# taz.de -- Projekt für Jugendliche in Göttingen: Eine Frage des Respekts | |
> Das Göttinger Projekt „Brothers“ will Reflexionen über Begriffe wie Ehr… | |
> Respekt und Gewalt anzuschieben – nicht nur für migrantische Jugendliche. | |
Bild: Nah an der Zielgruppe: Sozialarbeiter Ferit Kılıc (rechts) ist immer gu… | |
GÖTTINGEN taz | Die Geschichte, wie er zu den „Brothers“ kam, erzählt Fer… | |
Kilic immer wieder gern. Er war über eine Ausschreibung gestolpert, in der | |
Teamleiter für die Arbeit mit migrantischen Jugendlichen gesucht wurden. | |
Und dachte bei der Projektbeschreibung sofort: Das ist es. Das will ich | |
machen. Er schrieb eine Bewerbung, brachte sie direkt ins Büro der Bonveno | |
Göttingen gGmbH und sagte: „Hier bin ich, ihr braucht nicht weiter zu | |
suchen.“ | |
Dabei ist Ferit Kilic nicht einmal Sozialarbeiter. Der 32-Jährige hat | |
Veranstaltungskaufmann gelernt. Er ist chronisch gut gelaunt („Ich habe | |
maximal an zwei Tagen im Monat schlechte Laune“), trägt Sneaker, Hoodie, | |
einen sorgsam gestutzen Bart und Undercut, Gel im schwarzen Haar. | |
Damit ist er ein [1][Prototyp dessen, was man mittlerweile als „migrantisch | |
gelesen“] beschreibt. Klar, sagt er, hat er diese Fragen alle durch: Was | |
bin ich denn nun eigentlich? Deutscher? Türke? Keins von beiden? Beides? | |
Mittlerweile beantwortet er die Frage, woher er kommt, nicht mehr so | |
einfach, sagt er. Selbst wenn sie von den Jungs kommt. Er fragt zurück: | |
„Warum fragst du? Warum ist das wichtig?“ | |
Die Arbeit mit und an der eigenen Biografie, die Nähe zur Zielgruppe, ein | |
bisschen pädagogisches Talent – das ist für dieses Projekt wichtiger als | |
eine einschlägige Vorbildung. Auch wenn Kilic mittlerweile angefangen hat, | |
berufsbegleitend Soziale Arbeit zu studieren. | |
## Orientiert am preisgekrönten „Heroes“-Projekt | |
Wer Kilic einmal mit den Jungs erlebt hat, ahnt: Für das Brothers-Projekt | |
ist er ziemlich sicher eine Idealbesetzung. Die Idee dahinter ist nicht | |
ganz neu. Sie orientiert sich an dem viel besprochenen, preisgekrönten | |
Präventionsprojekt „Heroes“, das ursprünglich aus Berlin kommt und | |
mittlerweile in etlichen anderen Großstädten Fuß gefasst hat. Die Heroes | |
unterstützen auch die Ausbildung der Teamleiter. | |
Kurz gefasst sollen in diesem Projekt ältere Jungs mit jüngeren Jungs das | |
besprechen, was oft ein interkulturelles Minenfeld ist: Fragen rund um | |
Ehre, Respekt, Gleichberechtigung, Identität, Toleranz und Gewaltfreiheit. | |
In Göttingen sucht man nach Wegen, dieses Konzept auch außerhalb der großen | |
Ballungszentren umzusetzen. Und wenn „Heroes“ aufs Land ziehen, werden sie | |
eben zu „Brothers“. | |
Die taz durfte bei einem Gruppentreffen mit drei angehenden Brothers dabei | |
sein. Es ist ein später Dezembernachmittag im alternativen | |
Veranstaltungszentrum Musa in Göttingen. Eigentlich ist die Gruppe größer, | |
aber so kurz vor den Weihnachtsferien und bei den grassierenden | |
Krankheitswellen bröckelt die Teilnahme schon einmal. | |
Gekommen sind Saad (19), Renis (16) und Ahmad (15). Saad ist erst vor ein | |
paar Jahren mit seiner Familie hierher geflüchtet, die anderen beiden sind | |
hier aufgewachsen. Sie sind in genau der Phase, wo es für viele Jungs | |
schwierig wird – noch nicht so richtige Männer, aber eben auch keine Kinder | |
mehr. Und schon mit einer Statur ausgestattet, bei der manche Menschen auf | |
wachsam schalten – vor allem, wenn sie in Gruppen unterwegs sind. | |
## Diskutieren über Werte und Einstellungen | |
„Nee, ich grüße so alte Leute nicht mehr, die gucken mich immer komisch an, | |
als wollte ich was von denen“, wird Renis später sagen, als es um | |
Höflichkeit geht. „Na und?“, gluckst Saad, „musst du trotzdem machen.“ | |
Jetzt helfen sie dem Teamleiter Ferit Kilic aber erst einmal, Snacks und | |
Getränke rüber zum Gruppentisch zu schleppen, allen einzuschenken, Kuchen | |
zu verteilen. Auch das gehört zum Konzept: Eine Willkommens-Atmosphäre zu | |
schaffen, in der sich jeder wohlfühlt – und ganz nebenbei zu vermitteln, | |
dass diese Art von Fürsorge nicht zwangsläufig Frauenarbeit sein muss. | |
Das Projekt zielt im Grunde auf drei Zielgruppen: Da sind zum einen die | |
Jugendlichen, die zu „Brothers“ ausgebildet werden. Über ein bis zwei Jahre | |
hinweg setzen sie sich unter der Anleitung von Teamleitern wie Ferit Kilic | |
jede Woche zusammen und diskutieren über Wertvorstellungen, Einstellungen, | |
aber auch alltägliche Probleme. Am Ende sollen sie als Multiplikatoren | |
wirken. Zusammen mit den Teamern gehen sie in Schulen und geben Workshops, | |
um [2][in den Schulklassen] ähnliche Reflektionsprozesse anzustoßen. Für | |
Fachkräfte wie Lehrer, Erzieher und Sozialarbeiter werden eigene | |
Fortbildungen angeboten. | |
Bevor es beim wöchentlichen Treffen der angehenden Brothers inhaltlich zur | |
Sache geht, fragt Kilic, wie ihre Woche war. „Normal“, sagen Saad und | |
Ahmad, das Übliche halt: Schule, Zocken, Sport.Aber Renis platzt fast: „Ich | |
hab ein Problem. Ich hatte schon wieder Ärger in der Schule. Alter, ich | |
halt das nicht mehr aus. Immer kommen die zu mir, immer bin ich schuld. Ich | |
bin voll ausgerastet.“ Es braucht ein paar Schleifen und Nachfragen, bis | |
Kilic sich ein Bild davon zusammengebastelt hat, was passiert ist. | |
Offenbar hat jemand in der Schule einen Tisch ins Treppenhaus geworfen. | |
Einen schweren Tisch und während des Schulbetriebs. Vandalismus, und zwar | |
kein ganz ungefährlicher. Und weil Renis und sein Kumpel Ahmad nun einmal | |
als Unruhestifter bekannt sind, fiel der Verdacht schnell auf sie. Vier, | |
fünf Lehrer hätten am Ende auf ihn eingeredet, beschreibt Renis die | |
Situation. Und überhaupt nicht zugehört. Da sei er halt ausgerastet und | |
habe die angebrüllt. Und dann seinen Vater und seinen Bruder angerufen. | |
Wieder und wieder kaut Kilic die Situation mit Renis durch. „Okay. Ich | |
glaube dir, dass du es nicht warst. Aber kannst du dir vorstellen, warum | |
die auf diese Idee kommen?“ Ja, räumt Renis mit einem Seitenblick auf die | |
Reporterin ein, „ich war früher schon schlimm. Richtig schlimm. So fünfte | |
und sechste Klasse.“ Sein Freund Ahmad schnaubt. „Na gut, siebte und achte | |
auch.“ | |
Aber dieses Mal, schwört er, ist er es nicht gewesen. „Okay, okay“, sagt | |
Kilic immer wieder, „ich glaube dir ja.“ Und dann sagt er etwas, bei dem | |
sich den meisten Lehrern wahrscheinlich die Nackenhaare sträuben: „Es ist | |
auch richtig, dass du dir Unterstützung holst, wenn du das Gefühl hast, die | |
reden da zu viert auf dich ein und du wirst nicht gehört.“ „Aber“, schie… | |
er nach, „warum hast du nicht deine Mutter angerufen?“ Renis stutzt. „Die | |
hat doch keine Zeit.“ | |
„Immerhin“, meint Kilic, „hast du versucht, das zu klären. Du hast gesag… | |
dass du das ungerecht findest. Noch vor einem Jahr wärst du handgreiflich | |
geworden oder abgehauen. Das ist doch ein Fortschritt, oder? Ich bin stolz | |
auf dich.“ Renis kratzt sich verlegen am Kopf. „Na ja“, brummt er. | |
Diese Szene ist natürlich nur ein winziger Ausschnitt. Aber sie zeigt | |
ziemlich gut, was ein wesentlicher Bestandteil des Projekts ist. Um es im | |
Pädagogendeutsch der Camino gGmbH zu sagen, die das Projekt im Auftrag der | |
Stiftung Deutsches Forum für Kriminalprävention ausführlich evaluiert hat: | |
„Die Teilnehmer sind besser als früher in der Lage, Emotionen zu | |
verbalisieren und Bedürfnisse zu artikulieren.“ | |
## Der richtige Ton für die wichtigen Themen | |
Die Grundbedingung dafür ist das grundsätzliche Wohlwollen, mit dem Kilic | |
„seinen“ Jungs begegnet. Er trifft den richtigen Ton, er versteht, wie sie | |
ticken. Und sie danken es ihm mit großem Vertrauen. Das braucht es auch, | |
wenn es dann ans Eingemachte geht und die Themen diskutiert werden, bei | |
denen man unterschiedliche Haltungen hat: Homosexualität zum Beispiel. Oder | |
ob die Schwester einen Freund haben darf. | |
Grundsätzlich gilt: Alles darf gesagt werden. Weil nur das, was auf dem | |
Tisch liegt, auch bearbeitet werden kann. Die Jungs müssen lernen, konträre | |
Positionen auszuhalten, zu argumentieren und zu reflektieren. „Wir | |
diskutieren echt kontrovers. Manchmal provoziere ich die auch hart. Wir | |
haben uns auch schon angeschrien“, erzählt Kilic. | |
Erst wenn sie das durch haben und zertifizierte Brothers sind, dürfen sie | |
mit den Teamleitern in die Schulworkshops gehen. Da sollen sie das | |
weitergeben, was sie gelernt haben. In kleinen Rollenspielen werden die | |
Themen aufbereitet und anschließend in der Klasse diskutiert. Lehrer müssen | |
draußen bleiben. | |
An diesem Nachmittag halten sich aber alle zurück, so unter | |
Pressebeobachtung. Es geht um das Thema „Respekt“. [3][Was ist das | |
eigentlich?], fragt Kilic. „Na ja, so halt anständig reden, ne?“, versuchen | |
sich die Jungs an einer Definition. Irgendwas mit höflich sein und „Sie“ | |
sagen, vermuten sie. | |
„Aha“, sagt Kilic. „Sonst nichts? Wie ist das zum Beispiel mit deinem | |
Vater. Hast du Angst vor dem oder Respekt? Gibt es da einen Unterschied? | |
Wirst du respektiert? Von deinen Klassenkameraden zum Beispiel? Muss man | |
jemanden kennen, um ihn zu respektieren? Respektiert man Fremde anders als | |
Freunde?“ | |
Wieder und wieder bohrt er nach. Fragt nach Beispielen, macht neue Aspekte | |
auf. Den Jungs fällt es gar nicht so leicht, das alles zu beantworten. | |
Irgendwann fangen sie an zu kaspern, rumzurangeln, zu kichern. Kilic merkt | |
sofort, wenn die Luft raus ist. Er schließt das Thema ab, ohne es wirklich | |
zu beenden. „Reden wir nächstes Mal weiter drüber.“ Auch das ist wichtig … | |
diesem Konzept, sagt er: „Wir schreiben niemandem vor, was er zu denken | |
hat. Ich liefere keine fertigen Antworten. Sie sollen ihre eigenen | |
Positionen formulieren und hinterfragen.“ | |
## Niedersächsischen Sozialpreis gewonnen | |
Respekt, sagt Projektleiterin Julia Pfrötschner, sei so ein Schlagwort, das | |
auch in den Workshop-Anfragen aus den Schulen immer eine Riesenrolle | |
spiele. Was genau damit gemeint ist, sei oft genauso diffus wie die ersten | |
Definitionsversuche der Jungs. | |
Workshop-Anfragen hat das Projekt jedenfalls mehr, als es bewältigen kann. | |
Da ergeben sich mit dem Zug aufs Land auch noch einmal ganz andere | |
Schwierigkeiten, haben sie festgestellt. Die erste Brothers-Gruppe gab es | |
in Hann. Münden im Landkreis Göttingen. Die Jungs vom eigenen | |
Schulunterricht zu befreien und für die Workshops an andere Schulen zu | |
bugsieren, ist manchmal gar nicht so einfach. | |
Aber das Projekt hat schon so einige Herausforderungen bewältigt. Die | |
Coronapandemie funkte ihnen voll dazwischen, der zweite Teamleiter neben | |
Ferit Kilic zog weg, die Förderung aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds | |
(ESF) im Bereich „Soziale Innovation“ lief nach zwei Jahren aus. | |
Julia Pfrötschner ist trotzdem zuversichtlich. Sie haben den | |
niedersächsischen Sozialpreis gewonnen und eine durchweg positive | |
Evaluierung erhalten. Mittlerweile wird das Projekt von der Stadt und dem | |
Landkreis Göttingen finanziert – wenn auch nicht im gleichen Umfang wie | |
vorher. Pfrötschner versucht, das Konzept an Nachahmer in anderen Städten | |
zu vermitteln. Das Interesse ist in jedem Fall riesig, die Umsetzung | |
manchmal nicht ganz einfach. Vor allem, weil man halt erst einmal so | |
jemanden wie Ferit Kilic finden muss. | |
Korrektur: Wir hatten ursprünglich geschrieben, die Anschubfinanzierung für | |
das Projekt sei durch das Niedersächsische Sozialministerium erfolgt. Das | |
ist nicht der Fall. Sie wurde aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds | |
(ESF) im Bereich „Soziale Innovation“ über das Niedersächsische Ministeri… | |
für Bundes- und Europaangelegenheiten und Regionale Entwicklung gefördert. | |
11 Jan 2024 | |
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## AUTOREN | |
Nadine Conti | |
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