Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Last-Christmas-Geschenk: Musikalische Offenbarung auf Vinyl
> Letztes Weihnachten sorgt eine geschenkte Platte von King Gizzard & The
> Lizard Wizard für wahre Begeisterung. Und eine Reise nach Luxemburg.
Bild: Die Band King Gizzard and The Lizard Wizard bei einem Auftritt in Lissabon
Weihnachtsgeschenke sind oft schnell vergessen. Leider. Sie landen im
Regal, im Schrank, auf der Haut, im Magen – oder gleich im Mülleimer, wenn
es dumm läuft. [1][Letztes Weihnachten] aber, ta-ta-ta!, hat mein jüngerer
Sohn einen Volltreffer gelandet: in Form einer schwarzen Scheibe, die er
mir schenkte. Echtes Vinyl, das gefiel mir. Beim Cover musste ich aber
länger suchen, bis ich den Plattentitel „Polygondwanaland“ fand. Und der
Name der Band sagte mir gar nichts: [2][King Gizzard & The Lizard Wizard].
Ich fand ihn jedoch so witzig, dass ich zum Plattenspieler ging, um zu
erfahren, wie das Werk von „König Gizzard und dem Echsenzauberer“ klingt.
Das erste Stück begann so leise, dass ich lauter drehte – so drang der
psychedelische Gitarrensound in griffiger Halbtonmelodik ungebremst in
meine Gehörgänge. Gebannt lauschte ich dem zehnminütigen Klanggewitter über
ein zerbröckelndes Schloss. Was für melodische Spannungsbögen, welch
rhythmische Wechselspiele, was für dynamische Feinheiten, welch grandioses
Powerplay.
Ich war geplättet. Ich hörte „Crumbling Castle“ sofort noch mal, danach d…
anderen neun Stücke. Mag es mit Blick auf Heiligabend leicht blasphemisch
klingen: Die Platte hatte etwas von einer Offenbarung. Die Wirkung
erinnerte mich an Prince und „Signs o’ the Times“, an „Dark Side of the
Moon“ von Pink Floyd oder „Remain in Light“ von Talking Heads. Epochale
Meisterwerke der Vergangenheit. O, du Fröhliche: So frisch, forsch,
vielschichtig, flippig, formvollendet, ja, unfassbar gut.
In den Tagen danach drehte sich die Platte nonstop auf meinem
Plattenteller. Ohne Abnutzungseffekte, mit Appetit auf mehr. Im Internet
erfuhr ich über die Band aus Melbourne, dass sich 2010 sieben junge Männer
zu Sessions trafen und sich für den ersten Auftritt auf den ellenlangen
Namen einigten, den Fans mit KGLW abkürzen. Zwischen 2012 und Ende 2022
sind 23 Studioalben erschienen, fünf allein in den Jahren 2017 und 2022.
Verrückt.
## Das grenzt an Zauberei
„Polygondgwanaland“ wurde im November 2017 veröffentlicht. Schleierhaft,
warum es die Platte in keine Charts geschafft hat. Die Songs der extrem
experimentierfreudigen Band, bei denen oft vier Gitarristen gleichzeitig am
Werk sind, grenzen an Zauberei. Unberechenbar zwischen Rock, Metal, Jazz,
Blues, Soul, Folk, Minimal, HipHop mäandernd. Mir war klar: Das muss ich
live erleben!
Die Gelegenheit bot sich im August, doch die Konzerte in München und Köln
waren bereits ausverkauft. Für den 16. August im [3][Den Atelier in
Luxemburg] gab es aber noch Tickets – für 44,15 Euro. Ich schlug zu,
mietete mich für eine Nacht im Hotel Le Chatelet ein und buchte ein
Zugticket.
Früh um 7.33 Uhr ging die siebenstündige Reise mit Rucksack und Faltrad in
Nürnberg los. Bei einer Joggingrunde am Nachmittag sah ich den Bandbus vor
dem Musikclub parken, der zuvor eine Renault-Werkstatt war. Die Vorfreude
wuchs, ich fühlte mich wie mit 15 vor meinem ersten großen Livekonzert,
damals von Santana.
## Dreimal durchgeschwitzt
Als gegen 21 Uhr das Saallicht ausgeht, schüttelt Lockenkopf Stu Mackenzie,
Jahrgang 1990, in kurzer Latzhose ein paar Jazzakkorde aus der Gitarre,
gefolgt von den Worten: „Let’s get sweaty!“, was nicht zu viel versprochen
war. Dreimal durchgeschwitzt war ich am Ende, zudem geschüttelt,
hochgepusht und mitgerissen von einer Band, die jeden Abend ihr
Programmzauber neu mixt. Kein Song an dem Abend von „Polygondwanaland“, das
heftige Wechselbad mündet in einem hochenergetischen Trash-Finale,
flankiert von gleißenden Lichtstrahlen.
Ich schwebte auf Wolke sieben. Schaute mir am nächsten Tag noch moderne
Museumskunst an und machte mich nachmittags mit der Bahn auf den Heimweg.
Bei der Ankunft in Nürnberg gegen 23 Uhr wurde mir bewusst, dass ich dank
der Konzertreise von einem Unwetter mit Überschwemmungen und Stromausfall
verschont geblieben war.
Mit dem Sound von King Gizzard im Ohr radelte ich gegen Mitternacht nach
Hause. Wie gut, dass es Weihnachtsgeschenke gibt – wie Last Christmas.
23 Dec 2023
## LINKS
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Last_Christmas
[2] https://en.wikipedia.org/wiki/King_Gizzard_&_the_Lizard_Wizard
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Den_Atelier
## AUTOREN
Jo Seuß
## TAGS
Schallplatten
Schwerpunkt Stadtland
Kolumne Großraumdisco
wochentaz
Weihnachten
Brandstiftung
Kolumne Großraumdisco
Kolumne Großraumdisco
Schwerpunkt Stadtland
## ARTIKEL ZUM THEMA
Schweden und der Gävlebocken: Noch hat Gävle Bock
Seit 1966 stellt die schwedische Stadt Gävle eine meterhohe Strohziege am
ersten Advent auf. Jedes Jahr versuchen Brandstifter, sie abzufackeln.
Kunstprojekt zum Zuhören: Der Sound der vermessenen Arktis
Eine Performance im ehemaligen Krematorium in Wedding zeigt, wie schwierig
es ist, Datenströme hörbar zu machen. Über Töne und Daten.
Unterwegs zum Jazzfestival in Wien: „Da muss man flexibel bleiben“
Ein Norddeutscher fährt nach Wien fürs Kick-Jazz-Festival. Das präsentiert
„vielversprechende heimische Jazzformationen“. Ein akustischer Rundgang.
„Heimatlieder“ im Theater: Wo ist zu Hause, Mama?
Im Berliner Schillertheater waren musikalisch doppelte Staatsbürgerschaften
zu hören. Mit dabei: entrückter Swing und auch die Frage nach dem Eigenen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.