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# taz.de -- Studie zu Meinungsfreiheit: Gefühle sind keine Tatsachen
> Auf den Satz „Man darf ja gar nichts mehr sagen“ folgen oft Salven
> ungefragter Meinungsäußerungen. Das ist ein Selbstwiderspruch – und
> blöder Quatsch.
Bild: Meinungsfreiheit in Deutschland ist ein hohes Gut
Jetzt ist es auch bei meinen Freunden so weit: „Man kann heute nicht mehr
sagen, was man denkt“, sagte ein Freund neulich bei einem zunächst
wunderbaren Treffen. Wir saßen am warmen Kamin bei Kaffee und Kuchen, ein
launiger Adventssonntag.
Doch dann kam der Freund mit diesem Satz um die Ecke. Er hatte ihn noch gar
nicht zu Ende gesprochen, da leierte ich schon mit den Augen: Nein, bitte,
nicht, nicht solche Debatten jetzt auch noch im Freundeskreis. Es reicht
schon, wenn ich so was auf Social Media lesen und in der Straßenbahn hören
muss. Und nun zeigt eine Umfrage der Meinungsforschungsinstitute Allensbach
und Media Tenor, dass 44 Prozent der Menschen in Deutschland glauben, mit
[1][freien Meinungsäußerungen] vorsichtig sein zu müssen.
Meine Freund:innen, da war ich sicher, marschieren in dem Trott
unreflektierter Medien- und Politik-Kritiker:innen nicht mit. „Nicht
dein Ernst, echt jetzt?“, fauchte ich den Freund an.
Er könne sich mit seinen Kolleg:innen nicht mehr offen über
Flüchtlings-, Klima-, Bildungspolitik unterhalten, sagte er. Er legte sich
mit ihnen bis vor kurzem über die Gen Z an, übers Autofahren, übers
Gendern. Jetzt aber schweige er lieber. „Weil sie mich schneiden, wenn ich
etwas sage, was nicht ihrer Meinung entspricht“, sagte er. Um dann
hinterherzuschieben: „Aber ich werde trotzdem immer wieder sagen, was ich
denke.“
## Gefühlte Wahrheit und tatsächliche Realität
Ich leierte erneut mit den Augen und konterte: „Du widersprichst dir selbst
und merkst es nicht einmal.“ Dieser Moment offenbart die Kluft, in der
viele dieser selbstverordneten Leisetreter:innen – vermutlich komplett
unbewusst – hängen: zwischen gefühlter Wahrheit und tatsächlicher Realitä…
Es mag so müßig wie nötig sein zu betonen, dass Meinungsfreiheit in
Deutschland nicht nur ein hohes Gut, sondern verfassungsrechtlich gesichert
ist. Wäre es nicht so bitter, könnte man laut lachen, wenn erneut jemand
[2][auf X], Facebook oder Instagram herausposaunt: „Das wird man ja wohl
noch sagen dürfen!“
Der aktuelle Umfragewert, der eine Gefühlslage und keine Tatsachen
widerspiegelt, steht in krassem Gegensatz zu den Zahlen von 1990: Kurz nach
dem Mauerfall glaubten 78 Prozent der Menschen hierzulande, frei ihre
Meinung äußern zu können.
Was ist los seitdem? Und vor allem: Was ist im Osten passiert?
Dort ist die Skepsis gegenüber dem freien Wort größer als im Westen.
Müssten nicht gerade Ostdeutsche mit ihrer Erfahrung für laut geäußerte
Kritik am einstigen Staat, am damaligen Regierungschef Erich Honecker, am
kruden Überwachungssystem Meinungsfreiheit besonders wertschätzen?
## Vergessen der eigenen Vergangenheit
Manch einer musste sich wegen eines unbedarften systemkritischen Witzes vor
der SED-Parteileitung rechtfertigen, zahlreiche Dissidenten wanderten,
bevor sie in den Westen abgeschoben wurden, zunächst in den Stasi-Knast.
Oder anders gesagt: Wenn es irgendwo keine Meinungsfreiheit gab, dann in
der DDR. So wie sie es heute nicht [3][in Russland] gibt, nicht in
Nordkorea, Iran, Afghanistan, China, Saudi-Arabien.
Ihre Vergangenheit haben viele Ostdeutsche offenbar vergessen. So wie nicht
wenige Westdeutsche die Demokratie, die sie immer getragen hat, aktuell
augenscheinlich geringschätzen. Die globale rechtsextreme
Propagandamaschine, die über eigene Plattformen und über Social Media
ungehindert senden kann, hat offenbar ganze Arbeit geleistet. Dem kann man
vermutlich nur mit Meinungsfreiheit begegnen.
„Stell dich doch mal in Moskau auf den Roten Platz und ruf ganz laut: Putin
ist Scheiße“, schlug ich meinem Freund vor. „Dann werde ich doch
verhaftet“, sagte er. „Könnte schon sein“, sagte ich: „Dann reden wir …
mal über Meinungsfreiheit.“
22 Dec 2023
## LINKS
[1] /Debatte-um-Meinungsfreiheit/!5641494
[2] /Meinungsfreiheit-im-Netz/!5865051
[3] /Willkuer-in-Russland/!5929033
## AUTOREN
Simone Schmollack
## TAGS
Schwerpunkt Ostdeutschland
DDR
Meinungsfreiheit
Studie
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Jordanien
Meinungsfreiheit
Verschwörungsmythen und Corona
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Wer aber Lügen als Tatsachen hinstellt, kann sich nicht auf sie berufen.
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