| # taz.de -- Weihnachtliche Geschichten: Mit dem König von Bratislava tanzen | |
| > „Weihnachten in Prag“ ist eine wundersame kleine Erzählung von Jaroslav | |
| > Rudiš. Darin geht es mit einem „Kavka“ auf Kneipentour. | |
| Bild: In der Weihnachtsgeschichte von Jaroslav Rudiš beginnt ein Kopf zu leuch… | |
| Die Weihnachtsgeschichte bildet ein eigenes Genre bei den Erzählungen, und | |
| es gehört zu den schwierigsten Aufgaben für einen Schriftsteller, die hier | |
| angezeigte Balance zwischen Besinnlichkeit und Kitsch zu halten und nicht | |
| abzustürzen. | |
| [1][Jaroslav Rudiš hat dabei einen großen Vorteil]: Er kommt aus Prag. | |
| Diese Stadt, die bereits viele magische Zuschreibungen erhalten hat, bietet | |
| sich in idealer Weise dafür an, einen Zeitpunkt wie den „Heiligen Abend“ | |
| ernst zu nehmen, aber dennoch alle möglichen Fallen zu vermeiden, die damit | |
| verbunden sind. Der Golem kann da helfen, oder der Grund der Moldau, und | |
| wenn man Weihnachten auch mit Kafka zusammendenken kann, hat man den | |
| entsprechenden Weg auf jeden Fall gefunden. | |
| Dem Ich-Erzähler von Rudiš’ Weihnachtsgeschichte läuft gleich eine Figur | |
| namens „Kavka“ über den Weg, die zwar nicht Kafka ist, bald aber trotzdem | |
| endgültig so wie er geschrieben wird. Dennoch ist [2][der Ton, der hier | |
| angeschlagen wird, keineswegs kafkaesk], sondern dem Sujet entsprechend | |
| warm und weich, wie in einer Legende, und es mischen sich allmählich einige | |
| märchenhafte Züge in das Geschehen, die aber ganz und gar nicht | |
| herausfallen und vollkommen selbstverständlich sind. | |
| ## Der Vater und der Bahnhof | |
| Der Erzähler trifft am 24. Dezember am Prager Hauptbahnhof ein, weil er | |
| sich für diesen Abend mit Freunden verabredet hat, am nächsten Tag wird er | |
| weiterfahren zu seinen Eltern in den Norden Tschechiens, ins „Böhmische | |
| Paradies“. Der Vater und der Bahnhof bilden die Rahmenhandlung dieser | |
| Legende, in der Eisenbahnthematik [3][fühlt sich Jaroslav Rudiš ganz | |
| offensichtlich richtig daheim]. | |
| Aber zwischen Anfang und Ende am Prager Hauptbahnhof entspinnt sich ein | |
| Gang durch mehrere Prager Kneipen, der unwiderlegbar den Geist einer | |
| Heiligabendstimmung atmet, obwohl man sie noch nie so empfunden und gelesen | |
| hat wie hier. | |
| Schon, dass das erste Bier einer ungeschriebenen Familienüberlieferung nach | |
| im „Schwarzen Ochsen“ getrunken werden muss, versetzt das Ganze in einen | |
| leichten, literarischen Schwebezustand, und wie in jedem guten Lokal wird | |
| dem Erzähler hier das Bier gleich auf den Tisch gestellt, ohne dass er | |
| dafür eine Bestellung aufgeben musste. | |
| ## „Kavka“ tritt auf | |
| An diesem Ort tritt auch jener Mann in Erscheinung, der in einen leichten | |
| schwarzen Übergangsmantel gekleidet ist und „ein wenig verloren“ wirkt. Als | |
| er sein Bier ausgetrunken hat, setzt die Verzauberung ein. Alles wird von | |
| nun an in ein geheimnisvolles, mildes Licht getaucht, sein Kopf beginnt | |
| nämlich zu leuchten wie eine der alten Prager Gaslaternen, sanft und gelb, | |
| und dass er „Kavka“ heißt, erstaunt dann nicht mehr weiter. | |
| Das ist aber fast schon alles, was die Weihnachtsgeschichte von Rudiš an | |
| Kafka-Verweisen aufbietet – doch halt: Der Kopf, der plötzlich so leuchtet, | |
| unterhält insgeheim Querverbindungen zu Gregor Samsa in Kafkas | |
| „Verwandlung“, vielleicht habe dieser Protagonist einfach nur ein Bier zu | |
| viel getrunken und die berühmte „Zoorunde“ gedreht – nach dem „Schwarz… | |
| Ochsen“ kamen womöglich der „Kater“, die „Zwei Katzen“, der „Golde… | |
| oder das „Bärchen“. | |
| Genau so eine Runde drehen der Erzähler und Kafka nun auch, und sie sammeln | |
| dabei den „König von Prag“ auf und eine Italienerin aus Mailand, deren Mann | |
| Straßenbahnfahrer in Milano gewesen ist, sich aber immer danach sehnte, | |
| Straßenbahnfahrer in Prag zu sein. | |
| So wird das Ganze immer verträumter und versponnener. Und was es mit dem | |
| „König von Prag“ genauer auf sich hat, der auf dem oberen Bahnsteig des | |
| Prager Hauptbahnhofs zum Schluss noch mit dem „König von Bratislava“ tanzt, | |
| sollte man selbst nachlesen, genauso wie sich die Geschichte mit Kafka und | |
| der Italienerin weiterentwickelt. Und auch, dass die Dichter entweder Vögel | |
| oder Karpfen werden – in Prag ist der Karpfen zu Weihnachten eine | |
| unumgängliche Begleiterscheinung –, leuchtet einem unmittelbar ein. | |
| Illustriert, in modernen, violetten Skizzen und Schraffuren, mit | |
| leichthändigen Zitaten aus den Welten Hrabals, Hašeks oder Kubins, hat das | |
| schmale Bändchen Rudiš’ Freund Jaromír 99, mit dem er auch die „Kafka | |
| Band“ aus der Taufe gehoben hat. Und wer die Freunde sind, die der Erzähler | |
| an diesem Abend in Prag treffen wollte, löst sich in den letzten Sätzen | |
| ebenfalls auf wundersame Weise auf. Die Kneipe dann heißt „Zum | |
| ausgeschossenen Auge“. | |
| 15 Dec 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Helmut Böttiger | |
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