Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Nachruf auf Bettina Wassmann: Die Hüterin der verlorenen Zeit
> Bremens legendäre linke Buchhändlerin Bettina Wassmann ist gestorben. Sie
> suchte nach Weisheit auch jenseits der Trampelpfade der Vernunft.
Bild: Bettina Wassmann im Kreise ihrer Lieben: Den Buchladen Am Wall 168 hatte …
Bremen taz | Wer schreibt, die Bremer Buchhändlerin Bettina Wassmann sei
tot, hat recht: Sie ist am vergangenen Freitag gestorben, und sie war
nominell eine Buchhändlerin. Aber sie war natürlich viel mehr als bloß eine
Buchhändlerin. Als ich ihren kleinen Laden Am Wall 168 das erste Mal
besuchte, das muss 1973 gewesen sein, vormittags gegen 11 Uhr, da stand
Bettina Wassmann hinter der Kasse und hielt ein Thermometer in ein Glas
Rotwein. Das war damals verstörend für einen jungen linken Studenten, der
in dem einzigen „linken“ Buchladen der Stadt nach politischer
Umsturz-Literatur suchte – und der richtigen Temperatur für einen Burgunder
eher keine Bedeutung beimaß.
Ihren „Buchladen“ – schon der Begriff war eine Provokation – hatte Wass…
1969 eröffnet. Ihr Vermieter war der für die illegale KPD engagierte
Bauunternehmer [1][Klaus Hübotter]. Wassmann war damals dem maoistischen
Kommunistischen Bund Westdeutschlands (KBW) verbunden, aber nur für kurze
Zeit. Dann wurde sie ausgeschlossen: Die Genossen verziehen ihr nicht, dass
sie auch bürgerliche Literaten wie Marcel Proust im Regal stehen hatte.
Sie war die Tochter eines Baumwollhändlers und einer Künstlerin, 1942 in
Plauen im Vogtland zur Welt gekommen. Schon bald hatte sie ihre Liebe für
das Leben des Immateriellen und Schönen entdeckt. Gern erzählte sie, nicht
ohne Stolz, dass bei ihr im Laden die [2][Trainer-Legende Otto Rehhagel]
(Werder Bremen) anzutreffen war, aber auch Reinhild Hoffmann, die
Regisseurin des Bremer Tanztheaters, und der kürzlich verstorbene
[3][Dietrich E. Sattler], der für das Werk Friedrich Hölderlin ein neues
Editionsverfahren entwickelte und zu diesem Zweck, obschon
Studienabbrecher, an der Bremer Uni als wissenschaftlicher Mitarbeiter eine
eigene Forschungsstelle betrieb.
Eher nebenbei und nicht immer mit Enthusiasmus bediente Wassmann ihr
Stammpublikum, die linken Studenten, die schlichtere Kost verlangten.
Irgendwann 1985 antwortete sie auf die Frage, wann sie aufhören wolle zu
arbeiten, leicht ironisch: „Ich mache weiter, bis mir [4][‚Das Kapital‘,
Band eins], von Marx auf den Kopf fällt“.
Restexemplare des Klassikers verstaubten vermutlich damals schon im
obersten Regal im hintersten Eck ihres Buchladens. Ihr wurde damals die
Universitäts-Buchhandlung anvertraut, aber sie hatte einfach keine Lust,
damit ein Geschäft zu machen. Die Liebhaber des Kapitals und ihr
Stammpublikum wechselten dann 1977 zur neu gegründeten Konkurrenz – der
„Linke Buchladen im Ostertor“ eröffnete, wenige Straßen weiter, und da gab
es weder Rotwein noch irritierend esoterische Literatur im Schaufenster.
Wassmann suchte nach Weisheit auch jenseits der Trampelpfade der Vernunft.
Walter Benjamin sei ihr Lieblingsautor, sagte sie, der Kulturkritiker, der
kritische Theorie und jüdische Mystik verbinden wollte. Der Bezug auf
Benjamin bedeutete ihr vor allem eines: „Überzeugung ist unfruchtbar“. Sie
liebte den französischen Romancier Marcel Proust, so sehr, dass sie
scherzhaft ihr linkes Knie nach ihm benannte. Dessen berühmtes Werk, die
siebenbändige Romanserie „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, hatte
sie im Krankenhaus nach einer Knie-Operation gelesen.
Für Wolfram Siebeck hat sie den Nobelpreis gefordert. Wolfram Siebeck? Das
war damals der Papst der deutschen Gastronomie-Kritik, der gegen den
populären Toast Hawaii polemisierte, gegen „Mett-Igel“ und Tütensoßen
anschrieb. Siebeck präsentierte sich gern als Weinkenner, und hatte für
die, die das auch werden wollen, nur einen Tipp: Trinken, Trinken, Trinken!
In Wassmanns Schaufenster an der belebten Einkaufsstraße sah man selten nur
die Bestseller des Zeitgeists. „Hier stehen nur Bücher, die mich
interessieren“, sagte sie zu ihren Regalen. Wassmanns Buchladen lief also
auf die Dauer eher schlecht als recht. Oben in dem Gründerzeit-Haus
praktizierte Bremens berühmte „Wall-Commune“ die Revolution im Privatleben.
Unten stellte Wassmann bibliophile Juwelen aus.
Irgendwann Ende der 1970er Jahre hat sie dann den Soziologen Alfred
Sohn-Rethel kennengelernt, dem Oskar Negt noch im hohen Alter von 80 Jahre
eine Stelle an der Bremer Uni besorgt hatte. Sohn-Rethel war seit den
1970er Jahren so etwas wie ein Geheimtipp unter der linken Intellektuellen,
hatte er doch – Jahrzehnte früher – in einem Monumentalwerk „Geistige und
körperliche Arbeit“ versucht, die abstrakten Kategorien des Denkens als
Widerspiegelung der Abstraktionen der Warenform zu erklären.
„GKA“ war damals das Kürzel seines Buches, das den Anspruch hatte, das
Denken von seiner materialistischen Basis geradezu „abzuleiten“. Davon
träumten auch viele, die Mühe hatten, die verschlungen Gedankengänge
Sohn-Rethels nachzuvollziehen.
Als Bettina Wassmann nicht mehr nur fremde Bücher auslegen wollte, sondern
mit einem eigenen Klein-Verlag ausgefallenen Texten ein Forum bieten
wollte, druckte sie auch Sohn-Rethel – einen Text mit dem vielsagenden
Titel „Das Ideal des Kaputten“. Sie hatte den 1899 geborenen, 41 Jahre
älteren Soziologen 1984 geheiratet. Im gemeinsamen Wohnzimmer im
gutbürgerlichen Bremer Schwachhausen zeigte Sohn-Rethel gern die kleine
Kommode, in der drei Stapel Papiere sorgfältig aufgeschichtet waren –
„meine gesammelten Werke“, sagte er. Sechs Jahre lebte er mit Wassmann
zusammen, dann starb er – 91jährig. Wahrscheinlich hoffte er, dass seine
gesammelten Werke posthum einmal im „Verlag Bettina Wassmann“ gedruckt
werden würden.
Aber Wassmann konnte nur kleine Schriften herausgeben. So erschien bei ihr
zum Beispiel Jochen Hörischs Mannheimer Antrittsvorlesung „Das Abendmahl,
das Geld und die neuen Medien – Poetische Korrelationen von Sein und Sinn.“
In einem gewagten Ritt durch die Jahrhunderte und die akademischen Fächer
erklärt Hörisch da, dass sich „Sinn“ in der christlich abendländischen W…
über drei Leitmedien vermittelt – eben das Abendmahl, das Geld und die
elektronischen Medien. Das war Wassmanns Welt.
Am 31. März 2023 hatte sie, 80-jährig, dann doch ihren Platz hinter der
Kasse in ihrem Buchladen geräumt, der für sie das Leben bedeutet hatte.
„Aus eigenen Stücken“, wie es im Nachruf der FAZ betont wird. Mit dem
Buchladen ging ein Stück der „Welt von gestern“ unter.
10 Jan 2024
## LINKS
[1] /Klaus-Huebotter-ist-tot/!5859890
[2] /Video-der-Woche/!5100225
[3] /Portraet/!5153033
[4] /Autor-Rettig-ueber-Marx-Jubilaeum/!5505965
## AUTOREN
Klaus Wolschner
## TAGS
Nachruf
Bremen
Buch
Linke Szene
Bücher
Buchhandel
Buchladen
Jüdische Gemeinde Bremen
## ARTIKEL ZUM THEMA
Geschichte dreier Bremer Buchhändler: „Nicht die richtigen Fragen gestellt“
Vor 150 Jahren wurde Anni Leuwer geboren. Ein Gespräch mit Guenter G.
Rodewald, dessen Vater bei Leuwer lernte – und überzeugter Antisemit war.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.