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# taz.de -- Die Wahrheit: Der brummende Koffer
> Nach einer Bahnfahrt beginnt ein Gepäckstück verdächtig zu vibrieren, und
> der Besitzer kann nichts tun, als auch noch die Macht des Zufalls
> zuschlägt.
Bild: Achim Frenz im Jahr 2023
Der Mann hob seinen schwarzen Koffer von der Ablage. Es war ein elegantes
Gepäckstück, nicht groß, ideal für eine Übernachtung. Da der Mann aber gern
zu viele Dinge mitnahm für nur eine Nacht, war der schwere Klotz dicht
gepackt, und als er ihn vor dem Bahnhof, in den sein Zug nun einfahren
würde, mit nicht geringer Anstrengung zu Boden brachte, da begann der
Koffer zu brummen.
Das Brummen war durchdringend, nicht übermäßig laut, dennoch wurde es von
den übrigen Reisenden wahrgenommen, denn der Koffer zitterte auch, als ob
er sich dem Ausstieg widersetzen wollte, weil ihn auf dem Bahnsteig eine
beinahe winterliche Kälte erwartete.
Der Mann ahnte, woher das nicht enden wollende Vibrieren kam, das jetzt
manchem Mitreisenden die Augenbrauen in die Höhe trieb. Offenbar hatte sich
das Rasiergerät selbst eingeschaltet. Da der Mann jedoch im engen Gang kaum
den prallen Koffer hätte öffnen können, entschloss er sich, den Halt
abzuwarten, um den leidigen Vorgang dann abzubrechen.
Im windigen Gewusel auf dem Bahnsteig war es ihm allerdings wieder nicht
möglich, einzugreifen, und so beschloss der Mann, zunächst die drei
Stationen bis zu dem Hochzeitsempfang, zu dem er eingeladen war, mit der
Stadtbahn zurückzulegen. Minutenlang verharrte er starr neben seinem
brummenden Koffer, wobei ihm die gedrängte Menge während der Fahrt ohnehin
keinen Platz bot, dem schier unaufhörlichen Geräusch ein Ende zu bereiten.
Unter Aufbietung seiner letzten Kräfte ignorierte der Mann die besorgten
Blicke einer Violinistin, die nicht nur ihren Geigenkasten geschultert
hatte, sondern auch einen, zwar nicht schnarrenden, so doch ähnlichen
schwarzen Koffer mit sich führte, weshalb sich in ihrem Gesicht tiefe Sorge
widerspiegelte, ob das Brummen womöglich auf ihr Gepäckstück übergreifen
könnte.
Am Zielbahnhof angekommen, griff sich der Mann eilig seinen brummenden
Koffer und stürmte die Stufen hinunter. Zunächst war es ihm unangenehm,
aller Welt auf offener Straße seine Habseligkeiten zu präsentieren, doch
schließlich hielt er es nicht mehr aus und warf den Koffer am Rande des
tosenden Verkehrs hin, öffnete ihn und machte dem tückischen Apparat
endgültig den Garaus. Der Mann atmete auf.
In diesem Moment der Erleichterung übernahm die Macht des Zufalls die
Kontrolle über das Geschehen. Aus dem Tunnel vor der großen Kreuzung, an
der unser Mann niedergekniet war, schoss ein Motorrad hervor und der Fahrer
kam, wie es später in der Polizeimeldung heißen würde, „aus bislang
unbekannten Gründen“ nach links von der Fahrbahn ab, kollidierte mit der
Schutzplanke, rutschte mit der Maschine über die nasse Straße und prallte
gegen eine Ampel.
Sofort alarmierte Einsatzkräfte hätten den Gestürzten reanimiert, erfuhr
anderntags der Mann, der längst mit seinem nun nicht mehr brummenden Koffer
weitergezogen war. Das Leben, es reist weiter.
26 Mar 2024
## AUTOREN
Michael Ringel
## TAGS
Kolumne Die Wahrheit
Bahnreisende
Koffer
Unfall
Kolumne Die Wahrheit
Humor
Letzte Generation
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