# taz.de -- Autor Rettig über Marx Jubiläum: „Die Sinnlichkeit des Denkens�… | |
> Die Schwankhalle feiert den Jubilar Karl Marx: Den Auftakt macht am | |
> Donnerstag Michael Rettig mit einer Bühnenfassung von „Das Kapital, Band | |
> 1“. | |
Bild: Wünscht sich keine offenen Grenzen: Michael Rettig (li.) | |
taz: Herr Rettig, Sie haben eine Textorgie vorbereitet? | |
Michael Rettich: Genau. | |
Warum ist das die richtige Form, um Menschen heute mit Karl Marx zu | |
konfrontieren? | |
Weil mich bei Marx in erster Linie die Theorie interessiert. Und weil es | |
mir um die Sinnlichkeit des Denkens geht – und nur in zweiter Linie um die | |
Sinnlichkeit der Anschauung: Wenn Ralf Knapp als Schauspieler die | |
Originaltexte von Marx auf die Bühne bringt und erfahrbar macht, ist das | |
etwas ganz anderes, als sie zu lesen. | |
Werden sie dadurch eingängiger? | |
Ich glaube schon. Doch, es sollte dadurch eingängiger werden. | |
Nun haben Sie ja nicht das ganze Werk für die Bühne eingerichtet, sondern | |
eine Art Querschnitt vom „Kapital“… | |
Ja, ich verzichte zum Beispiel auf die ersten vier Kapitel, wo es um Wert, | |
Ware und Geld geht. Das Thema Arbeitszeittheorie spielt zwar am Rande eine | |
Rolle, aber ich habe mich da an Karl Korsch gehalten, der mal empfohlen | |
hat, in die Lektüre direkt mit dem vierten Abschnitt einzusteigen: also der | |
Mehrwertproduktion. Mein Anspruch ist nicht, ein wissenschaftliches | |
Symposium zu veranstalten. | |
Allerdings wird die Lesart mit einer gewissen Autorität ausgestattet, wenn | |
ein Akteur, der „ich“ sagt, sie vorträgt – also in der Rolle des Autors, | |
als Gespenst oder Wiedergänger von Marx. Ist das ein Problem? | |
Ich finde nicht. Natürlich steckt hinter dem Text eine Lesart – nämlich | |
eben die, wie ich das verstehe. Und es gibt selbstredend viele | |
verschiedene. Ich habe aber auch versucht, in Ansätzen bestimmte Debatten, | |
die es da gibt, abzubilden. Oder nein: abzubilden geht zu weit… | |
… eher anzuteasern, oder? | |
Ja. Es geht darum, deutlich zu machen, dass es nach wie vor ein | |
umstrittenes Werk ist, und von diesem Streit leben muss. Aber in die Tiefen | |
der Debatte kann ich mich nicht begeben. Ich habe versucht, das deutlich zu | |
machen, was meiner Meinung nach vor allem für die heutige Zeit relevant | |
ist. Das ganze wird ja zudem noch durch eine bestimmte Lesart von Ulrike | |
Hermann ergänzt | |
Aber nur am 5. Juni, wenn sie auftritt? | |
Nein, das kommt in den Videointerviews zum Tragen, die wir mit ihr gemacht | |
haben. Die sind Teil der Inszenierung. | |
Mitunter nutzen Sie den Text, um polemisch Stellung zu beziehen, etwa, wenn | |
es heißt, dass „das neoliberale Credo aus Globalisierung, Deregulierung und | |
wenn es sein muss ‚No Nation, No Border‘ die Proletarier wieder ungeschützt | |
der Konkurrenz“ ausliefere. Manche Marx-Lesarten sehen gerade in den | |
kosmopolitischen Tendenzen sein fruchtbarstes Erbe… | |
Ja, das habe ich mir lange überlegt, ob ich das noch einmal reinschreibe. | |
Ich finde, es ist ein schwieriges Feld. | |
Deswegen macht es ja Spaß, darüber zu reden! | |
Ja. Ich denke, dass es schon Tendenzen gibt, Arbeitskräfte sich an Land zu | |
ziehen, die man möglichst billig ausbeuten kann. Auf der anderen Seite | |
können wir uns nicht nach 300 Jahren Ausbeutung des globalen Südens | |
hinstellen und sagen: Guckt mal, wo ihr bleibt. Ich denke, wir müssen | |
abgeben. Wir müssen unseren Lebensstandard senken. Nicht nur aus | |
ökologischen Gründen. | |
Es wäre nicht das Kapital, das die Grenzen erbittert abschottet? | |
Sowohl als auch. Ich denke, da gibt es unterschiedliche Tendenzen, auch | |
innerhalb der ökonomischen Eliten. | |
Aber warum machen Sie da jetzt nicht ein bisschen Zoff in Ihrem Stück? | |
Ich wollte das Stück nicht auf diese Frage zuspitzen. Mir geht es mehr um | |
eine Aktualität von Marx, die über die Tagespolitik hinausgeht – um seine | |
ökonomische Theorie. Und wahr ist: Ich gehöre nicht zu denjenigen, die | |
sagen: Wir brauchen offene Grenzen. Ich glaube, da lügt man sich in die | |
Tasche. | |
Die Sinnlichkeit des Textes weckt Bilder, die man kaum von einem | |
ökonomischen Werk erwartet, etwa die Anklänge ans Gespenstische oder der | |
Anspruch, die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen. Wie setzen Sie das um? | |
Aus diesem Zitat hat sich die Grundidee entwickelt. Ich habe gesagt: Okay, | |
dann wollen wir doch den Verhältnissen ihre Melodie vorsingen – den Text – | |
und entwickeln daraus auch eine Folie für den Tanz. Im Rücken des | |
Schauspielers wird deshalb der Tänzer Mirosław Żydowicz agieren, allerdings | |
nicht unmittelbar sichtbar, sondern nur als Schattenriss. Damit soll | |
angedeutet werden, dass wir von Mächten beherrscht werden, die wir zwar | |
selbst geschaffen, über die wir aber die Kontrolle verloren haben: Die | |
abstrakte Macht im Rücken der Akteure. | |
Das Kapital – eine ungreifbare Dynamik? | |
Deswegen sieht man den Tänzer nicht als Figur. Man ahnt, dass es ein Körper | |
ist, aber nimmt ihn nur abstrakt wahr: Er ist so vergrößert, dass nur ein | |
Ausschnitt zu erkennen ist. | |
Und die Melodie des Textes ist die einzige Musik? | |
Nein es gibt einen digitalen Sound: Cello oder Klavier hätte ich, obwohl ja | |
selber Pianist, unpassend gefunden. Stattdessen hat Riccardo Castagnola mit | |
Spezialmikros die Prozesse in beispielsweise einem Handy in Sounds | |
umgewandelt, die er miteinander kombiniert. | |
Klänge aus einer Welt, in der die Prozesse ganz in die Maschine verlagert | |
sind? | |
So kann man das deuten: Die Idee, dass der Kapitalismus die Technik so weit | |
vorantreibt, dass wir am Ende vor einer Welt ohne Arbeit stehen, kommt im | |
Stück vor. Was dann der Wert der ganzen Arbeitswerttheorie sein soll, was | |
dann von ihr übrig bleibt – das klären wir ein andermal. | |
29 May 2018 | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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