# taz.de -- Asylunterkünfte in den Niederlanden: Am Puls der Angst | |
> Wer in den Niederlanden Asyl beantragen will, muss sich in Ter Apel | |
> registrieren lassen. Warum der kleine Ort das Unbehagen des ganzen Landes | |
> verkörpert. | |
Bild: Klinker, Kanal und Geert Wilders, der auch mal vor „ausländischen Eind… | |
TER APEL taz | Wenn in niederländischen Schlagzeilen mal wieder „Ter Apel | |
ist voll“ steht, ist nicht das Dorf im äußersten Nordosten der Niederlande | |
gemeint, das nur ein paar Kilometer von der deutschen Grenze liegt. Gemeint | |
ist das Anmeldezentrum für Asylbewerber*innen. Wer in den Niederlanden | |
Zuflucht sucht, muss sich hier registrieren lassen. Etwa 2.000 Personen | |
kann die angeschlossene Unterkunft beherbergen. Aber häufig reicht die | |
Kapazität nicht aus, und dann müssen Menschen auf dem Boden vor dem Zentrum | |
übernachten. Im Sommer 2022 waren es mehrere Hundert. | |
Nun braucht Eric van der Burg, der Staatssekretär für Asyl, Platz für 4.000 | |
Personen bis zum Jahresende. Und das ist ein Problem, denn voll fühlt man | |
sich nicht nur in Ter Apel, sondern auch im Rest des Landes. Acht von zehn | |
Teilnehmende einer [1][Umfrage im November] forderten, weniger | |
Asylbewerber*innen ins Land zu lassen. | |
„Voll ist voll“, hieß es in einer Videoansprache von Geert Wilders, bevor | |
dessen Partij voor de Vrijheid (PVV) im [2][November die Parlamentswahlen | |
gewann]. Er warnte vor Asylsuchenden, die auf Luxusschiffen untergebracht | |
würden, mit „gratis Heizung“ und medizinischer Versorgung, während | |
Einheimische jahrelang auf eine Wohnung warteten und kaum die Energiekosten | |
stemmen könnten. | |
In diesem Klima ist der Name Ter Apel ein mit Symbolik überladenes | |
Zerrbild: Projektionsfläche für Überfremdungsängste, Argument in einem | |
Diskurs, dessen Ton immer aggressiver wird, und nicht zuletzt Drohung, dass | |
es so wie dort „auch bei Ihnen in der Nähe wird“, wie Wilders in besagtem | |
Video prophezeit. Der vermeintliche Grund: ein geplantes Gesetz, mit dem | |
die Regierung Kommunen verpflichten kann, Unterkünfte für | |
Asylbewerber*innen bereitzustellen – oder, im Wilders’schen Duktus, | |
„ausländische Eindringlinge“ unterzubringen. | |
## Asylsuchende als Freiwillige | |
Dafür, dass diese Botschaft in großem Stil Anklang findet, hat die Syrerin | |
Jude durchaus Verständnis. „Die Leute hier haben das Recht, erschrocken zu | |
sein. Sie empfangen Menschen in ihrem sicheren Land, die sie nicht kennen. | |
Es ist verständlich, dass sie Angst haben. Ich würde auch nicht einfach so | |
Unbekannte in mein Haus lassen.“ | |
Jude, „so wie ‚Hey Jude‘ von den Beatles“, ist 31, stammt aus Aleppo und | |
beantragte vor fünf Monaten in den Niederlanden Asyl. Sie selbst ist nicht | |
in Ter Apel untergebracht, engagiert sich aber als Freiwillige bei der | |
Behörde COA, zuständig für die Unterkünfte von Asylsuchenden. | |
An einem schneidend kalten Mittag im Dezember steht Jude mit blauer | |
COA-Weste und pastellroter Mütze am Bahnhof des Provinzstädtchens Emmen, | |
über das der [3][Weg nach Ter Apel zwangsläufig führt]. Ankommende sehen | |
hier als Erstes ein Schild, das zum Bus in Richtung „AZC“ weist, dem | |
asielzoekerscentrum, und gleich danach Jude, die auf alle zugeht, die | |
aussehen, als suchten sie etwas – „auch auf eine alte niederländische Dame, | |
wenn sie Hilfe braucht“. | |
Judes Mann und ihr Sohn sind noch in Aleppo. Wenn ihr Status geklärt ist, | |
will sie ihre Familie nachkommen lassen. So sehr sie die Bedenken der | |
Niederländer*innen versteht: Dass die PVV die Wahlen haushoch gewonnen | |
hat, macht sie „ein bisschen nervös“. | |
Auf dem Weg nach Ter Apel fährt der Bus an einem schnurgeraden Kanal | |
vorbei, dahinter Häuser aus rotem Klinker, braunem Klinker, dunstige Felder | |
mit den Regen-Pfuhlen dieses Spätherbsts. Im Bus wird geschwiegen. Die | |
Starre dieses Bilds steht im Kontrast zu den derzeitigen Turbulenzen rund | |
um das Thema Ter Apel. | |
## Lage nicht unter Kontrolle | |
Der Inspektionsdienst des Justizministeriums schlägt Alarm: Das | |
Aufnahmezentrum ist so überfüllt, dass weder der Brandschutz gewährleistet | |
ist noch die grundlegendsten Bedürfnisse der Bewohner*innen. Immer häufiger | |
käme es zu Gewalt, das COA könne die Lage nicht mehr kontrollieren, heißt | |
es in einem Bericht. | |
Die Regierung in Den Haag, die von hier aus sehr weit weg erscheint, sucht | |
unterdessen händeringend nach Notunterkünften. Gut 1.300 Personen können in | |
Hotels unterkommen, heißt es Mitte Dezember. 200 weitere werden jeden Abend | |
zum Schlafen in ein Dorf nahe Ter Apel gefahren. Der Staatssekretär ruft | |
die Kommunen zur Hilfe auf, wie so oft. Doch schon seit Jahren regt sich an | |
immer mehr Orten Protest, wenn in der Nähe ein asielzoekerscentrum | |
aufmacht. Der Slogan „AZC nee“ schallt schon seit der Flüchtlingskrise 2015 | |
durchs Land. Dass die Regierung die Solidarität jetzt erzwingen will, | |
verstärkt die Wut. | |
Der Wahlsieg der Rechtspopulisten macht die Lage noch zusätzlich brisant: | |
Obwohl das Parlament das Gesetz im Oktober annahm, rufen sie mit anderen | |
Rechts-Parteien den Senat dazu auf, die fällige Abstimmung im Januar | |
aufzuschieben. Maarten Winkel kann darüber nur den Kopf schütteln. „Ich | |
weiß nicht, ob den Menschen hier klar ist, dass gerade die Parteien, die | |
sie gewählt haben, Ter Apel im Stich lassen“, so der 30-jährige Angestellte | |
der Gemeinde Westerwolde, zu der das Dorf gehört. Dort haben 33 Prozent die | |
PVV gewählt, in vier der fünf Wahlbüros des Dorfes gar mehr als 40 Prozent. | |
Rechts wählen habe durchaus Tradition in Ter Apel, erzählt Winkel, der 20 | |
seiner 30 Lebensjahre hier verbracht hat und nach dem Studium aus Groningen | |
zurückkam – „Aber nicht so wie diesmal!“ Er steht auf dem Marktplatz, der | |
Fisch-Schreier preist seine Ware an, vom Hühner-Grill ziehen Schwaden | |
herüber. Ob seinen Dorfgenossen die Symbolik dieses Orts bewusst ist, und | |
dass sich im ganzen Land bange Augen auf Ter Apel richten? „Die Leute hier | |
haben eher das Gefühl, das ganze Land habe sie vergessen.“ | |
Die Überzeugung, nicht dazuzugehören, dass das politisch, kulturelle und | |
wirtschaftliche Zentrum im Westen der Niederlande einen vernachlässige, | |
dieses [4][Gefühl trifft man an der Peripherie häufig an]. Auch in Ter | |
Apel, im strukturschwachen Osten der Provinz Groningen, nicht wohlhabend | |
und das auch ausstrahlend. Dort vermischt es sich zudem mit dem Gefühl, mit | |
einem nicht funktionierenden Asylsystems allein dazustehen. | |
## BPT – eine Art Bürgerwehr in den Niederlanden | |
Dabei spielt weniger eine Rolle, dass sich im ganzen Land Kommunen | |
sträuben, Unterkünfte für Bewerber*innen einzurichten, dass zahlreiche | |
frühere geschlossen wurden oder dass wegen des Wohnungsmangels viele | |
Menschen, die anerkannt wurden, noch immer in Asyl-Zentren wohnen. Solche | |
Details verschwinden gegenüber der rabiaten Rhetorik eines Wilders, in | |
dessen Windschatten sich ein Konsens bis weit in die Mitte der Gesellschaft | |
gebildet hat. Gehör verschafft er sich in Parolen wie „Voll ist voll“. | |
Im Dorf Ter Apel ist die Atmosphäre angespannt, immer wieder kommt es zu | |
Ladendiebstählen durch Bewohner*innen des Zentrums, auch von Einbrüchen | |
wird berichtet. Auch Maarten Winkel sagt: „Ich bin froh, dass ich hier | |
keinen Laden betreibe.“ Rund um das Einkaufszentrum patrouilliert | |
inzwischen die BPT, eine Art Bürgerwehr, die sich | |
„Nachbarschafts-Präventionsteam“ nennt. Landesweit bekannt wurde sie durch | |
mehrere gewalttätige „Verhaftungen“ vermeintlicher Diebe. | |
An diesem Nachmittag im Dezember sind die Patrouillen unauffindbar. Ein | |
Mann mittleren Alters, der aus einem Discountsupermarkt kommt, zückt | |
hilfsbereit sein Telefon. „Ich kenne jemand vom BPT.“ Doch der Anruf bringt | |
nichts ein. „Sie wollen nicht mit Medien reden“, berichtet er. „Da werden | |
Dinge verdreht, und dann entsteht ein seltsamer Eindruck.“ | |
Der Gründer der Bürgerwehr heißt Harry Siemers und ist Mitglied der PVV | |
Westerwolde. Auf der Partei-Website schreibt er, seine Truppe sei „wegen | |
Mangel an Polizei in unserer Gemeinde“ nötig. | |
So schlägt in Ter Apel laut und vernehmlich der Puls der Angst. Sein Echo | |
tönt durchs ganze Land. Noch immer sucht der Staatssekretär nach | |
Unterkünften. Noch immer weigern sich Kommunen, noch immer wollen die | |
rechten Parteien, die nun über eine Koalition verhandeln, das ungeliebte | |
Gesetz aufschieben, bis eine neue Regierung gefunden ist. Am selben | |
[5][Abend wird in Den Haag Martin Bosma], der Partei-Ideologe der PVV mit | |
Hang zur Verschwörungserzählung des „Großen Austauschs“, zum | |
Parlamentsvorsitzenden gewählt. | |
27 Dec 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://eenvandaag.avrotros.nl/item/8-op-de-10-kiezers-willen-asielinstroom… | |
[2] /Rechtsruck-in-Niederlanden/!5974954 | |
[3] /Lage-Asylsuchender/!5873686 | |
[4] /Migrationspolitik-in-den-Niederlanden/!5943320 | |
[5] /Nach-der-Wahl-in-den-Niederlanden/!5981495 | |
## AUTOREN | |
Tobias Müller | |
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