# taz.de -- Regierungsumbildung in Frankreich: Der letzte Joker | |
> Der französische Präsident Macron ernennt den 34-jährigen Gabriel Attal | |
> zum neuen Premier. Er soll für neuen Schwung in der Regierung sorgen. | |
Bild: Frankreichs neu ernannter Premierminister Gabriel Attal vor der Amtsüber… | |
PARIS taz | Wie sehr Emmanuel Macron das Gespür für die politische | |
Konjunktur verloren hat, beweist eine Episode vor Weihnachten. Da erklärte | |
der Präsident, dass Frankreich „stolz“ sein müsse auf Gérard Depardieu, | |
Frankreichs zuletzt für sexuelle Aggressionen und obszöne Äußerungen | |
beschuldigter Kinostar. Eine Katastrophe der Kommunikation: Kein Regisseur | |
hatte ihm zuletzt noch eine Rolle anzubieten getraut, doch der Präsident | |
unterstützte ihn. | |
Es ist eng geworden für Macron seit seiner Wiederwahl ohne Glanz und Gloria | |
2022 und nach ermüdenden Auseinandersetzungen um [1][die Rentenreform] und | |
[2][neue Migrationsgesetze]. Sein Reform-Elan ist längst erlahmt, selbst | |
seine Anhänger*innen (noch rund 25 Prozent in Umfragen) sind | |
fatalistisch geworden. Man muss sich fragen, ob er selber an seine Reden an | |
die Nation glaubt, die er weiterhin hält. | |
Auch in der Europa- und Außenpolitik wird der innenpolitisch geschwächte | |
Macron weniger ernst genommen. In seinen Stellungnahmen zum Konflikt | |
zwischen Israel und der Hamas hat er zuerst laviert, dann mehrfach variiert | |
und letztlich irritiert. Nun hat der Präsident in Frankreich zumindest | |
offiziell immer Recht. Ein institutionell zwar möglicher Rücktritt kommt | |
für Macron nicht in Frage. Angesichts der derzeitigen Stimmungslage müsste | |
man auch mit einem Erdrutsch nach rechts rechnen. | |
Den Kopf hinhalten muss also jemand anderes. Elisabeth Borne ist am Montag | |
mit dem Dank des Staatschefs von ihrem Posten als Premierministerin der | |
französischen Republik entlassen worden. Präsident Emmanuel Macron bekam | |
damit freie Hand zu einer Regierungsneubildung. Am Dienstagmittag ernannte | |
er den vorherigen Bildungsminister und erst 34 Jahre alten Gabriel Attal | |
zum neuen Premierminister. Macron dürfte sich mit dem Wechsel einen neuen | |
Schwung für den Rest seines zweiten Mandats bis 2027 erhoffen. | |
## Premierminister als Prellböcke | |
Ziemlich formlos hat Macron seine bisherige Regierungschefin [3][mit ein | |
paar Zeilen auf X] (vormals Twitter) als „mutige“ und „exemplarische | |
Staatsfrau“ gewürdigt. Die im Mai 2022 als Nachfolgerin des farblosen Jean | |
Castex in den Matignon-Regierungspalast berufene Borne ist nicht etwa | |
abgesetzt worden, weil sie ihrer Rolle nicht gerecht geworden wäre. Ganz im | |
Gegenteil hat sie ihre Aufgabe bis zum Gehtnichtmehr erfüllt. An ihr war | |
es, sehr unpopuläre Gesetzesvorlage in den beiden Parlamentskammern | |
durchzupauken. Keine davon stammt aus ihrer eigenen Feder, die Politik | |
wird, wie meistens in Frankreich, und erst recht unter Macron, im | |
Präsidentenpalais Elysée entschieden und dem Regierungschef diktiert. | |
Trotzdem dient nun die Premierministerin – in Frankreich ebenfalls üblich | |
ist – als „Sicherung“, um den Apparat am Laufen zu halten. Schon seit | |
Monaten war von ihrem möglichen Rücktritt die Rede, doch jedes Mal behielt | |
Macron diese Jokerkarte eines personellen Wechsels an der Regierungsspitze | |
in der Hand. Borne war es aber Leid, an Macrons Stelle alle Hiebe zu | |
bekommen. Mehrere Medien ([4][Libération] oder Médiapart“) schrieben darum | |
von einem „Borne out“. | |
Noch immer, vielleicht auch aus sprachlicher Trägheit, reden die Medien von | |
der Regierung mit dem Synonym „Mehrheit“. Das ist eine unhaltbare | |
Verfälschung der Tatsachen, denn der Präsident und seine Regierung sind | |
seit der Wahl der Abgeordneten der Nationalversammlung in der Minderheit | |
und müssen deshalb bei jeder Gesetzesvorlage oder Abstimmung über Anträge | |
zittern. Eine „Mehrheit“ ergibt sich bloß punktuell, wenn ein Teil der | |
Opposition sich der Stimme enthält oder aus politischem Opportunismus für | |
einen Regierungsantrag votiert. | |
Eigentlich wäre es in einer „normalen“ parlamentarischen Demokratie unter | |
solchen Umständen unmöglich, auf Dauer zu regieren. Doch die französische | |
Verfassung aus der Zeit von General de Gaulle hat dies vorausgesehen und | |
sichert der Regierung die Handlungsfreiheit mit mehreren Tricks. Artikel | |
49.3 ermöglicht es der Regierung, eine Vorlage, die keine Mehrheit erwarten | |
kann, ohne Votum für angenommen zu erklären. Der frustrierten Opposition | |
bleibt dann nur die Möglichkeit, mit einem, gleichwohl meist chancenlosen, | |
Misstrauensantrag den Sturz der Regierung zu versuchen. | |
## Kein leichtes Erbe | |
23 Mal musste Elisabeth Borne in weniger als acht Monaten im Amt als | |
Premierministerin zu diesem als undemokratisch verpönten Kniff greifen. Sie | |
musste aber auch 30 Misstrauensabstimmungen der verschiedenen | |
Oppositionsfraktion von links und rechts überstehen. Das vermittelt einen | |
Eindruck davon, wie mühsam ihr „Job“ gewesen sein musste. Ihr Nachfolger | |
ist nicht zu beneiden. Er erbt von ihr eine politisch nicht minder | |
verfahrene Situation. | |
Während der ersten Jahreshälfte war Frankreich wegen des heftigen | |
Widerstands der Gewerkschaften gegen die von Macron gewollte Rentenreform | |
blockiert. Alle Versuche der Regierung, entweder einen Teil der Linken oder | |
eher „gemäßigte“ Gewerkschaftsverbände von der angeblichen Notwendigkeit | |
einer Anhebung des Rentenalters und der Verlängerung der Beitragsdauer zu | |
überzeugen, scheiterten an deren Einheit und Entschlossenheit, diese | |
soziale Verschlechterung hinzunehmen. Die rechte Opposition wiederum | |
verlangte Änderungen der Vorlage. | |
Auch bei der Diskussion um eine weitere Verschärfung des | |
Einwanderungsgesetzes zeigte sich von Beginn an, dass die von Macron als | |
„ausgewogen“ bezeichneten Vorschläge der Regierung in der Linken total | |
abgelehnt und bei der konservativen Opposition der Partei Les Républicains | |
(LR) und der extremen Rechten des Rassemblement National (RN) in dieser | |
Form nicht akzeptiert wurden. Das Ergebnis war in diesem Fall, dass eine | |
harte Version des mehrheitlich konservativen Senats in der | |
Nationalversammlung mit dem Stimmen von LR und RN, aber mit fast 60 | |
Gegenstimmen oder Enthaltungen von „Macronisten“, verabschiedet wurde. | |
Das war das Ende der versprochenen Öffnung und ein Schlusspunkt für Macrons | |
„Sowohl links wie rechts und in der Mitte“. Seine Regierung schwenkt | |
resigniert nach rechts, kann aber nicht einmal darauf hoffen, dass LR sich | |
zu einer loyalen Mitarbeit als erklärter Koalitionspartner durchringt. In | |
einem Leitartikel bezeichnet Le Monde die Nominierung eines neuen | |
Regierungschefs als einen fast verzweifelt wirkenden „Rettungsversuch“ | |
eines Präsidenten, der sich „weniger als zwei Jahre nach seiner Wiederwahl“ | |
bereits in einer „großen Einsamkeit“ befinde. Der neue Premierminister | |
Gabriel Attal gilt als ein Freund Macrons, das dürfte tröstlich für ihn | |
sein. | |
9 Jan 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Umstrittene-Rentenreform-in-Frankreich/!5938145 | |
[2] /Neues-Immigrationsgesetz-in-Frankreich/!5980949 | |
[3] https://twitter.com/EmmanuelMacron/status/1744404503141441736 | |
[4] https://www.liberation.fr/politique/remaniement-elisabeth-borne-debarquee-e… | |
## AUTOREN | |
Rudolf Balmer | |
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