa das Bilden | |
| einer Rettungsgasse auf dem Schnellweg nicht möglich. Zehntausende Autos | |
| passieren täglich das Nadelöhr. Weder die Biber Egon und Erna, die immer | |
| wieder den Tümpel hinter der Besetzung besuchen, noch eine seltene | |
| Fledermaus stoppten das Bauprojekt. | |
| Mehrere Klagen wurden abgewiesen. [8][Ein runder Tisch sollte die Gemüter | |
| beruhigen]. Teilen der Baupläne stimmen die Anwohnenden auch zu. Am | |
| Westende wird die marode Hochbrücke einem Tunnel weichen. An anderer Stelle | |
| seien alternative Bauweisen und Ermessensspielräume allerdings nie | |
| ausgenutzt worden, heißt es von der BI Leinemasch-West. Eine Untertunnelung | |
| auf ganzer Strecke etwa, die zu teuer sei. Oder Haltebuchten statt | |
| Standstreifen. | |
| Dem widersprach die Landesbaubehörde. Am runden Tisch diskutierte auch | |
| „Leinemasch bleibt“ mit – und verließ diesen frühzeitig. Es sei nie dar… | |
| gegangen, Kritik am Ausbau umzusetzen, sagen die Aktivist*innen. In der | |
| Waldbesetzung hatte man das geahnt und war erst gar nicht erschienen. Man | |
| wolle sich nicht instrumentalisieren lassen, sagen die Besetzer*innen | |
| der taz. | |
| ## Die Aktivist*innen leisten passiven Widerstand | |
| Am Sonntagmittag treffen sich zahlreiche Unterstützer*innen der | |
| Waldbesetzung zu einem „allerletzten Sonntagsspaziergang“ in der | |
| Leinemasch. Dass sich hier mehr als nur autonome Klimaaktivist*innen | |
| tummeln, ist auf den ersten Blick sichtbar. Vermummte stehen neben | |
| Bürgerlichen. Auch Anne Piquardt aus dem Kleingarten ist gekommen. Sie | |
| hoffe noch auf ein Wunder, sagt sie der taz. Es sei der allergrößte | |
| Spaziergang jemals, ruft Swantje Hahlbohm von „Leinemasch bleibt“ derweil | |
| über das Mikrofon. Das sei ein großartiges Zeichen. „Wir sollten alle | |
| Unterschiede in den nächsten Wochen beiseite legen und solidarisch sein, | |
| egal was passiert und zusammen kämpfen“, ruft Hahlbohm. | |
| Um weiteren zivilen Ungehorsam und eine Unterstützung der | |
| Besetzer*innen im Wald zu verhindern, gilt seit dem 15. Januar, sechs | |
| Uhr morgens, eine Allgemeinverfügung, die Versammlungen im | |
| Sicherheitsbereich für eine Woche untersagt. Auch Journalist*innen ist | |
| der Zugang zur Besetzung aus Sicherheitsgründen zunächst verwehrt. Nach | |
| einem Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover muss die Polizei klein | |
| beigeben und dann doch einen Zugang zum Räumungsgebiet zulassen. | |
| Als das am Dienstagvormittag geschieht, ist die Räumung bereits in vollem | |
| Gange. Behelmte Polizeieinheiten tummeln sich zwischen den Überbleibseln | |
| der Besetzung. Von oben regnet es eine undefinierbare Flüssigkeit, von der | |
| die Polizei behauptet, es könnte sich möglicherweise um Urin gehandelt | |
| haben. Immer wieder fliegt Pyrotechnik. | |
| Abgesehen davon, leisten die Aktivist*innen von Tümpeltown vor allem | |
| passiven Widerstand. Sie klettern davon, wenn die Spezialeinsatzkommandos | |
| mit Hebebühnen und Klettergurten näher kommen. Sie machen sich schwer und | |
| lassen sich ganz schlaff hängen. Nach und nach werden sie bis | |
| Mittwochmittag alle in Gewahrsam genommen. Eine mittlere zweistellige | |
| Personenzahl ist laut Polizei Hannover bis zuletzt in der Waldbesetzung. | |
| Schlussendlich fallen Stück für Stück Teile der Bauten krachend aus den | |
| Wipfeln. Am Mittwochmittag sind die letzten Aktivist*innen geräumt. | |
| Für Belgrad und Quadrat ist klar: Das war es noch nicht. Denn durch | |
| Bündnisarbeit und die Politisierung vieler Menschen sei bereits Großes | |
| erreicht. „Das kann kein Polizeiknüppel, kein Pfefferspray und keine Zelle | |
| der Welt mehr wegnehmen“, sagt Belgrad. | |
| „Wir werden weiter kämpfen“, sagt auch Tabea Dammann, die Pressesprecherin | |
| von „Leinemasch bleibt“, der taz. „Straßen müssen nach Klimazielen und | |
| nicht nach Verkehrsprognosen geplant werden“, so Dammann weiter. | |
| Der Protest wirkt: Das Verkehrsministerium hat bei der ebenso anstehenden | |
| Sanierung des Westschnellwegs bereits jetzt angekündigt, anders vorgehen zu | |
| wollen. Für die Kleingärtnerin Beutler bleibt bis zuletzt die Frage, wann | |
| ihr Garten dem Straßenbau zum Opfer fällt. „Da sollen sie bei mir in die | |
| Bäume klettern“, sagt sie der taz. | |
| 19 Jan 2024 | |
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| [5] https://leinemaschbleibt.de/ | |
| [6] https://www.openpetition.de/petition/online/schutz-wald-patenschaften-am-su… | |
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| Michael Trammer | |
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