# taz.de -- Rechtspopulismus in den Niederlanden: Geert will das | |
> Geert Wilders hat seine Partei PVV zum Wahlsieg geführt. Das Land hatte | |
> er schon vorher nachhaltig verändert. | |
Bild: Rechtspopulist Geert Wilders einen Tag nach seinem erdrutschartigen Wahls… | |
Er selbst konnte es kaum glauben. [1][So überraschend war am vergangenen | |
Mittwoch Geert Wilders’ Triumph bei der Parlamentswahl in den | |
Niederland]en. Mit 37 gewonnenen Sitzen ist seine rechtspopulistische | |
Partei PVV die stärkste Fraktion im neuen Parlament. Um zu verstehen, wie | |
es so weit kommen konnte, muss man einige Zeit zurückblicken. | |
Etwas mehr als acht Monate vor seinem großen Erfolg steht Geert Wilders in | |
Den Haag auf einer Bühne. Vor ihm im grellen Licht eines windigen | |
Frühlingstags wogt ein blau-weiß-rotes Meer. Die umgedrehte niederländische | |
Flagge ist das Symbol einer Protestbewegung, die eine halbe Generation nach | |
Wilders kam. | |
An diesem Samstag, kurz vor den Provinzialwahlen, trifft sich alles, was | |
dort Rang und Namen hat, im Zuiderpark von Den Haag. Eine Kundgebung wie | |
eine geballte Faust, drohend erhoben gegen die „Elite“ und die bürgerliche | |
Mitte-rechts-Koalition. Das Motto: „Wählt sie ab!“ | |
Die Atmosphäre gleicht einem Festival, und wie sich das gehört, werden die | |
Stars als Letzte auftreten. Mark van den Oever, der rabiate Frontmann der | |
Farmers Defence Force, und Thierry Baudet, Chef der antiglobalistischen, | |
Alt-Right-affinen Partei Forum voor Democratie (FvD), ein Putin-Bewunderer | |
und Verschwörungsgläubiger. Wilders dagegen ist der große Name, der ein | |
wenig zu einer anderen Zeit gehört, aber noch aktiv ist und den man auf | |
dieser Bühne haben muss. | |
Dass er sein Handwerk noch beherrscht, stellt er sogleich unter Beweis. Er | |
ruft auf zum „demokratischen Widerstand“ gegen eine „Tyrannei“ von Prem… | |
Mark Rutte und Finanzministerin Sigrid Kaag, beschimpft deren Partei als | |
„linksliberale Zerstörer“ und hetzt gegen „Asylbewerber, die sich jeden … | |
vollfressen, während unsere Alten im Heim 100 Gramm Fleisch und 150 Gramm | |
Gemüse täglich bekommen“. Am Schluss seines Auftritts kündigt Wilders an: | |
„Heute verabreden wir, dass wir uns die Niederlande zurückholen.“ | |
## Wilders' Rhetorik hat die Niederlande geprägt | |
Niemand, auch nicht die profundesten Expert*innen des äußerst lebhaften | |
Biotops rechter, identitärer niederländischer Bewegungen, kann sich zu | |
diesem Zeitpunkt vorstellen, [2][dass Wilders, damals 59, heute 60 Jahre | |
alt, im kommenden Herbst mit seiner PVV einen Erdrutschsieg bei den | |
Parlamentswahlen landen wird]. Einen solchen [3][Erdrutschsieg holt nämlich | |
nur Tage später die konservative BoerBurgerBeweging (BBB), die das | |
politische Establishment bei den Provinzwahlen in die Seile schickt]. | |
Von Wilders und seiner „Freiheitspartei“ redet in diesen Wochen kaum | |
jemand. Unbestritten aber hat das rechte Branchentreffen in Den Haag | |
gezeigt, dass das jahrelange Schmuddelkind der niederländischen Politik | |
eine ganze Generation nachkommender Akteur*innen geprägt hat. | |
Seine Agenda gegen „die Elite“, „Den Haag“ oder „Brüssel“; die agg… | |
beleidigende Rhetorik; die Verknüpfung einer harten, abweisenden Seite | |
gegen Asylbewerber*innen, Migrant*innen, vor allem muslimische, mit einer, | |
die sich zu kümmern vorgibt, um Alte, Arme, Vernachlässigte. | |
„Mehr Hände am Bett und mehr Blau auf der Straße“ – sprich: mehr | |
Pflegepersonal und mehr Polizei – das stand schon 2006 im Wahlprogramm der | |
damals neu gegründeten PVV. | |
## Wilders war ein Wegbereiter für andere rechte Akteur*innen | |
Sein Motto aus den ersten Jahren, er betreibe „Politik für Henk und Ingrid, | |
nicht für Ali und Fatima“, steht im Widerspruch dazu, dass Wilders heute | |
sagt, er wolle der Premier aller Niederländer*innen sein, ungeachtet | |
ihres Hintergrunds. Ob er es hinter sich gelassen hat, wird sich zeigen. In | |
jedem Fall aber ist dieses Bekenntnis Grundstein einer Politik, die auf | |
Ethnizität basiert und dies nicht als Skandal skandalös empfindet, sondern | |
als selbstverständlich. | |
Es ist keine Übertreibung, Wilders als inhaltlichen und rhetorischen | |
Wegbereiter und Quartiermacher einer ganzen Reihe rechtspopulistischer | |
Akteure zu bezeichnen: Parteien wie FvD, JA21, Belang van Nederland (BVNL), | |
die – hierzulande recht übersichtlichen – Gelbwesten, Teile der | |
Bäuer*innenbewegung und Covid-Proteste, Medien wie der Sender | |
Ongehoord Nederland (ON), der Websites Geen Stijl oder De Dagelijkse | |
Standaard, letztlich auch das etablierte Boulevardblatt Telegraaf. Sein | |
Aufruf zum „Widerstand“, den er ab der Flüchtlingskrise von 2015 durchs | |
Land posaunte, hat vielfach Gehör gefunden. | |
Pim Fortuyn, der ermordete Urvater des niederländischen Rechtspopulismus, | |
führte kurz nach der Jahrtausendwende entsprechendes Gedankengut erstmals | |
erfolgreich und in großem Stil in den Diskurs ein und sprach damit, wie es | |
oft hieß, aus, was viele dachten, aber vermeintlich nicht zu sagen wagten. | |
Der Erfolg der PVV hingegen sorgte dafür, dass diese einmal ausgesprochenen | |
Töne widerhallten in einem permanenten Resonanzraum, der sich stetig | |
vergößerte. 2006 zog sie erstmals mit 9 Abgeordneten ins Parlament ein. Sie | |
gewann damit den Wettstreit mehrerer konkurrierender neuer Rechtsparteien | |
um die Nachfolge der Lijst Pim Fortuyn (LPF). 2010 wurde sie mit 24 Sitzen | |
drittstärkste Partei. | |
## Mehrere Klagen wegen Aufruf zur Diskriminierung | |
Geert Wilders, Gründer, Galionsfigur und einziges Mitglied der PVV, die | |
damit nicht über eine konventionelle Parteistruktur verfügt, ist in den | |
Anfangsjahren derjenige, der die Grenzen des Sag- und Machbaren auslotet. | |
Sein Anti-Islam-Film „Fitna“ hält das ganze Land in Atem, er will den Koran | |
verbieten, seine Äußerungen über den Propheten Mohammed führen zu Anklagen | |
wegen Säens von Hass und Aufruf zur Diskriminierung, doch das Gericht | |
spricht ihn frei. | |
In einem zweiten Prozess wird er wegen Gruppenbeleidigung verurteilt, | |
nachdem er seinen Anhang skandieren ließ, sie wollten „weniger Marokkaner“. | |
Es ist eines von mehreren Beispielen, die Wilders’ Aussage, sein Vorgehen | |
richte sich rein gegen den Islam als politische Ideologie und nicht gegen | |
Muslime, widerlegen. | |
Von völkischer Blut-und-Boden-Rhetorik trennt Wilders tatsächlich einiges – | |
auf der Nazi-Site stormfront.org wurde er wegen seiner dezidierten | |
proisraelischen Standpunkte einst als „Judenknecht“ bezeichnet – doch im | |
Rahmen des identitären Nationalismus der PVV wird die Grenze zum Rassismus | |
häufiger überschritten. | |
## Die Niederlande sind längst verändert | |
In diesem Prozess freilich geschieht etwas Essenzielles für die Wahrnehmung | |
der Partei und den Diskurs über Identität und Nation, Zuwanderung und | |
Integration. Während Wilders mit seiner lautstarken Rhetorik | |
gewohnheitsmäßig auf und jenseits der Grenzen des sozial Akzeptablen | |
herumturnt, verlagern sich diese immer mehr. [4][Heute sind rechtsextreme | |
Parolen wie „Voll ist voll“ oder „Eigenes Volk geht vor“, die um die | |
Jahrtausendwende noch skandalträchtig waren, in den Niederlanden | |
salonfähig]. | |
Dass die PVV einen „totalen Asyl-Stopp“ fordert, holt niemand mehr hinterm | |
Ofen hervor. Wieso auch, wenn selbst der integre [5][Sozialkonservative | |
Pieter Omtzigt eine Obergrenze des Migrationssaldos propagiert] und das wie | |
eine volkswirtschaftliche Größe diskutiert? Acht von zehn Teilnehmenden | |
einer Umfrage gaben kurz vor der Wahl an, sie wollten weniger | |
Asylbewerber*innen im Land. Diese als „Glückssucher*innen“ zu | |
bezeichnen ist vollkommen alltagskompatibel. | |
Dass sich all dies auch an den Wahlurnen immer mehr niederschlägt, haben | |
die letzten Jahre gezeigt. Das rechtsextreme Forum voor Democratie gewann | |
die Provinzwahlen 2019, vier Jahre später folgte die | |
bürgerlich-konservative BBB. Beides bezeugte, dass die vermeintlichen | |
Eliten in Den Haag nicht nur diskursiv, sondern auch elektoral | |
abgewirtschaftet haben. | |
Am 22. November dann machte die PVV die Ansage ihres Chefs vom März wahr: | |
Sie holte sich „die Niederlande zurück“. | |
26 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Tobias Müller | |
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