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# taz.de -- Geschichtsschreibung in der Ukraine: Den Krieg von unten sehen
> Ein Uni-Projekt in Lwiw sammelt Augenzeugenberichte in Russlands
> Angriffskrieg. Die Aufzeichnungen werden auf einer Plattform
> zusammengestellt.
Bild: Flüchtlinge im Kurbas Theater in Lviv
Luzk taz | In Lwiw werden Zeugenaussagen von Teilnehmern und Opfern des
Krieges mit Russland gesammelt. Die Ukrainische Katholische Universität
(UKU) in Lwiw hat das Freiwilligenprojekt „Kleine Geschichten des großen
Krieges“ gestartet. Es geht um Geschichten derjenigen, die
[1][Bombardierungen] durchlebt haben und sich von den Schrecken des Krieges
erholen, Augenzeugenberichte über Kriegsverbrechen und den Schmerz des
Verlustes. Die Idee entstand in den ersten Kriegstagen, als immer mehr
Flüchtlinge aus dem Osten, Süden und dem Zentrum der Ukraine nach Lwiw
kamen.
Die UKU versammelte eine Gruppe von Freiwilligen aus Lehrern, Arbeitern und
Studenten, die damit begannen, die persönlichen Aussagen der
Ukrainer*innen zu dokumentieren. Sie suchten in Notunterkünften,
Bahnhöfen und Freiwilligenzentren nach Protagonist*innen. „Manchmal
riefen Leute: ‚Frag mich nicht, es tut weh, sich zu erinnern‘, sagt die
Studentin Natalja Stareprawo. Sie hat sich Dutzender dieser Geschichten
angenommen.
Dem Team ist es gelungen, mehr als 100 Geschichten zu filmen, einige wurden
in andere europäische Sprachen übersetzt. Das Projektteam arbeitet nicht
nur in Lwiw, sondern reiste auch nach Irpin, Butscha, Kyjiw, Charkiw,
Saporischschja und Odessa. „Wir konzentrieren uns auf die Mikrogeschichte,
dokumentieren den Krieg ‚von unten‘. Anhand der Schicksale gewöhnlicher
Menschen und ihrer Reaktionen richten wir unser Augenmerk vor allem auf die
menschliche Dimension dieses Krieges“, sagt die Kuratorin des Projektes
Elena Dschedschora. „Ihre Geschichten über das Leben im Krieg, ihre Gefühle
und täglichen Aktivitäten, die einen kleinen Beitrag zum Sieg leisten,
dürfen nicht verloren gehen“, sagt Dschedschora.
Die Erinnerungen müssten aufgezeichnet werden, denn die Taten der Russen
deuteten auf einen Völkermord an den Ukrainer*innen hin, sagt Olesja
Isajuk, Doktorin der Geschichtswissenschaft. Das Projekt sei eine große
Datenbank mit vollständigen Originalinterviews, die eine Plattform für
Historiker werden soll. „Darüber hinaus geht es um Dokumente, die dazu
beitragen, Europäer*innen zu erreichen, die sich oft Illusionen über
den Moskauer Besatzer machen“, erläutert sie.
## Vom Theater zur Notunterkunft
Eine Geschichte ist die von Natalia Rybka-Parhomenko. Sie stammt aus
Charkiw, lebt jedoch seit 17 Jahren in Lwiw und arbeitet am Theater Les
Kurbas. Die Frau berichtet, wie das Theater zwei Tage nach Kriegsbeginn zu
einer Militärunterkunft für Flüchtlinge umfunktioniert und die Schauspieler
zu freiwilligen Helfern wurden. Sie sei hin- und hergerissen gewesen
zwischen der Hilfe für Geflüchtete in Lwiw und der Sorge um ihre Eltern in
[2][Charkiw]. Es habe Tage gegeben, an denen sie nur das Wort „Appell“ in
den Messenger geschrieben und als Antwort erhalten habe: „Wir leben noch.“
Ein weiterer Protagonist ist Alexander Jabtschanka. Er ist Kinderarzt und
zu Kriegsbeginn in den Krieg gezogen. Jetzt setzt er seine Fähigkeiten auf
dem Schlachtfeld ein: Er ist Sanitäter, Freiwilliger, Spendensammler,
Luftaufklärer und Infanterist. Oder Iwanka Kripjakewitsch-Dimid: Ehefrau
eines Priesters, Mutter von fünf Kindern, Freiwillige und Künstlerin. Ihre
Geschichte ist die einer Frau, die ihr Kind im Krieg verloren hat. Ihr
Beispiel hilft anderen Müttern, mit dem Schrecken des Verlustes umzugehen.
Das Interview wurde am 5. Juli 2022 aufgezeichnet, 17 Tage nach dem Tod
ihres Sohnes Artjem an der Front.
Unter den Geschichten sind auch solche, die mit später verstorbenen
Menschen aufgezeichnet wurden. Dmitri Paschtschuk meldete sich freiwillig
zum Krieg und kämpfte im Spezialeinsatzzentrum. „Der Franzose“ (sein
Kampfname) befreite Cherson und glaubte an den Sieg, dachte aber stets an
den hohen Preis, den das ukrainische Volk dafür zahlte. „Wir tragen jetzt
ein Kreuz und es ist schwer, den Tod der besten Menschen zu akzeptieren.
Aber diese Menschen verlassen uns nicht. Sie hinterlassen bedeutende
Spuren“, sagte Paschtschuk in seinem Interview. Kurz darauf wurde er von
einer Kamikadze-Drohne tödlich getroffen.
Aus dem Russischen Barbara Oertel
18 Jan 2024
## LINKS
[1] /Hochzeit-in-bombardierter-Ukraine/!5844851
[2] /Russische-Luftangriffe-auf-die-Ukraine/!5980071
## AUTOREN
Juri Konkewitsch
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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Russland
Swoboda-Partei
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