# taz.de -- Porträt: Der Wimbledon-Sieger | |
> Der Irrweg zur Wahrheit hat den Schulabbrecher Dietrich Eberhard Sattler | |
> von der Teck über die Bremer Uni nach Treia an der Treene geführt. | |
> Eingetragen hat ihm das viel Ruhm, viel Ärger und ein Wasserglas. Heute | |
> erhält er den Tübinger Hölderlin-Preis. | |
Bild: D. E. Sattler führt durchs Bauernhaus. In Treia entstanden die letzten H… | |
Gibt es auf Erden ein Maß? Wenn nicht, dient auch der Begriff der | |
Maßlosigkeit bloß dazu, ins Raster zu zwängen, was nicht passt, und heilige | |
Momente zu profanieren, weil sie verstören. Im September 1972 fährt ein | |
Mann von Kassel im Auto nach Stuttgart. Bei Nürtingen aber entscheidet er | |
sich für einen Schlenker. | |
Am Ende wird dieser Schlenker Dietrich Eberhard Sattler über Frankfurt nach | |
Bremen und schließlich nach Treia an der Treene geführt haben, im | |
nördlichen Schleswig-Holstein. Er wird den Angestellten eines VW-Händlers | |
in ein intellektuelles Abenteuer stürzen, das erst im Oktober 2008 endet. | |
Und heute erhält Sattler, im Tübinger Rathaus, den Hölderlin-Preis, für die | |
historisch-kritische Ausgabe des Dichters, seine Tat in 20 Bänden. Für | |
seinen Umweg. | |
Als er, an der Teck, den Wagen stoppt, ist er 33 Jahre alt. Scharfer Othem | |
aber wehet um die Löcher des Felses - doch, die alten Verse leben schon in | |
seinem Kopf. Er beschäftigt sich hobbymäßig mit dem Dichter, aber jenseits | |
des Üblichen: Ziel seiner Fahrt sind ja die Manuskripte der | |
Württembergischen Landesbibliothek. Hier aber, am Abgrund der Teck, wird | |
ihm eine Epiphanie, und er sieht und er weiß, jetzt, plötzlich: "und der | |
Gesang ist wahr". So sagt Sattler seither, schreibt und sagt es immer | |
wieder, auch 37 Jahre danach, in Treia an der Treene, wo er lebt, diesen | |
Satz. Ein maßloser Satz, der nur dem Dichter selber zukommt. Und Sattler. | |
Denn Sattler ist Hölderlin geworden. | |
Friedrich Hölderlin war eine Schlüsselfigur der 1960er-Jahre gewesen, im | |
Streit der Ideologien. Heidegger wollte den 1843 gestorbenen Landsmann zum | |
Hofsänger der Reaktion erklären und entnahm ihm beharrlich deutschtümelnde | |
Slogans. "Nationalistische Rabulistik" zürnte Adorno - und dekretierte, | |
Hölderlins "genuine Beziehung zur Realität" sei "die kritische und | |
utopische". Vulgo: Der Poet war links. | |
Vereinnahmungen hat Sattlers Edition erschwert. Sie lenkt, sagt seine | |
Laudatorin Anke Bennholdt-Thomsen "den Blick auf den Prozess des | |
Schaffens": Typografisch zeigt die Ausgabe, so die Berliner Professorin, | |
wie der Dichter seine Gesänge revidiert und selbst noch im Druck und der | |
Reinschrift gestrichen und ergänzt hat und alles neu und immer neu | |
überarbeitet, so weit, "dass es kein Werk letzter Hand mehr gibt". | |
Hölderlin ist längst kein Kriegsgrund mehr, niemand nutzt seine Lyrik zum | |
Streit. Ist Hölderlin noch Gegenstand? Dass sich keiner mehr für ihn | |
interessiert, würde man Sattler nicht sagen, selbst wenns stimmt. Margret | |
Sattler aber hat das Schicksal, dass ihr Mann Hölderlin geworden ist, und | |
sie sagt so etwas bewusst, "lass das doch", sagt sie ungerührt, während sie | |
Apfelkuchen und er Bücher an die Besucher verteilt, handsigniert, "diese | |
Bücher, die keiner liest", Margret Sattler schnaubt verächtlich. Durchs | |
Gartenhaus, das fast exakt zwischen Nord- und Ostsee steht, weht eine | |
Brise. Rasch verfliegt die Beklommenheit, die kurze Gereiztheit. War nur | |
Spiel. Er jedenfalls erläutert schon wieder mit Eifer und mit | |
dunkel-lachenden Augen, welche Hölderlin-Frevler er in mühseligen | |
Hexametern zur Strafe in "metaphorische Frösche" verwandelt hat. Der Kuchen | |
ist köstlich, auch der Arrak im Guss, wäre noch eins jetzt maßlos…? | |
Sattler hält sich nicht für Hölderlin. Das wäre ja maßlos, komplett, und | |
sicher ist er auch nicht vollkommen Hölderlin, da muss noch etwas sein, wie | |
könnte er sonst als D. E. Sattler weiterleben, wie Bach sein wollen, seit | |
die Hölderlin-Chose vorbei ist. Allerdings ist er nach wie vor mehr | |
Hölderlin, als ein Schauspieler es je könnte - weil es ihm ernst ist, mit | |
Hölderlin. Er ist Hölderlin, wie, in einem Ritual, der Priester Gott. Alles | |
von ihm hat er gelesen, jedes Fragment, jeden Fitzel, jeden Tintenfleck, | |
und seine Sprache ist infiziert, er spricht Hölderlin, wo nicht in Zitaten | |
so doch im hohen Tone des Dichters, im Gespräch kaum zu trennen und | |
verheerend für die eigenen Verse. Aber eben Voraussetzung fürs große Werk. | |
Und dass er das ständig gegen Hohn und Hass der Arrivierten behaupten | |
musste… | |
"Das ist nicht wahr", wird Bennholdt-Thomsen am Telefon richtig stellen, | |
und, etwas milder, "das gehört zu seinem Selbstbild". Das Selbstbild | |
entfaltet sich mit Charme und in epischer Breite oben im Arbeitszimmer, wo | |
ein altes, mit Farbe verkrustetes Tischchen wackelt, denn er hat immer | |
Maler sein wollen, wo die Bücherregale überquellen, am Fenster das | |
Schreibpult, "ich arbeite im Stehen", der Rücken. Das Selbstbild mischt | |
Anekdoten, Invektiven, deren Entschärfung, philologische Verweise - und | |
erstaunlich präzise Erinnerungen an Kränkungen; wie das Präsent der Uni | |
Bremen zum 25-jährigen Dienstjubiläum. Ein Wasserglas. "Das habe ich stehen | |
lassen", sagt Sattler. Er lacht, wie über einen gelungenen Streich. | |
Wahr ist: Der Schulabbrecher Sattler, Autodidakt, hatte seinerzeit den wohl | |
akademischsten Zirkel der germanistischen Philologie brüskiert. Die | |
Editionswissenschaft feierte damals landauf, landab die Stuttgarter | |
Ausgabe, der es gelungen sei, das sperrige Werk von Schlacken und Spuren | |
der Hölderlinschen Tobsucht zu reinigen. Und dann kam Sattler, zog sie in | |
Zweifel, bewies ihre Fehler. Und begann, im klassenkämpferischen Verlag | |
Roter Stern, eine neue. Und, ja: Die Bremer hätten ihm ruhig mehr huldigen | |
dürfen. Ein Wasserglas! Also ehrlich. Die Ansiedlung der | |
historisch-kritischen Hölderlinausgabe war schließlich 1978 das erste | |
Forschungsprojekt der Reform-Uni überhaupt. Aber umgekehrt: An welcher | |
anderen Universität wäre jemand ohne Hochschulzugangsberechtigung jemals | |
Leiter eines Vorhabens geworden? Und welcher Forscher dürfte, über zwei | |
Ländergrenzen hinweg, einfach sein Institut verlegen - etwa 250 Kilometer | |
nördlich vom Roland, nach Treia? | |
Die Homepage ist noch in Bremen gehostet, [1][hoelderlin.de], doch seit | |
Oktober 2008 arbeitet er ausschließlich am Bach-Projekt. Laut Wikipedia | |
handelt es sich um eine Folge des "autodidaktischen Erlernens der | |
Blockflöte", mittels derer Sattler "die verborgenen Strukturen in den | |
Fugen" analysiere. Immerhin ist es ein Flügel, an dem er sich durch die | |
Partituren tastet, innehält, zum Radiergummi greift, den Text, den er unter | |
jeder Note notiert hat, löscht, ihn, mit Bleistift, korrigiert. Denn das | |
mit den "verborgenen Strukturen", das stimmt. "Ich habe", sagt Sattler, | |
"sein Kunstgeheimnis entschlüsselt". Selbst seinen Söhnen hätte Bach das | |
verschwiegen. Und Sattler sagt: "Ich bin da schon so weit, ich kann mich da | |
nicht mehr irren." | |
Ihm besteht das Kunstgeheimnis im "vokalen Grund" der Instrumental-Werke, | |
und zwar aus den Worten der "gantzen Heiligen Schrifft Deutsch". Weil das | |
Wohltemperierte Klavier aus 24 Präludien und Fugen besteht, wie das | |
Lukas-Evangelium aus 24 Kapiteln. Und auch, weil Sattler die Luther-Bibel | |
in einer Edel-Ausgabe verlegt hat, in 22 Bänden, die Zahl der hebräischen | |
Buchstaben. Das war ein ruinöses Projekt, eine Bußübung, und eine Frucht | |
des Zorns: Marcel Reich-Ranicki hatte, flapsig, Hölderlin einen | |
Schreibtischtäter genannt!, in einer Rede!, vor großem Publikum!, in | |
Homburg!, nein!, das ist nichts, worüber Sattler hinweg wäre, nein, gerade | |
Hölderlin!, auch heute noch, "ich hatte damals die Lust verloren", sagt er, | |
vor 14 Jahren. Alles wankte, kam ins Stocken. Und Sattler stürzte sich in | |
die Bibel-Arbeit. | |
Das alte Bauernhaus. Der Strohhut ist ihm wichtig: Er verlässt es nie ohne. | |
Der Garten, den er dem kargen Boden abgerungen hat, Hochbeete aus | |
Feldstein, es grünt. Er lobt seine handwerklichen Fähigkeiten nicht ohne | |
das diesbezügliche Unvermögen seiner Frau zu erwähnen. Margret Sattler | |
scheint das zu kennen. Sie weiß, was es soll. Sie sagt nichts dazu. Woher | |
jetzt das Wort vom gütigen Schweigen. | |
"Es ist schwierig, mit ihm auszukommen", sagt Bennholdt-Thomsen. Den Satz | |
bekommt oft zu hören, wer sich nach Sattler erkundigt, wenn auch meist | |
nicht zitatfrei: Wer ihn mag, bewundert seinen Enthusiasmus, seine Gabe | |
"Dinge zu erkennen, die wir nicht sehen" - und hat Sorge, ihn zu kränken. | |
"wozu auf der einen seite bewunderung, die ich mir nur rückhaltlos, und | |
ablehnung auf der anderen, die ich mir ebenso nur als eine gänzliche | |
vorstellen kann", blafft er in konsequenter Kleinschreibung per Mail einen | |
Rezensenten an, der ihm devot anvertraut hat, in den Hölderlin-Bänden 7 und | |
8 auch Nachteile zu sehen. "Diese Bände", sagt Bennholdt-Thomsen | |
deutlicher, "waren eine Enttäuschung". Sie schienen Verrat am Ansatz, sie | |
fügten die späten Fragmente zusammen, eigenmächtig, behaupteten Deutung. | |
"Wir sind auf dem Irrweg zur Wahrheit", sagt Sattler. Ihm sind diese Bände | |
das Herzstück. Bennholdt-Thomsen nennt sie "divinatorische Versuche". | |
Divinationsgabe erklären alte Lexika als "Ahnungsvermögen", als | |
"Weissagungskraft" oder "Inbegriff aller auf die Mantik bezüglichen | |
Erscheinungen". Mantik gilt nicht als akademische Methode. Sie ist stets | |
auch Pose - der Intuition und der Allmacht des Gedankens. Und sei es als | |
Scherz, als Schwank, den er gern erzählt. Klar: Es war einmal schiere | |
Blödelei, beim gemeinsamen Tennisgucken, 1991, das Finale, "und ich", sagt | |
Sattler, "hab Ivan Lendl bei jedem Aufschlag einen Tick, so", er wischt | |
durch die Luft, "auf die Schulter gegeben". Er grient. "Fies, nicht?" | |
Sattler hat damals Lendl geschlagen, und Hölderlin Wimbledon gewonnen. Für | |
Boris Becker aus Leimen. | |
5 Nov 2009 | |
## LINKS | |
[1] http://hoelderlin.de/ | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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