# taz.de -- Die Wahrheit: Chauffeure und Katastropheure | |
> Die wahre Theaterkritik: Aufführung einer Tragikomödie der Letzten | |
> Generation auf einer Freilichtbühne im bibberkalten Berliner | |
> Sonnenuntergang. | |
Bild: Nichts geht mehr im Berliner Apokalypsen-Drama | |
## Vorspiel | |
Immer wieder werden Unglücke oder Verbrechen von Journalisten mit Worten | |
wie „Drama“ oder „Tragödie“ falsch beschrieben, denn die Begriffe aus … | |
Fiktion verwandeln das reale Geschehen nur in leicht konsumierbare | |
Erzählungen. Die Ereignisse aber bleiben, was sie für die beteiligten | |
Menschen sind: Desaster oder Katastrophen. | |
Keine Katastrophe hingegen war das Stück, das am Mittwoch, dem 10. Januar | |
2024, während des Feierabendverkehrs auf der Berliner Freilichtbühne | |
Innsbrucker Platz zur Aufführung kam. Neben den beliebten Spektakeln | |
„Bauernprotest“ und „Lokführerstreik“ sowie der neuen Sensation der Sa… | |
dem boulevardesken Liebeslustspiel „Der Bürgermeister und die | |
Bildungssenatorin“, muss es fortan vor Publikum und Kritik bestehen. | |
Verteilten Handzetteln zufolge lautete der sprachlich gewagte und | |
grammatikalisch riskante Titel: „Weg von Fossil – Hin zu Gerecht!“ | |
Plakativer betitelt gewesen wäre das Stück mit „Chauffeure, Claqueure & | |
Katastropheure“. Ob es jedoch eine Tragödie oder Komödie ist, gilt es zu | |
ermitteln. Vorhang auf. | |
## Handlung | |
Die Handlung ist schnell nacherzählt. Mitten im nachmittäglichen | |
Berufsverkehr betreten rund ein Dutzend sogenannte Klimakleber eine der | |
verkehrsreichsten und unfallträchtigsten Kreuzungen der Hauptstadt, kleben | |
sich am Asphalt der Großstadt fest und bringen den Verkehr nicht nur auf | |
der den Berliner Ortsteil Schöneberg durchziehenden Nord-Süd-Achse mit dem | |
bedeutungsschweren Namen „Hauptstraße“, sondern auch auf zwei Autobahnauf- | |
und -abfahrten weitgehend zum Erliegen. | |
Auftritt der Bereitschaftspolizei, die mit mehreren im Volksmund „Wannen“ | |
genannten Fahrzeugen anrückt, während die Sonne, die jetzt im Westen am | |
Horizont verschwindet, als großer Scheinwerfer die Bühne in ein | |
bläulich-rosa Licht taucht, das offenbar die Vergänglichkeit des Seins | |
ausdrücken soll. | |
## Besetzung | |
Fünf Gruppen von Darstellern treffen aufeinander: Die in orangefarbene, an | |
Müllwerker erinnernde Warnwesten gewandeten wortlosen Klimakatastropheure. | |
Die von Passanten so genannten „Bullen“ mit ihren Macht demonstrierenden | |
blau-schwarzen Uniformen. Die leicht an ihrer schlechten Kleidung, den | |
deutlich sichtbaren Ausweisen und den übergroßen Film- und Fotokameras als | |
Journalisten zu erkennenden Kritiker. Die in ihren Wagen verharrenden, nur | |
schemenhaft hinter beschlagenen Scheiben erkennbaren Autofahrer im Stau. | |
Und verblüffenderweise als Hauptdarsteller die Zuschauer, ein bunt | |
zusammengewürfelter Haufen, der genau das darstellen soll, was er ist: eine | |
heterogene Volksmasse. Die sich auch von der winterlichen Bibberkälte nicht | |
abhalten lässt, vom Rand aus Schaulust zu zeigen. | |
## Darsteller | |
Erstaunlich blass bleiben indes die Klimaaktivisten, deren viel und ein | |
großes Drama versprechender Name „Letzte Generation“ für eine desaströse | |
Zukunft steht. In mönchischer Stille lassen sie alle Amtshandlungen über | |
sich ergehen. Dabei zeigt sich ihre ins Morgen gerichtete Intention im | |
seltsamen Gegensatz zu ihrer fatalen Ruhe, ihrem Nicht-Aufbegehren, selbst | |
wenn sie abtransportiert werden. Ein allzu plump vom Regisseur inszenierter | |
Widerspruch, aus dem sich ein überdeutlicher moralischer Zeigefinger | |
erhebt, der das Publikum wachrütteln soll. | |
Das gar nicht wachgerüttelt werden muss, sondern munter aufjohlt, wenn die | |
Polizistendarsteller wieder einen Demonstranten von der Fahrbahn lösen und | |
wegtragen. „Früher hätten sie die mit Schlagstöcken verhauen. Die sind viel | |
zu sanft“, verlangt Volkes Stimme nach mehr Einsatz. Und tatsächlich | |
bleiben die Einsatzkräfte, die für die Gegenwart stehen, genauso blass wie | |
ihre Opponenten. | |
Ebenfalls gesichtslos agiert die „Presse“. Anders als die Zuschauer am Rand | |
ist sie mitten im Geschehen, hockt sich nieder und hält den Klebern handnah | |
ihre Kameras vor die roten Nasen, kann ihnen aber keine Kommentare | |
entlocken. Method Acting ist etwas anderes, hier wird reine Routine in | |
ihrer gelangweiltesten Form ausgespielt. | |
Umgeben wird die Szenerie von den als amorphe Wesen auftretenden | |
Chauffeuren im Stau, einem interessanten Regieeinfall, wenn mitunter zur | |
Mahnung ein Wagenlenker mit mäßiger Verzweiflung die Hupe betätigt, als | |
Nebelhorn, das in die Vergangenheit weist, für die jeder Verbrennermotor | |
steht. | |
## Chor | |
Bewegung geht vor allem von der Zuschauermenge aus, die hin und her wogt | |
und ab und zu von der Staatsmacht mit kräftigen Worten zurückgedrängt wird. | |
Die Menge am Rand hat in diesem dialogarmen Stück die Rolle des Chors aus | |
der griechischen Tragödie. Die positiv, aber auch negativ gestimmten | |
Claqueure kommentieren das Geschehen. | |
Heraus stechen dabei einige bewährte Darsteller, die ihre Rollen | |
überagierend ausfüllen wie zum Beispiel der Krakeeler, der monologisch | |
immer wieder ausruft: „Ihr habt doch alle keinen Verstand!“ | |
Oder die obligatorische Verschwörungsfrau mit hexenhaft wirren Haaren, die | |
dauernd kreischt: „Die Bundesrepublik hat keine Verfassung, nur ein | |
Grundgesetz, die BRD ist ein Geschäftsbetrieb.“ Was zu diesem Anlass des | |
Weltuntergangs und seiner Verhinderung ein eher unpassender Gedanke ist, | |
aber ein Einfall des Regisseurs, der die zumindest an dieser Stelle | |
turbulente Inszenierung endgültig ins Genre der Tragikomödie abdriften | |
lässt. | |
## Intention | |
Dem zufällig an diesem Nachmittag in die Freilichtaufführung geratenen | |
Theaterkritiker sei es an dieser Stelle erlaubt, einen weiten historischen | |
Bogen zu schlagen. Denn als erfahrener Betrachter hat er bereits in den | |
achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts den Aufschrei der Umweltschützer | |
vernommen, die das Baumsterben beklagten. Zwar will er die Klimakatastrophe | |
nicht leugnen, aber Bäume gibt es immer noch und die Erde rettet sich stets | |
selbst, notfalls auch ohne die Menschen. | |
## Fazit | |
Deshalb ist die moralische, von christlichen Apokalypse-Vorstellungen | |
geprägte Intention der Letzten Generation durchaus fragwürdig. Als das | |
mächtige Venedig der Renaissance, das als bedeutendster Stadtstaat seiner | |
Zeit mit aller Welt Handel trieb und sogar bis nach China neue Handelswege | |
entdeckte, von seinen Rivalen verdrängt wurde und auch noch die Pest die | |
Lagunenstadt heimsuchte, da erfanden die Venezianer kurzerhand den | |
Karneval. Und was hat sämtliche Katastrophen der Geschichte überlebt? Das | |
venezianische Maskenspiel. | |
Die Antwort auf die Apokalypse ist immer Dekadenz. Nur das leichte Spiel | |
lässt die Menschheit überleben. Jedenfalls dann, wenn die Aufführungen | |
nicht hochgradig schwermütig inszeniert sind. Ein Publikumserfolg wird die | |
Letzte Generation mit ihrem Werk wohl kaum. Damit aber sind alle Fragen | |
beantwortet. Vorhang zu. | |
12 Jan 2024 | |
## AUTOREN | |
Michael Ringel | |
## TAGS | |
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