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# taz.de -- Die Wahrheit: Vorweihnachtlicher Schnippelschnack
> Der letzte Schnitt des Jahres führt weit in die Vergangenheit, in der
> noch mehr gesoffen wurde, Friseure aber auch so manche Leiche im Keller
> hatten.
Bild: Wenn die Dämmerung auf die Cocktails fällt, dann ist das keine Ironie, …
Beim Weihnachtsschnitt kam Burghard auf das beliebte Thema „Früher wurde
mehr gesoffen“. Er, der bereits in der vierten Generation Friseurmeister
ist, wie die historischen Meisterbriefe der „Perückenmacher- und
Friseur-Innung“ an der Wand bezeugten, erzählte, dass die Kunden einst
mittags schon mit Likör- und Sektflaschen im Laden erschienen wären.
Damals hätte sein Vater nach zwölf Uhr oft nur noch mit einem offenen Auge
um die Ohren herumgeschnippelt. Als kleiner Junge hätte er selbst dann die
Reste aus den Gläsern lecken dürfen. „Schlehenfeuer!“, rief sich Burghard
entsetzt einen furchtbar süßen Fruchtlikör in Erinnerung. Die alte Schule
des Alkohols.
Als Kind hätte ich mich vor meinem Friseur gegruselt, entgegnete ich. Nur
widerwillig ging ich einmal im Monat zum Haareschneiden, denn der Bär von
einem Kerl schwankte schon am helllichten Tag dicht und duhn durch seinen
Salon. „Der darf das“, erklärte mein Vater konziliant, „der frisiert
Leichen.“
Wenn es Unfallopfer gab, wurde der Coiffeur immer benachrichtigt, um den
Verblichenen in der Leichenhalle mit seiner Schere ein letztes würdiges
Aussehen zu verpassen. Heutzutage übernehmen solche Restaurationsarbeiten
Bestatter. Ich aber stellte mir immer vor, dass im Friseurstuhl zuletzt
eine Leiche gesessen hatte, die mich aus dem Spiegel bleich angrinste.
Einmal, drehte der Anekdotenmeister Burghard die Früher-Schraube in eine
andere Richtung, hätten sein Vater und er den Keller aufgeräumt. Plötzlich
seien sie auf eine Kiste gestoßen. Nun ja, Werkzeuge, habe er gedacht, aber
es waren vor allem Zangen, um Zähne zu ziehen, wie sein Vater ihm
vorführte. Der Urgroßvater wäre nämlich noch „Bader“ gewesen und hätte
nicht nur Haare geschnitten, sondern eben Zähne „gebrochen“, wie es damals
hieß. Burghard schüttelte sich mit einem wohligen Schauder.
Das, konterte ich, hätte ich einmal selbst gesehen! In Indien. Wir liefen
durch die Millionenstadt Thiruvananthapuram und gelangten an die „Straße
der Friseure“, wie unser Begleiter erläuterte. Die Haarschneider hatten
allerdings keine festen Läden, sondern einfach auf dem Bürgersteig ihr
Equipment ausgebreitet, Dutzende nebeneinander. Bei einem hatte sich ein
Pulk von Zuschauern gebildet, elendes Stöhnen drang aus der Mitte. Der
Friseur war gerade dabei, mit einer rostigen Zange einen Zahn nach dem
anderen zu entfernen.
Säuberlich aufgereiht lagen auf der Straße vor ihm ein paar Gebisse. „Die
sind von Toten“, versicherte unser Begleiter, während der Meister der
Zahnheilkunst seinem Kunden verschiedene anprobierte. Als eines halbwegs
passte, füllte er die restlichen Lücken mit Stroh.
Burghard, der ein großer Fan der Ärzte ist, also der Berliner Band,
schüttelte sich erneut heftig. Er nennt sich gern „Haardoktor“, ist aber
schon sehr froh, dass er keine Zähne brechen muss. Und ich bin inzwischen
ein großer Fan der Zahnärzte.
19 Dec 2023
## AUTOREN
Michael Ringel
## TAGS
Kolumne Die Wahrheit
Friseure
Weihnachten
Zahnarzt
Humor
Letzte Generation
Lyrik
Arno Schmidt
Die Wahrheit
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
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