# taz.de -- Ukraine-Krieg und Kirgistan: Die Wunde ist noch offen | |
> Der kirgisische Regisseur Schamil Dyikanbaew bringt Werke des | |
> Schriftstellers Tschingis Aitmatow auf die Bühne. Die Klassiker sind | |
> wieder aktuell. | |
Bild: Bühnenbild zu der Erzählung „Aug in Auge“ von Tschingis Aitmatow | |
BERLIN taz | Der Krieg in der Ukraine hat zweifellos seine Spuren in allen | |
Lebensbereichen der Menschen hinterlassen. Seine Folgen sind im | |
postsowjetischen Raum besonders deutlich zu spüren. In dem | |
zentralasiatischen Land Kirgistan hat der Krieg nicht nur Auswirkungen auf | |
geopolitische Prozesse, die Wirtschaft und den sozialen Bereich, sondern | |
auch auf die Kunst. [1][Der Krieg hat auch mich aufgerüttelt und zum | |
Umdenken gebracht]. Er hat Wunden aufgerissen, die verheilt zu sein | |
schienen. | |
Zeitgenössische moderne Kulturschaffende greifen auf Erfahrungen | |
vergangener Jahre zurück und suchen nach Antworten auf Fragen, mit denen | |
die Menschheit während des Zweiten Weltkriegs konfrontiert war und die sich | |
jetzt erneut stellen. Aber es gibt immer noch keine Antworten, es gibt nur | |
endlose Parallelen zwischen Vergangenheit und Gegenwart. | |
Auch im Theater wird der Krieg zum Thema gemacht. Im Kirgisischen | |
Akademischen Schauspieltheater in Bischkek fand die Uraufführung des Stücks | |
„Aug in Auge“ statt. Dieses Stück basiert auf der Geschichte des berühmten | |
sowjetischen Schriftstellers Tschingis Aitmatow, dessen Jugend in die Zeit | |
des Zweiten Weltkriegs fiel. | |
Aitmatow gehörte zu den jungen Leuten, die mit den Frauen die Strapazen des | |
Lebens im Krieg im Hinterland auf sich nahmen, während Väter, Brüder und | |
Ehemänner an der Front waren. In den 50er Jahren debütierte er als Autor | |
und verfasste zahlreiche Prosawerke auf Russisch und Kirgisisch. Alle seine | |
Arbeiten sind vom Thema Krieg durchdrungen. Aitmatows Werke sind zu | |
Klassikern geworden. Ihre Relevanz dauert fort, besonders heutzutage hat | |
die Auseinandersetzung mit seinen Werken eine große Bedeutung. | |
## Wie ein Deserteur im kirgisischen Dorf versteckt wird | |
Der junge Bischkeker Regisseur Schamil Dyikanbaew hat die Helden von | |
Aitmatows Erzählung „Aug in Auge“ auf die Bühne gebracht – die Geschich… | |
einer Familie aus einem entfernten kirgisischen Dorf. In dem Stück gibt es | |
keine Schlachten, Panzer, Schützengräben oder Heldentaten, sondern es geht | |
um [2][den allgegenwärtigen Krieg], der sich kalt und gnadenlos in das | |
Leben aller einschleicht, auch im fernen Hinterland. | |
Die Hauptheldin Seyde ist gezwungen, ihren von der Front geflohenen Ehemann | |
zu verstecken, einen Deserteur. Die Frau ist hin- und hergerissen zwischen | |
ihrem Verständnis von der patriarchalischen Rolle einer Ehefrau und ihrem | |
Gefühl, ihre staatsbürgerliche Pflicht zu erfüllen. Sie wird von Scham | |
zerrissen. | |
Gleichzeitig träumt sie davon, dass der Krieg endet und die ganze Familie | |
in ein Märchenland geht und dort ein neues Leben beginnt. Doch die Realität | |
erweist sich als viel härter. Das Finale des Stücks ist weit von Seydes | |
idyllischen Vorstellungen entfernt – genau so wie das Ende eines jeden | |
Krieges. | |
Diese Erzählung wurde 1957 veröffentlicht, aber die Realität dieser Jahre | |
ist mehr denn je mit der Gegenwart verknüpft. Was ist Krieg? Was ist der | |
kleine Mann in einem Krieg? Wie weit ist er bereit zu gehen, um zu | |
überleben? Viele Jahre später sucht auch der Regisseur, der sich mit diesem | |
Werk beschäftigt hat, nach Antworten auf diese Fragen. | |
„Obwohl der Krieg irgendwo in der Ferne stattfindet, habe ich persönlich | |
das Gefühl, als ob er hier neben uns sei. Der Krieg damals und heute hat | |
uns direkt betroffen. Obwohl so viele Jahre vergangen sind, hat jede | |
Familie eine offene Wunde in Form der Erinnerung an diese Ereignisse. Es | |
ist so wichtig, dass sich diese Situation nicht wiederholt – aber darüber | |
wird heute sehr wenig gesprochen“, sagt Schamil Dyikanbaew. | |
## Kriegsgefangene und Desertion im postsowjetischen Raum | |
Desertion und das Thema Kriegsgefangene gelten im postsowjetischen Raum, | |
auch in der Kunst, [3][immer noch als Tabu]. Mit seiner neuen Inszenierung | |
versucht Dyikanbaew, diesen blinden Fleck zu verkleinern. Denn Krieg – das | |
sind nicht nur Helden, die sich schützend vor ihr Volk stellen, sondern | |
auch Menschen, die durch schreckliche, tragische Ereignisse ihr | |
menschliches Antlitz verlieren. | |
Aber um eine Krankheit zu heilen, muss man zuerst eine Wunde aufreißen. | |
Darin sieht der Regisseur den Sinn seiner Arbeit. | |
„Das größte Übel ist der Faschismus, der immer noch in vielen Menschen | |
steckt. Sie zeigen es vielleicht nicht offen, aber ich bin sicher, dass das | |
so ist. Und egal, wie sehr wir uns verstecken, es gibt kein Entrinnen“, | |
sagt der Regisseur des Stückes. | |
Jetzt arbeitet Dyikanbaew an dem Stück „Frühe Kraniche“, das ebenfalls auf | |
Aitmatows Werk basiert. Die Produktion wird in einem der regionalen Theater | |
Kirgistans gezeigt werden. Sie erzählt von den Kriegskindern, die ihre | |
Väter verloren haben und zu früh erwachsen wurden. | |
Dyikanbaew inszeniert vor allem Aufführungen für das Kammertheater. Hierbei | |
handelt es sich um ein Format, bei dem ein kleiner Saal oder ein kleines | |
Gebäude für Künstler und Zuschauer auf eine spezielle Art ausgestattet | |
sind. | |
Die Stühle stehen direkt auf der Bühne – so erlebt das Publikum das | |
Geschehen intensiver. Trotz der Beschränkungen der Zuschauerzahl erfreuen | |
sich solche Produktionen inzwischen großer Erfolge. Die Säle sind meist bis | |
auf den letzten Platz gefüllt. Bei der Aufführung „Aug in Auge“ gab es | |
gerade einmal 100 Sitzplätze. Alle waren besetzt. | |
„Dies ist eines meiner Lieblingswerke von Aitmatow. Für mich als Kind hat | |
sich immer die Frage gestellt: Warum ist es ein Verbrechen, nicht in den | |
Krieg zu ziehen? Heute ist diese Geschichte aktueller denn je, auch wenn | |
viele Jahre vergangen sind. Ich bin dem Utschur-Theater und Dyikanbaew | |
dankbar, dass sie sich dieser Thematik angenommen und mir die Möglichkeit | |
gegeben haben, Fragen zu stellen, die heute relevant sind. Die Intimität | |
der Aufführung hat es möglich gemacht, in die Dialoge eingebunden zu werden | |
und die Intensität der Emotionen zu spüren. Allerdings hätten die | |
Schauspieler besser sein können“, findet die Zuschauerin Tynymgul Eschiewa. | |
Es waren viele junge Leute da. Aber es schien, dass ihnen das Thema des | |
Zweiten Weltkriegs nicht so nah war. Und die Werke Aitmatows hatten viele | |
nicht gelesen. | |
Aus dem Russischen: Barbara Oertel | |
30 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Mahinur Niyazova | |
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