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# taz.de -- Porträtmalerei aus der Weimarer Zeit: Freies Subjekt und schwierig…
> Im Kunstmuseum Stuttgart ist Porträtmalerei aus der Weimarer Zeit zu
> sehen. Die zugrundeliegende Typenlehre geriet bald auf rassistische
> Abwege.
Bild: Neusachlich, mit typischer Androgynität im Jahr 1928: Grethe Jürgens, �…
Radikal schnörkellos. So präsentiert sich die Malerin Kate Diehn-Bitt in
ihrem Gemälde „Selbstbildnis als Malerin“. Sogenannte weibliche Attribute?
Fehlanzeige. Der Ärmel ihres schlichten weißen Hemdes ist hochgekrempelt,
ihr linker Arm mit dem Pinsel in der Hand ist angewinkelt. Stolz blickt sie
dem Betrachter in die Augen. Nichts ist weich, es wird nicht gelächelt,
kein Schmuck, keine Rüschen, keine Blumen. Kate Diehn-Bitt zeigt sich als
typische „Neue Frau“ der Weimarer Republik. Eine sogenannte Garçonne, die
gleiche Freiheiten wie Männer genießt.
Ganz anders die 1929 entstandene Lithografie „Selbstbildnis“ von Hanna
Nagel. Die Künstlerin hat sich gleich sieben Mal auf dem Bild verewigt.
Selbstbewusst und breitbeinig beim Schminken, während ein Mann hinter ihr
kniet und sie begehrend ansieht, erschöpft im Bett liegend oder zeichnend
mit Brille. Vorne, im Mittelpunkt des Bildes, umarmt sie ein großes rundes
Glas, in dem ein Embryo kauert. Dunkle Ringe liegen unter ihren Augen, der
Blick geht ins Leere. Die neue Zeit der Weimarer Republik brachte für
Frauen ungewohnte Freiheiten – doch die alten Rollen ließen sich nicht so
einfach abstreifen.
## Blick in den wahren Abgrund
Zu sehen sind beide Bilder in der Ausstellung „Sieh Dir die Menschen an!
Das neusachliche Typenporträt in der Weimarer Zeit“ am Kunstmuseum
Stuttgart. Es geht um den in der Weimarer Republik allgegenwärtigen Hang
zur Typisierung. Um die Freiheit – und die Zwänge, die dieses Phänomen mit
sich brachte. Gezeigt wird großartige Kunst von bekannten Malern wie
[1][Otto Dix], [2][George Grosz] und [3][Christian Schad] und echte
Entdeckungen, hauptsächlich von Künstlerinnen, wie Grethe Jürgens, Dodo
(Dörte Clara Wolff) oder [4][Jeanne Mammen]. Dazu gibt es viel
interessantes Begleitmaterial: Magazine, Bücher und Filme, die den Hang zur
Einordnung von Menschen in der Weimarer Zeit überzeugend belegen.
Nur ein Aspekt fehlt. Den Blick in den wahren Abgrund hinter diesem Thema
wagt die Ausstellung nicht: Wie die Nazis die Einordnung von Menschen nach
ihren äußeren Merkmalen für ihre Rassenideologie zu nutzen wussten. Und
damit auch für ihre beispiellos tödliche Vernichtungsmaschinerie. Eine
schmerzhafte Leerstelle.
Gerade im Hinblick auf den Titel der Ausstellung ist das fatal. Das
titelgebende Buch „Sieh dir die Menschen an!“ erscheint 1931. Der Mediziner
Gerhard Venzmer hat damit eine Art Lebensratgeber veröffentlicht. Das Buch
beschreibt, wie sich vom Äußeren eines Menschen sein Charakter ableiten
lässt. Die Grundlage für diese Theorie legte die 1921 von dem Psychiater
Ernst Kretschmer veröffentlichte Konstitutionslehre „Körperbau und
Charakter“, in der er vom Körperbau eines Menschen auf bestimmte psychische
Störungen schließt. Beide Männer gelten als maßgebliche Protagonisten im
Diskurs der Typenlehre, ihre Bücher waren in den 1920er Jahren Bestseller.
## Richter am Erbgesundheitsgericht Marburg
1931 veröffentlichte Venzmer das in eine ähnliche Schlagrichtung abzielende
Buch „Deine Hormone – Dein Schicksal“. Ein Buch, das auch das
nationalsozialistische Propaganda-Blatt Völkischer Beobachter positiv
bespricht. In seiner 1934 in der Zeitschrift Kosmos veröffentlichten
Artikelreihe „Was jeder von der Rassenkunde wissen muss“ fordert Venzmer
die Etablierung einer „zielbewussten“ Eugenik, deren Aufgabe es sei, „üb…
alle Rassen hin das Minderwertige, Lebensunfähige und unheilbare Kranke
auszumerzen“.
Ernst Kretschmer wiederum war, wie der auf die Aufarbeitung der
[5][nationalsozialistischen Medizinverbrechen] spezialisierte Journalist
Ernst Klee recherchiert hat, Richter am Erbgesundheitsgericht Marburg und
hat dort 1934 die Sterilisation „Schwachsinniger“ befürwortet. 1941 nahm er
an einer Sitzung des Beirats der Aktion T4 teil, die den systematischen
Massenmord an mehr als 70.000 Menschen mit körperlichen, geistigen und
seelischen Behinderungen in Deutschland von 1940 bis 1941 zu verantworten
hatte.
Zu Venzmers und Kretschmers Nazi-Affinität findet sich in der Ausstellung
nur eine kleine Randnotiz. Man könne Venzmer „nicht nur als Nutznießer,
sondern auch als Wegbereiter der rassischen Nationalideologie des
NS-Regimes identifizieren“, steht auf einer kleinen grauen Plakette. Sonst
ist zu dem Einfluss und dem Zusammenhang der Schriften der beiden Männer
auf die nationalsozialistische Rassentheorie nichts zu finden.
So sieht man die beeindruckende Kunst der Weimarer Zeit auf drei Etagen des
Stuttgarter Museums. Kann die Radikalität ihrer realistischen Darstellung
bewundern. Und die neuen sozialen (Rand-)Typen bestaunen, die in dieser
Zeit überhaupt zum ersten Mal als malenswerte Sujets wahrgenommen wurden.
Mit der Frage, wer von ihnen den Nationalsozialismus überlebt hat und wer
nicht, lässt die Ausstellung ihre Besucher jedoch gnadenlos allein.
17 Jan 2024
## LINKS
[1] /Buch-ueber-die-Weimarer-Republik/!5904432
[2] /Als-George-Grosz-in-die-UdSSR-reiste/!5895558
[3] /Geistige-Wegbereiter-der-Nazis/!5903496
[4] /Die-Berliner-Kuenstlerin-Jeanne-Mammen/!5451138
[5] /Medizinhistorikerin-ueber-Nazi-Aerzte/!5617573
## AUTOREN
Verena Harzer
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
Kunst
Weimarer Republik
Wirtschaftskrise
Berlin Ausstellung
Kunsthalle Hamburg
Kunst
Tanz
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