# taz.de -- Hilfe für die Ukraine: Vom Westen nichts Neues | |
> Mit neuer Wucht hat Russland den Raketenterror gegen die Ukraine wieder | |
> aufgenommen. Kyjiw bittet seine Verbündeten um Hilfe. | |
Bild: Kyjiw nach Luftangriffen am 2. Januar | |
[1][Über den Jahreswechsel hat die Ukraine zwei der massivsten | |
Raketenangriffe seit Beginn der großangelegten russischen Invasion erlebt.] | |
Nach offiziellen Angaben hat das russische Militär in der vergangenen Woche | |
rund 500 Raketen und Kamikaze-Drohnen auf die Ukraine abgefeuert. Die | |
Angriffe haben mehr als 400 Verletzte und 61 Tote gefordert, davon allein | |
34 in Kyjiw, das zum Hauptziel der Russen geworden ist. | |
Tetjana, 31, lebt im Kyjiwer Stadtteil Podil, der eines der Epizentren der | |
Angriffe am 29. Dezember und 2. Januar war. Sie erinnert sich, dass sie die | |
Luftangriffssirene, die um 4 Uhr morgens losging, verschlafen hat und keine | |
Zeit hatte, sich in Sicherheit zu bringen. Es gab bereits Explosionen, und | |
draußen war alles voller Rauch, sodass sie sich mit einer Decke zugedeckt | |
im Badezimmer ihrer Wohnung im siebten Stock verstecken musste. | |
„Ich verstehe nicht, warum wir, obwohl wir immer wieder von unseren | |
Verbündeten hören, dass sie uns unterstützen, immer noch nicht genug Waffen | |
haben, um unsere Städte zu verteidigen?“, sagt Tetjana. „Warum helfen sie | |
uns nicht, dafür zu sorgen, dass Russland nicht mehr in der Lage ist, | |
Raketen zu produzieren und sie gegen uns einzusetzen.“ | |
In den letzten Monaten hat Russland bei seinen Angriffen auf die Ukraine | |
vor allem Shahed-Kamikaze-Drohnen eingesetzt und auf diese Weise einen | |
Vorrat an Marschflugkörpern angespart. Russland handelt jetzt mit einer | |
neuen Taktik: kombinierte Angriffe mit verschiedenen Raketentypen vom Land, | |
aus der Luft und vom Wasser aus, im Süden, Osten und Norden der Ukraine. | |
Militärexperten zufolge soll damit die ukrainische Luftabwehr geschwächt | |
werden. | |
## Ukraine bittet Westen um Hilfe | |
Diese Änderung der Taktik wird auch von russischen Militärbloggern | |
bestätigt, die darauf hinweisen, dass die russischen Truppen nicht wie | |
bisher eine oder zwei Raketen auf ausgewählte Ziele abfeuern, sondern etwa | |
zehn auf einmal, um die Wahrscheinlichkeit eines Treffers zu erhöhen. | |
Dennoch gelang es der Ukraine, den Großteil der jüngsten russischen Raketen | |
allein mithilfe der von ihren Partnern bereitgestellten | |
Luftverteidigungssysteme abzuschießen. So wurden beim Angriff am 2. Januar | |
dank der Patriot-Systeme 10 von 10 russischen aeroballistischen | |
Kinshal-Raketen abgeschossen, was laut dem ukrainischen Armeechef | |
Saluschnyj ein „absoluter Rekord“ ist. Einen solchen Angriff hatte es noch | |
nie gegeben. | |
Die militärische und politische Führung der Ukraine bittet ihre Partner im | |
Westen, die Lieferungen von Luftabwehrsystemen und Raketen zu erhöhen. | |
Andernfalls, so die ukrainischen Militärs und Politiker, seien sie | |
angesichts der anhaltend massiven russischen Angriffe gezwungen, Ziele mit | |
höherer Verteidigungspriorität auszuwählen. Das könnte die Zahl der zivilen | |
Opfer erhöhen. | |
Iryna aus Charkiw hilft gerade, eine Unterkunft für eine Freundin zu | |
finden, [2][deren Wohnung bei dem jüngsten Angriff auf die Stadt abgebrannt | |
ist]. Sie sagt: „Das ist ein echter Genozid an den Ukrainern, den einige | |
internationale Organisationen, die zum Schutz gegründet wurden, immer noch | |
nicht sehen oder nicht sehen wollen.“ | |
Wenn aber Putin in der Ukraine gewinnen sollte, würde der Horror des | |
Krieges auch in vielen anderen Ländern Realität werden. „Aber wir Ukrainer | |
werden nicht verzweifeln oder enttäuscht sein, egal wie schwer es für uns | |
ist“, sagt die 35-Jährige. | |
## For as long as it takes? | |
Die zögerliche Reaktion des Westens auf die massiven Raketenangriffe hat | |
auch den Glauben der Bevölkerung erschüttert, dass die westlichen | |
Verbündeten die Ukraine tatsächlich unterstützen und dass das vom Westen | |
oft wiederholte „for as long as it takes“ mehr als eine Worthülse ist. | |
[3][Dazu gehört auch die mangelnde Bereitschaft Deutschlands, der Ukraine | |
Taurus-Marschflugkörper zu liefern]. Die würden nach ukrainischer | |
Auffassung dazu beitragen, die russische Nachschubkette zu unterbrechen und | |
damit die Intensität des Beschusses zu verringern. | |
Als Argument führen die Ukrainer ihre Angriffe auf russische Kriegsschiffe | |
der Schwarzmeerflotte mit westlichen Langstreckenwaffen wie der | |
französisch-britischen Storm-Shadow-Rakete an. | |
Diese Angriffe zwangen Russland dazu, seine Schiffe aus dem Schwarzen Meer | |
abzuziehen, was den Abschuss russischer Kalibr-Marschflugkörper auf | |
ukrainische Städte deutlich reduzierte. Dieser Raketentyp wurde beim | |
Angriff vom 29. Dezember überhaupt nicht eingesetzt, und am 2. Januar | |
wurden nur drei Raketen dieses Typs abgefeuert, die die Ukrainer alle | |
abschießen konnten. | |
## Schutz Kyjiws reicht nicht | |
Obwohl die Hauptstadt Kyjiw als relativ gut gegen Luftangriffe geschützt | |
gilt, zeigt die Zahl der bei den letzten beiden Angriffen getöteten | |
Zivilisten, dass dieser Schutz nicht ausreicht. | |
Die Ukrainer sind überzeugt, dass solche Angriffe Russland keinen | |
militärischen Vorteil bringen, da sie vor allem Zivilisten und zivile | |
Infrastruktur treffen. Vielmehr würden solche Angriffe darauf abzielen, die | |
Moral der Ukrainer vor dem Hintergrund einer kriegsmüden Armee, Wirtschaft | |
und Gesellschaft zu brechen. [4][Die wird durch die schwindende | |
Unterstützung der westlichen Partner noch verstärkt]. | |
Viele in der Ukraine sind jedoch zuversichtlich, dass diese Taktik der | |
Russen nicht aufgehen wird. „Je heftiger der Beschuss, desto mehr Spenden | |
schicken wir an die ukrainische Armee“, sagt Pjotr, ein freiwilliger Helfer | |
aus Kyjiw. „Zum Beispiel für Kampfdrohnen, die die fehlenden | |
Artilleriegeschosse fast ersetzt haben.“ | |
Putin verstehe nicht, dass diese Art Angriffe nicht demoralisieren, wie er | |
es wolle, sondern im Gegenteil noch mehr einen. „Wir dürfen nicht aufgeben, | |
sonst hören wir auf zu existieren“, sagt Pjotr. | |
Die Verzögerungen bei der zugesagten militärischen und finanziellen | |
Unterstützung durch die EU und die USA, die unzureichende | |
Munitionsproduktion und die Weigerung, angesichts der massiven Angriffe und | |
der russischen Initiative auf dem Schlachtfeld Langstreckenraketen zur | |
Verfügung zu stellen, bringen die Ukraine in die Situation eines Rufers in | |
der Wüste. Zugleich versucht die Ukraine, einen Plan B zu entwickeln. | |
## Ukraine setzt auf Hilfe von Partnern | |
So kündigte Präsident Selenski in seiner Neujahrsansprache an die Ukrainer | |
an, die Produktion eigener Waffen – von Granaten bis zu Drohnen – zu | |
erhöhen. Gleichzeitig betonte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba, | |
dass die Ukraine nach wie vor an die Umsetzung von Plan A glaube – also an | |
die Hilfe von Partnern. | |
Zudem bemühe sich die Ukraine um die Überweisung der eingefrorenen | |
russischen Staatsvermögen, die sich auf bis zu 300 Milliarden Dollar | |
belaufen könnten, als Finanzierungsquelle. Die Überweisung würde die Lage | |
der Ukraine erheblich erleichtern. | |
Wladimir Putin sieht jedoch, wie langsam die westlichen Verbündeten | |
Entscheidungen treffen, um der Ukraine zu helfen, und wie wenig sie auf die | |
russischen Angriffe reagieren. Je länger dies andauert, desto mehr erhöht | |
Russland den Druck und bedroht offen westliche Länder wie Polen, die | |
baltischen Staaten und Finnland. | |
Das Fehlen einer einheitlichen Reaktion der westlichen Partner und die | |
fehlende Angst Putins, für solche Aktionen zur Verantwortung gezogen zu | |
werden, zeigt nicht nur, wie schwach die Position dieser Länder ist. Es ist | |
auch ein Beispiel für andere Autokraten, dass ihre ähnlichen Aktionen | |
wahrscheinlich ebenfalls ungestraft bleiben werden. Russland stellt die | |
Nato auf die Probe, und die Nato sendet keine klare Botschaft an Putin, was | |
letztlich die Fähigkeit des Bündnisses in Frage stellt, nicht nur seine | |
Partner, sondern auch seine eigenen Mitglieder zu schützen. Und das ist | |
auch für Russland klar erkennbar. | |
[5][Das Vorgehen Russlands deutet nicht darauf hin, dass Putin | |
Friedensgespräche, Kompromisse oder eine Lösung des Konflikts zu anderen | |
als den russischen Bedingungen anstrebt]. Genau wie Putin vor zwei Jahren | |
sagte, bleibt das Ziel Russlands unverändert – die Entnazifizierung und | |
Entmilitarisierung der Ukraine. Und das bedeutet die vollständige | |
Kapitulation der Ukraine. | |
Wenn die derzeit besetzten ukrainischen Gebiete unter russischer Kontrolle | |
bleiben und die Kampfhandlungen eingefroren werden, wird der Kreml diese | |
Atempause nutzen, um Ressourcen anzuhäufen und dann weiter auf die | |
Westgrenze der Ukraine zubewegen, um vor der Haustür der Nato zu landen. | |
Die anhaltende Unentschlossenheit des Bündnisses könnte von Russland als | |
Aufforderung zum Handeln verstanden werden. | |
5 Jan 2024 | |
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## AUTOREN | |
Anastasia Magasowa | |
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