# taz.de -- Unterwegs zum Jazzfestival in Wien: „Da muss man flexibel bleiben… | |
> Ein Norddeutscher fährt nach Wien fürs Kick-Jazz-Festival. Das | |
> präsentiert „vielversprechende heimische Jazzformationen“. Ein | |
> akustischer Rundgang. | |
Bild: Sound of Snow: Wien im Schnee, hier die Mariahilfer Straße, am ersten Ei… | |
Gleich in der U-Bahn begegnet sie einem, die berühmte Wiener Grantigkeit. | |
„Steigen Sie nicht mehr ein“, tönt die kühle Frauenstimme aus den | |
Lautsprechern, ehe die Türen schließen. Ein „bitte“ hätte die Ansage | |
vermutlich unnötig verlängert. | |
Es gibt unzählige Anekdoten über die berühmte Schroffheit der WienerInnen. | |
Man erzählt von einem Piefke, der mit einem „Und da geh’ma gleich wieder“ | |
aus einem der Kaffeehäuser vertrieben wurde, nachdem er sich erdreistet | |
hatte, einen „Latte macchiato“ zu bestellen. Erst Ende 2022 wurde die | |
Donaumetropole zum wiederholten Male zur „unfreundlichsten Stadt der Welt“ | |
gekürt. Was zu überprüfen wäre. | |
Winter in Wien, in den Straßen Schneematsch. Rund um den Stephansdom sind | |
die Touristen noch enger gedrängt als üblich. Die Westseite der Kirche ist | |
weiträumig abgesperrt, um Passanten vor herabfallenden Eiszapfen zu | |
schützen. Nur ein paar hundert Meter entfernt liegt das [1][„Porgy & | |
Bess“], ein ehemaliges Erotikkino, heute unbestritten der wichtigste | |
Jazzclub der österreichischen Hauptstadt. Im unterirdischen Saal ist an | |
sieben Tagen die Woche Programm; demnächst kommen die US-Stars John Zorn | |
und Fred Wesley. Aber jetzt ist erst einmal Wien dran. | |
Das zweitägige „Kick Jazz“-Festival hat sich auf die Fahnen geschrieben, | |
die „vielversprechendsten heimischen Jazzformationen“ zu versammeln. Die | |
MacherInnen um Helge Hinteregger machen keinen Hehl daraus, dass dies auch | |
eine Verkaufsveranstaltung ist. PromoterInnen, BookerInnen und | |
FestivalbetreiberInnen aus ganz Europa sollen für eine Szene zwischen Jazz, | |
Pop und improvisierter Musik begeistert werden. | |
## „It’s my kind of city!“ | |
Amr Salah ist der einzige Nicht-Europäer in der Delegation. Der | |
künstlerische Leiter des Cairo Jazzfestival zeigt sich überraschenderweise | |
begeistert von Wien. „It’s my kind of city!“ Die Leute seien warm und | |
freundlich. Salah ist nicht nur von der Stadt angetan. Er möchte auch Anna | |
Anderluh und ihr Trio für sein Festival gewinnen. | |
Die gebürtige Klagenfurterin spielt eine eigens umgebaute Autoharp, ihre | |
helle Sopranstimme bildet einen Kontrast zum metallischen Klang ihrer | |
Zither. In ihren Ansagen hinterfragt Anderluh auf humorvolle Weise übliche | |
Musikbusiness-Rollen, indem sie sich als ihr eigener Manager ausgibt. Als | |
„Franz“ spricht sie dank voice pitchings mit tiefer Stimme, dazu mit | |
breitem Kärntner Dialekt. „I discovered her“, poltert „Franz“, um glei… | |
danach das einmalige Talent seiner Entdeckung Anna zu preisen. | |
Keine der 7 Bands an den beiden Kick-Jazz-Tagen passt genau in ein Raster; | |
man gibt sich sanft experimentell. So auch Simon Raab, der für sein | |
melodisches Solo-Piano-Set viel Applaus bekommt. | |
Projektleiter Helge Hinteregger spricht von der erdrückenden Größe von | |
Jazzmetropolen wie Berlin. Er meint: „Wien ist nicht so groß, da muss man | |
flexibel bleiben. Man probiert sich in verschiedenen Gruppen und Stilen | |
aus. Es geht hier nicht um Skills oder um Coolness, es geht um die Ideen.“ | |
Davon hat der Gitarrist Peter Rom jede Menge. Sein Quartett Wanting Machine | |
ist die wohl aufregendste Band des Festivals. Rom verfremdet und dämpft den | |
Klang seines Instruments. Das könnte lupenreiner Pop sein, würde es nicht | |
immer wieder auf entzückende Art stolpern. Funky ist es dennoch. | |
Für Verblüffung sorgt Bandmitglied Pamelia Stickney: Sie erzeugt ohne jede | |
Berührung hohe, singende Töne. Die US-Amerikanerin spielt die Theremin, mit | |
minimaler Veränderung der Fingerhaltung verändert sie elektromagnetische | |
Felder. Die Musikerin hat New York City lange vermisst – heute schätzt sie | |
die kurzen Wege und die verlässliche U-Bahn. Stickney ist längst eine | |
Wienerin. | |
Die Stadt hat sich freundlich gezeigt in diesen Wintertagen. Das darf man | |
selbst als Kühle gewohnter Norddeutscher zugeben. Man hat gelernt, der | |
berüchtigten Kellner-Grantigkeit flexibel zu begegnen – und hat statt eines | |
Cappuccinos eine Melange bestellt. Der Lohn: der Hauch eines Lächelns. | |
Transparenzhinweis: Die Recherche wurde durch Music Austria unterstützt. | |
10 Dec 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Porgy_&_Bess_(Jazzclub) | |
## AUTOREN | |
Jan Paersch | |
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