Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Meinungsfreiheit im Netz: Gut gemeinte Zensur
> Wenn Demokratien die Meinungsfreiheit einschränken, um Extremisten
> zurückzudrängen, verraten sie auch einen Teil der Werte, die sie schützen
> wollen.
Bild: Illustration: Katja Gendikova
Elon Musk hat seinen optimistischen Traum, Twitter wieder zur Speerspitze
des Kampfs um Meinungsfreiheit zu machen, aufgegeben. Aber der Versuch hat
gezeigt, wie zurückhaltend, ja panisch die Eliten in den liberalen
Demokratien der Idee gegenüberstehen, jedem mittels der sozialen Medien
eine Stimme zu geben.
In den vergangenen fünf Jahren hat das Erschrecken über die ungezügelten
Umgangsformen in den sozialen Medien dazu geführt, dass immer mehr
gesetzliche Schranken gegen illegale und „gefährliche“ Inhalte errichtet
wurden. Eine zentrale Kontrolle von Informationen und Meinungen greift aber
nicht nur immer stärker in unser wesentlichstes demokratisches Grundrecht
ein, sondern sie könnte am Ende die Gegner der liberalen Demokratie eher
stärken als schwächen.
Das Verhältnis zwischen Demokratien und sozialen Medien begann einmal als
Liebesaffäre. Demokratien bejubelten das Potenzial, die Mauern des
Autoritarismus in manchen Ländern einzureißen und benachteiligten Bürgern
im eigenen Land eine Stimme zu geben. Aber die dunkle Seite der sozialen
Medien wurde in den folgenden Jahren immer deutlicher sichtbar. Früher war
das Publikum für Rassisten und Antisemiten außerhalb ihres lokalen Umfelds
sehr begrenzt. Kaum eine Redaktion der traditionellen Medien war bereit,
hasserfüllte Ansichten zu veröffentlichen.
Der Aufstieg zentralisierter Plattformen gab Rassisten jedoch die
Möglichkeit, Hass und Hetze zu koordinieren und Minderheiten zu
attackieren, die sonst niemals mit einer Nazibroschüre oder einem obskuren
Blog von Verfechtern einer Überlegenheit weißer Menschen konfrontiert
worden wären. In einigen Fällen nutzten gewaltbereite Rechtsextremisten
soziale Medien sogar, um Massenmorde live zu übertragen.
## Unterdrückung abweichender Meinungen
Frauenhasser fanden nicht nur Gleichgesinnte, sondern auch eine aufmerksame
Öffentlichkeit, wenn sie Frauen belästigten, beschimpften und beschämten
und sie in Angst versetzten. Dschihadisten verachteten die Meinungsfreiheit
von Karikaturisten, Ungläubigen und Abtrünnigen, aber terroristische
Gruppen wie der IS nutzten enthusiastisch die sozialen Medien, um mit
raffinierten Propagandavideos von abgetrennten Köpfen Furcht und Schrecken
zu verbreiten und Anhänger zu rekrutieren.
Als Donald Trump 2016 auch dank Twitter zum mächtigsten Mann der Welt
aufstieg, waren die sozialen Medien – so war man sich weitgehend einig – zu
einer Gefahr für die Demokratie geworden. Aber demokratische Regierungen
sind nicht machtlos gegen die Verstärkung von Hass und Falschinformationen.
Sie können Facebook, YouTube und Twitter dazu zwingen, illegale sowie
rechtmäßige, aber verabscheuungswürdige Inhalte zu löschen. Möglicherweise
können Plattformen sogar als private Vollstrecker der Regierungszensur
fungieren und so ihr Versprechen einer egalitären und unvermittelten
Redefreiheit auf den Kopf stellen.
Im Jahr 2016 einigten sich die Europäische Kommission und eine Reihe großer
Technologieunternehmen, darunter Facebook, Twitter und Google, auf einen
freiwilligen Verhaltenskodex zur Bekämpfung illegaler Hetze. 2018 kamen
Regeln zur Verhinderung von Desinformation dazu. In Wirklichkeit konnten
die Technologieunternehmen dieses Angebot aus Brüssel gar nicht ablehnen:
Die Alternative wären rechtsverbindliche Vorschriften gewesen. Diese
unverbindlichen Instrumente reichten jedoch nicht aus, um alle europäischen
Regierungen zu besänftigen.
Deutschland hat eine lange und komplizierte Geschichte der konzertierten
Unterdrückung abweichender Meinungen, die die Grundwerte der Gesellschaft
und die Kontrolle der Eliten über Informationen infrage stellen. Die
Beispiele reichen von den Karlsbader Beschlüssen von 1819 über Bismarcks
Sozialistengesetze bis zu den Pressenotstandsgesetzen der Weimarer Republik
und zur Rundfunkzensur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im
digitalen Zeitalter fühlt sich Deutschlands „streitbare, wehrhafte
Demokratie“ abermals verwundbar und setzt auf die Eindämmung
extremistischer Stimmen.
## Vieles ist legal und wird dennoch gelöscht
Dementsprechend hat Deutschland mit dem [1][Netzwerkdurchsetzungsgesetz
(NetzDG)] von 2017 den Prototyp für die Regulierung von Onlineinhalten
entwickelt. Dieses Gesetz verpflichtet Plattformen, offensichtlich
rechtswidrige Inhalte innerhalb von 24 Stunden zu entfernen – oder sie
riskieren Bußgelder bis zu 50 Millionen Euro. Die EU wollte noch
ehrgeiziger sein: Am 5. Juli stimmte das Europäische Parlament abschließend
über den Digital Services Act (DSA) ab, der als „globaler Goldstandard“ f�…
die Onlineregulierung gefeiert wird.
Der DSA verbessert die Transparenz und stärkt europäische Nutzer gegenüber
mächtigen Megaplattformen aus den USA. Es wird aber auch ein „Notice and
Action“-Mechanismus eingeführt, der Plattformen dazu verpflichtet, nach
einer Benachrichtigung „illegale Inhalte“ „ohne unangemessene Verzögerun…
zu entfernen.
Plattformen zu verpflichten, illegale Inhalte innerhalb kurzer Zeit zu
entfernen, ist aus mehreren Gründen problematisch. Zwar behaupten viele
Politiker, dass soziale Medien voller terroristischer Propaganda, Hassrede
und Desinformation seien. Aber die verfügbaren Daten deuten darauf hin,
dass die meisten problematischen Inhalte legal sind. Eine [2][aktuelle
rechtliche Analyse] (ich war einer der Autoren) von 63 Millionen dänischen
Facebook-Kommentaren ergab, dass zwar ein auf Facebooks Community-Standards
basierender Algorithmus feststellte, dass 1,4 Prozent der Kommentare
„hasserfüllte Angriffe“ darstellten, aber nur etwa 0,0066 Prozent
tatsächlich gegen das dänische Strafgesetzbuch verstießen.
Eine weitere von mir mitverfasste Untersuchung der Facebook-Konten von fünf
dänischen Medien ergab, dass nur 1,1 Prozent der gelöschten Kommentare
strafbar waren, während fast die Hälfte dieser Kommentare weder hasserfüllt
noch beleidigend waren. Eine Studie von Professor Marc Liesching von der
Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig aus dem Jahr 2021
[3][kam ebenfalls zu dem Schluss], dass das NetzDG nur begrenzte Wirkung
zeigt, aber das Risiko einer übermäßigen Löschung legaler Inhalte birgt.
## Vorlage für Autokraten
Zweitens ist die rechtliche Frage der Klärung, ob eine Äußerung
rechtswidrig ist, komplex. Ein von mir mitverfasster Bericht aus dem Jahr
2021 ergab, dass nationale Gerichte in fünf europäischen Demokratien
[4][durchschnittlich 778,47 Tage brauchen, um Fälle von Hetzreden
abzuurteilen]. Die sehr kurzen Löschungsfristen bedeuten, dass
Technologieplattformen in wenigen Stunden oder Tagen rechtliche
Entscheidungen treffen müssen, für die geschulte Juristen Monate oder Jahre
benötigen.
Dies wird angesichts der hohen Bußgelder für die Nichteinhaltung fast
zwangsläufig dazu führen, dass Plattformen aus Furcht vor hohen Bußgeldern
auch rechtmäßige Inhalte löschen. Dies trug dazu bei, dass die französische
Fassung des NetzDG für verfassungswidrig erklärt wurde. Auch der
unabhängige [5][Menschenrechtsausschuss der UN hat Bedenken] wegen der
Folgen des NetzDG für die Meinungsfreiheit und den Zugang zu Informationen,
wie sie in Artikel 19 des Internationalen Pakts über bürgerliche und
politische Rechte garantiert sind.
Der DSA definiert illegale Inhalte als solche, die nach EU-Recht, aber auch
nach dem Recht einzelner Mitgliedstaaten gesetzeswidrig sind. Dazu gehören
Blasphemie (strafbar in Finnland, Polen und Österreich), russische
Propaganda (von der EU verboten), „Manipulation von Informationen“,
Beleidigung von Politikern, Leugnung historischer Verbrechen,
„LGBT-Propaganda“ (in Ungarn teilweise verboten) und totalitäre Symbole.
Mit anderen Worten: Die EU hat eine privatisierte Zensurmaschinerie
geschaffen, die verwendet werden kann, um soziale Medien von unerwünschten
Inhalten zu säubern.
In einer globalisierten Welt ist die schädlichste Auswirkung möglicherweise
nicht die langsame Erosion der Meinungsfreiheit in etablierten Demokratien
wie Deutschland, wo Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte respektiert
werden. Leider verfügen die Bürger der meisten Länder der Welt nicht über
vergleichbare Rechtsmittel gegen Einschränkungen der Onlinefreiheit. Bis
2020 wurde der NetzDG-Präzedenzfall in mehr als 20 Ländern weltweit
übernommen, darunter von autoritären Regimen wie Russland, Venezuela,
Weißrussland und der Türkei, wobei viele ausdrücklich auf das deutsche
Vorbild verwiesen.
## Enger Blick auf Meinungsfreiheit
Demokratien machen sich zu Recht Sorgen um Extremismus, Desinformation und
Propaganda. Aber sie müssen sich damit abfinden, dass freie Gesellschaften
ihre Bürger in der digitalen Sphäre nicht vollständig vor Hass und
Desinformation schützen können, ohne die Werte zu gefährden, die sie von
autoritären Regimen unterscheiden. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass
der enge Blick auf die Gefahren freier Meinungsäußerung die Demokratien für
all den Fortschritt blind macht, der durch diese fragile Freiheit möglich
geworden ist.
Im Starren auf die dunklen Seiten der sozialen Medien gehen all die
Vorteile verloren, die wir für selbstverständlich halten. Soziale Medien
waren an der Koordinierung von antirassistischen Protesten beteiligt, haben
die LGBT+-Community sichtbar gemacht und Menschen eine Stimme gegeben, die
zuvor von institutionellen Wächtern ausgesperrt wurden. Soziale Medien
haben es Aktivisten und Journalisten ermöglicht, den Lügen und der
Propaganda autoritärer Staaten entgegenzuwirken und ihre
Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren.
[6][Die freie Meinungsäußerung ist ein Experiment], dessen Ausgang niemand
voraussagen kann. Die Geschichte deutet jedoch darauf hin, dass bei einer
Gefährdung der Meinungsfreiheit bald auch Demokratie, Freiheit und Toleranz
bedroht sein werden.
17 Jul 2022
## LINKS
[1] /Experte-ueber-Sicherheit-und-Hass-im-Netz/!5864206
[2] https://justitia-int.org/en/the-wild-west/
[3] https://www.htwk-leipzig.de/no_cache/de/hochschule/presse-marketing/pressem…
[4] https://futurefreespeech.com/rushing-to-judgment-are-short-mandatory-takedo…
[5] https://www.eff.org/deeplinks/2021/11/un-human-rights-committee-criticizes-…
[6] https://www.basicbooks.com/titles/jacob-mchangama/free-speech/9781541620339/
## AUTOREN
Jacob Mchangama
## TAGS
Meinungsfreiheit
Internetzensur
Europäische Union
NetzDG
TikTok
Schwerpunkt Ostdeutschland
Schwerpunkt Landtagswahl Thüringen
Lesestück Recherche und Reportage
Meinungsfreiheit
Vietnam
## ARTIKEL ZUM THEMA
Jugendschutz bei Social Media: EU eröffnet Verfahren gegen Tiktok
Die EU-Kommission will Tiktok untersuchen. Die Videoplattform steht im
Verdacht, zu wenig für den Schutz von Minderjährigen zu unternehmen.
Studie zu Meinungsfreiheit: Gefühle sind keine Tatsachen
Auf den Satz „Man darf ja gar nichts mehr sagen“ folgen oft Salven
ungefragter Meinungsäußerungen. Das ist ein Selbstwiderspruch – und blöder
Quatsch.
Pressefreiheit in Thüringen: Bürgermeister greift Journalisten an
Der parteilose Bürgermeister von Bad Lobenstein Thomas Weigelt attackierte
einen Journalisten. Nun wird sein Rücktritt gefordert.
Desinformation im Netz: Am Rande der Meinungsfreiheit
Immer mehr Menschen lesen Nachrichten im Netz. Seit einem Jahr kann die
Medienaufsicht gegen Hetze und Fake News auf Webseiten vorgehen. Eine
Bilanz.
Zivilklage gegen Löschung auf Facebook: Umstrittene Meinungsfreiheit
In Hildesheim verklagt ein Nutzer Facebook, weil er sich zu Unrecht
gesperrt sieht. Er hatte ein Video gepostet, in dem es um Polizeigewalt
ging.
Gesetz zur Internetkontrolle in Vietnam: Meinungsfreiheit eingeschränkt
Ab jetzt sollen Google, Facebook & Co. auf Aufforderung Nutzerdaten an die
Regierung geben. Kritiker nennen das „totalitäres Modell der
Informationskontrolle“.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.