# taz.de -- Liberale und Säkulare in Israel: Verdammt alleingelassen | |
> Die liberale Zivilgesellschaft braucht Solidarität von außen. Stattdessen | |
> ist sie aus dem Westen mit einer anti-israelischen Stimmung konfrontiert. | |
Bild: Tel Aviv, 11. Oktober 2023: Fähnchen und Kerzen für die von der Hamas g… | |
Auch für einen Kerl wie mich, der am glücklichsten unterwegs ist, gibt es | |
Orte, [1][die den Gedanken ans Bleiben wecken]. Tel Aviv zum Beispiel. Um | |
es mit den Worten von Lou Reed zu sagen: I know my ways round. Die zu dem | |
Viertel mit den niedrigeren, angekratzt-charmanten Häusern und den kleinen, | |
innigen Gärten, zum Beispiel. Dort, wo man nur ein bisschen ausharren muss, | |
um Charaktere und Situationen zu erleben, wie sie sich Ephraim Kishon nicht | |
besser hätte ausdenken können. Zu Plätzen, wo man ordentlich essen kann, | |
ohne dass es die Welt kostet (denn eine wirklich billige Stadt ist das | |
nicht). | |
Man weiß, wann es Zeit ist, am Strand ein Plätzchen unter den Sonnendächern | |
zu suchen. Und am Abend: der Himmel über Tel Aviv, in den man nicht schauen | |
kann, [2][ohne an Raketenangriffe zu denken]. Man ist unterwegs zu den | |
Orten, wo Israelis, Palästinenser, jüdische und nicht-jüdische Gäste an | |
gemeinsamen Projekten arbeiten. Rundum Träume von friedlicher Kooperation, | |
von Demokratie und Toleranz, von Respekt und Dialog. | |
So scheint es, denn das ist, wie man so sagt, eine Bubble. Ein | |
zivilgesellschaftlicher, kultureller Raum im Raum, der in den besseren | |
Zeiten durchlässig ist zum Außenherum für Energien und Ideen, und der in | |
den schlechteren Zeiten zu zerplatzen droht – wie so viele Blasen der | |
Hoffnung in diesem Jahrhundert. Politische Kultur eben, oder kultivierte | |
Politik. Nur möglich, wenn man an das Leben und an die Menschen glaubt. | |
So geht hier der Spruch: In Haifa arbeiten, in Tel Aviv leben, in Jerusalem | |
beten. Und damit sind auch die Elemente bezeichnet, die die israelische | |
Gesellschaft zusammenhalten: die Ökonomie, die Kultur und die Religion. | |
Diese Gesellschaft funktioniert, wenn die drei Dinge in Balance gehalten | |
werden, und sie tut es umso weniger, je mehr eines davon die beiden anderen | |
erdrücken will. In der Bubble weiß man nur zu gut, wie giftig eine | |
Regierung wie die von Benjamin Netanjahu ist. | |
Wie alle rechtspopulistischen und autokratischen Regierungen kümmert sie | |
sich wenig um die Belange ihrer Gesellschaft, befeuert nationalistische | |
Aggression nach außen und setzt ansonsten alles auf den Erhalt und den | |
Ausbau der eigenen Macht. | |
Wie lebendig und kämpferisch die israelische Zivilgesellschaft ist, zeigte | |
sich im Widerstand gegen den weiteren Abbau der Demokratie, euphemistisch | |
„Justizreform“ genannt. Tel Aviv bebte vor positiver Energie. | |
Und dann kam der 7. Oktober. Kein Krieg, kein Aufstand, nicht einmal | |
„Terror“ im furchtbar gewohnten Sinn, sondern ein beispielloser | |
Zivilisationsbruch. Mordlust, Triumphe des Quälens und Demütigens, | |
Vernichtungswille. Die Bilder und Töne davon sind in der Welt und werden | |
nicht mehr verschwinden. Wie viele der Menschen, die gerade noch in den | |
Straßen von Tel Aviv für die Demokratie eintraten, sind nun in Uniform und | |
Waffen unterwegs, bereit zu töten, bereit, getötet zu werden, | |
traumatisierend und Trauma-erleidend? | |
## Wie kann der Schrecken aufhören? | |
Im schrecklichen Zwiespalt zwischen dem Wissen, dass es auch hier die | |
Unschuldigen zuerst trifft, und dem anderen Wissen, dass sich dieser 7. | |
Oktober wiederholen wird, wenn die Hamas weiterwirken kann. Das Ausmaß an | |
Zerstörung und Leid lässt einen schließlich, jenseits aller politischen | |
Überlegungen und historischer Diskurse, nur noch hoffen, dieser Schrecken | |
möge endlich aufhören. Aber wie? | |
Zivilgesellschaftliche, pazifistische und liberale Bubbles, wie es sie | |
beinahe überall in der Welt gibt, auch unter den widrigsten und | |
gefährlichsten Umständen, sind auf internationale Solidarität, auf neue | |
Energien, auf Austausch angewiesen. Sie werden sonst eingeklemmt zwischen | |
den inneren Widersprüchen und der äußeren Bedrohung. Aber was geschieht da | |
im Westen? Was ist in den Köpfen los von Musikern, die ausgerechnet die | |
kulturellen Kraftlinien unterbrechen wollen, von Zeichnern, die ein | |
Comic-Art-Festival verlassen, weil es eine Sponsor-Beteiligung der | |
israelischen Botschaft in Italien gibt (eine Botschaft, nebenbei, die | |
meines Wissens nach nie durch nationalistische Rhetorik aufgefallen ist)? | |
Was ist los im Kopf [3][der Hollywood-Schauspielerin Susan Sarandon] mit | |
„linker“ Vergangenheit, die in die Vernichtungshymne der Hamas einstimmt, | |
was ist los mit den Mitgliedern einer feministischen Gruppe, die nicht | |
einmal Vergewaltigung und Femizid aus dem Narrativ vom „Widerstand“ | |
ausnehmen will, mit einer Klimaaktivistin, die ihren moralischen Eifer | |
plötzlich gegen Israel richtet? | |
## Im Namen von Postkolonialismus | |
Was ist los in den Köpfen von Studentinnen und Studenten, die im Namen von | |
„Postkolonialismus“ und „Anti-Apartheid“ [4][hinter „Free | |
Palestine“-Bannern herlaufen], als könnten sie es gar nicht erwarten, dass | |
Israel und seine Menschen verschwinden und einem weiteren Terrorstaat Platz | |
machen, in dem Frauen verprügelt werden, weil sie sich nicht an die | |
Kleidervorschriften halten, Homosexuelle ermordet und Kritiker*innen | |
gefoltert werden? Augenblicklich, fern von Tel Aviv, spüre ich Menschen im | |
Herzen, die sich verdammt alleingelassen fühlen. | |
Palästinensische genauso wie israelische Menschen. Denn für | |
palästinensische Menschen, die sich eine friedliche, demokratische und | |
kooperative Heimat wünschen, ist [5][die antiisraelische Stimmungswelle aus | |
dem Westen] genauso mörderisch wie für die Israelis selbst. Diese Bewegung | |
überschreitet die zwei roten Linien bei der berechtigten und notwendigen | |
Kritik an der Regierung Netanjahu, der Siedlungspolitik und der fanatisch | |
religiösen Stimmungsmache. | |
Sie schwächt in Israel die demokratische Zivilgesellschaft, und sie stärkt | |
die Kräfte in Palästina, die Israel nicht besiegen, sondern vernichten | |
wollen. Was indes am meisten erschreckt, ist ihre menschliche Kälte. Als | |
wäre das Leiden von Menschen, hier wie dort, nur Baumaterial für eine | |
ideologische Rekonstruktion der Welt. | |
Nun platzen sie vielleicht wirklich, die Blasen der Hoffnung. Nicht nur in | |
Tel Aviv. | |
30 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.kosmopoetin.com/lifestyle-leichtfuessigkeit-lebenshunger-liebes… | |
[2] /Jugend-im-Westjordanland/!5968371 | |
[3] https://www.spiegel.de/kultur/kino/susan-sarandon-nach-aeusserungen-auf-pro… | |
[4] /Nahost-Konflikt-in-Berlin/!5963319 | |
[5] /Linke-und-Israel/!5971583 | |
## AUTOREN | |
Georg Seeßlen | |
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