# taz.de -- Onlinemedium „Kyiv Independent“: Raketen, Recherchen, Raketen | |
> Kurz vor der russischen Invasion in der Ukraine launchte „Kyiv | |
> Independent“ und hat sich längst etabliert. Über ein Medium im | |
> Dauer-Ausnahmezustand. | |
Bild: Chefredakteurin Olga Rudenko wurde für ihre Arbeit schon oft ausgezeichn… | |
An einem Montag Ende November um 11 Uhr wird es eng im Großraumbüro. Die | |
Mitarbeiter:innen aus den anderen Räumen schieben ihre Bürostühle | |
hinein, über einen großen Bildschirm werden Kolleg:innen zugeschaltet, | |
die remote arbeiten. Wie in vielen Redaktionen plant man auch beim [1][Kyiv | |
Independent] die Woche in einer gemeinsamen Konferenz. Doch anders als in | |
den meisten kann es hier jeden Moment einen Raketenangriff geben Der Umgang | |
mit dieser Gefahr ist für die Redaktion Routine. | |
Bei einem Angriff gehen alle zum [2][nahegelegenen U-Bahnhof] und arbeiten | |
dort weiter. Heute können sie in der Redaktion bleiben. Am Wochenende noch | |
wurde die ukrainische Hauptstadt zwei Nächte in Folge mit Drohnen | |
attackiert. Kyiv Independent ist das am schnellsten wachsende | |
englischsprachige Medienunternehmen der Ukraine. Dabei wurde es erst im | |
November 2021 gegründet, nur drei Monate vor der umfassenden russischen | |
Invasion in der Ukraine. 21 Mitarbeiter:innen waren es damals, jetzt | |
sind es um die 50. Das Team ist international, Arbeitssprache ist Englisch. | |
Chefredakteurin Olga Rudenko sagt: „Die zwei Jahre seit der Gründung sind | |
unglaublich schnell vergangen.“ Andererseits wirke es in der Rückschau wie | |
ein anderes Zeitalter. Das liege [3][natürlich am Krieg]. „Den haben wir | |
nicht so erwartet und das hat alles geändert.“ | |
Plötzlich musste sie sich nicht nur damit beschäftigen, wie man ein | |
Start-up in einer von Oligarchen geprägten Medienlandschaft aufbaut, | |
sondern mit Evakuierungsplänen, Stromgeneratoren und damit, wie | |
wahrscheinlich ein Nuklearschlag ist. „Ich hatte nicht erwartet, | |
Kolleg:innen an die Front zu schicken.“ Glücklicherweise sei bisher | |
niemand aus dem Team verletzt worden. Trotz allem Schrecken sei auch viel | |
Gutes in dieser Zeit passiert, sagt die 34-Jährige, die ursprünglich aus | |
der weiter östlich gelegen Industriestadt Dnipro stammt. Manche seien | |
resilienter als erwartet. „Wir haben Kolleg:innen, die früher | |
Restaurantkritiken geschrieben haben und nun Kriegsverbrechen | |
recherchieren.“ | |
## Unterstützung aus dem Ausland | |
Die großangelegte Invasion hat dem Kyiv Independent eine Menge | |
Aufmerksamkeit verschafft. In nur drei Tagen wuchs die Zahl der | |
Twitter-Follower von 30.000 auf eine Million. Inzwischen sind es mehr als | |
zwei Millionen. Das hat sich auch finanziell bemerkbar gemacht. „Als wir am | |
22. November 2021 die Webseite gestartet haben, hatten wir 34 Unterstützer | |
über Patreon“, sagt Rudenko. Patreon ist ein Social-Payment-Anbieter aus | |
den USA. „Heute sind es 8.000.“ Dazu kommen 2.000 Abonnenten, die direkt an | |
den Kyiv Independent zahlen. Zusammen bringe das ungefähr 64.000 Dollar im | |
Monat. | |
Dazu kommen Einzelspenden, Einnahmen aus Zweitverwertungen von Inhalten und | |
Förderungen für Projekte. Zum Beispiel hat Microsoft einen Dokumentarfilm | |
über Kriegsverbrechen gesponsert, und von der Unesco wurden Fördermittel | |
für die Fortbildung ukrainischer Journalist:innen eingeworben. Bei der | |
Gründung wurde Kyiv Independent von der Londoner Beratungsfirma Jnomics | |
unterstützt. Außerdem half ein Zuschuss von rund 150.000 Euro von der | |
kanadischen Regierung. | |
Gerade ist Rudenko aus Köln zurückgekehrt, wo sie und zwei weitern | |
ukrainische Journalistinnen den Hanns-Joachim-Friedrichs-Sonderpreis | |
verliehen bekommen haben. Auszeichnungen haben sie und Kyiv Independent | |
schon einige bekommen. Im Mai 2022 war sie auf dem Cover des Time Magazine | |
abgebildet. „Einen Krieg bezeugen“, steht daneben. Und dass ihr Medium eine | |
weltweite Nachrichtenquelle sei. „Diese Preise haben wir nicht erwartet, so | |
neu, wie wir sind“, sagt sie. „Wir sehen das als Verpflichtung an.“ Ihr | |
nachzukommen bedeutet, Hindernisse überwinden zu müssen. | |
In den zwei Jahren habe es drei riskante Momente für das Projekt gegeben: | |
die Gründung selbst, den Beginn der Invasion im Februar 2022 und den Sommer | |
und Herbst vergangenen Jahres, als sie gefühlt hätten, dass sie sich | |
etabliert haben. „Es wäre gefährlich gewesen, sich drauf auszuruhen.“ | |
Rudenko will das Profil des Mediums mit investigativer Recherche schärfen. | |
In einer Serie von Veröffentlichungen deckte das Team im Sommer 2022 | |
Selbstmordmissionen, Missbrauch und körperliche Bedrohungen in der | |
Internationalen Legion auf. Die Truppe wurde wenige Tage nach Beginn der | |
Invasion gegründet, um auch ausländischen Soldat:innen die Möglichkeit | |
zu geben, den ukrainischen Streitkräften beizutreten. | |
## Kritisch gegenüber der Regierung | |
Diese Berichterstattung war in Kriegszeiten ein gesellschaftlicher | |
Tabubruch und wurde doch von großen Teilen des Publikums bejubelt. „Das | |
Thema hat unsere Werte auf die Probe gestellt“, erinnert sich Rudenko. | |
„Aber wir sind keine Verlängerung der Regierungs-PR.“ Ohnehin hat auch | |
Rudenko persönlich mit Kritik an Präsident Wolodimir Selenski nicht | |
gespart: In einem Beitrag für die New York Times, der wenige Tage vor der | |
großen Invasion Russlands in die Ukraine veröffentlicht wurde, attestierte | |
sie ihm unzulängliche Bekämpfung der Korruption und falsche Prioritäten bei | |
öffentlichen Investitionen. | |
Die kritische Distanz zur Macht hat auch etwas mit einem Skandal zu tun, | |
der der Gründung des Kyiv Independent vorausging: Adnan Kivan, ein | |
schwerreicher Bauunternehmer, kaufte 2018 die traditionsreiche, | |
englischsprachige Wochenzeitung Kyiv Post und wollte in der Folge seinen | |
Einfluss auf redaktionelle Entscheidungen durchsetzen. Als die Redaktion | |
protestierte, entließ er über Nacht das gesamte Team und stellte die | |
Zeitung ein. Ihr Kern gründete die Kyiv Independent. | |
Einer von denen, die für den Kyiv Independent von der Front berichten, ist | |
Francis Farrell. Der 26-Jährige Australier ist eigentlich | |
Dokumentarfotograf und kannte die Ukraine schon aus einer Tätigkeit für die | |
OSZE und den Europarat. „Eine Woche vor der Invasion bin ich angekommen. | |
Das ist mein erster Job im Journalismus.“ Er fühle sich in der Ukraine zu | |
Hause. Und der Job beim Kyiv Independent sei für ihn das perfekte Match. | |
„Sie haben mir vertraut und ich weiß das zu schätzen.“ | |
Ungefähr einmal im Monat fahre er in das Kampfgebiet. Das erste mal im | |
Herbst 2022 im Donbas. „Ich habe mit den Soldaten gesprochen, wir wurden | |
mit Artillerie beschossen.“ Die Rückkehr sei jedes Mal ein seltsamer | |
Moment. Für die Soldaten sei der Kontrast zum zivilen Leben in Städten wie | |
Kyjiw natürlich noch größer. Es sei normal, dass die Menschen hier auch mal | |
Spaß haben wollen. „Problematisch wird es, wenn sie den Krieg vergessen und | |
nicht mehr helfen.“ Auch deshalb sei es für ihn wichtig, sich als | |
Fotojournalist selbst ein Bild zu machen. | |
7 Dec 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://kyivindependent.com/ | |
[2] /Krieg-in-der-Ukraine/!5838870 | |
[3] /Mobilisierung-in-der-Ukraine/!5978356 | |
## AUTOREN | |
Marco Zschieck | |
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