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# taz.de -- Aktivismus der Letzten Generation: Dem Souverän auf die Sprünge h…
> Der zivile Ungehorsam der Letzten Generation sei undemokratisch, heißt es
> oft. Doch die wissenschaftliche Debatte zeigt: Ganz so einfach ist es
> nicht.
Bild: Aktivist klebt, Autos stehen: Werden jetzt die Personen am Steuer für de…
Die Aktivist*innen der Letzten Generation scheinen nicht ans Aufhören
zu denken. Gleichzeitig ist keine der bisherigen Strategien von
Öffentlichkeit, Politik und Justiz, sie zu zähmen, aufgegangen. Sie wurden
ignoriert, verspottet, bestraft – sie machen einfach weiter. Warum?
Einfache Antwort: Weil sie finden, dass das Klima noch nicht hinreichend
geschützt wird. Das erklärt aber noch nicht, warum sie so hartnäckig an
ihrer Protestform festhalten, warum sie weiter auf Straßen kleben und Farbe
auf Monumente werfen.
Einer der häufigsten Vorwürfe ist: Es gibt in unserer parlamentarischen
Demokratie Verfahren, die eigenen politischen Anliegen durchzusetzen, die
Letzte Generation missachte sie. Sie versuche letztlich die durch Wahlen
legitimierte Regierung zu erpressen. Wer ihre Aktionen verteidigt,
[1][befand etwa Jürgen Kaube zuletzt in der FAZ,] stelle den demokratischen
Diskurs infrage. Doch betrachtet man den demokratischen Diskurs, so scheint
er nicht infrage gestellt zu werden. Vielmehr beginnt die Öffentlichkeit,
die demokratietheoretischen Hintergründe und Probleme der Proteste in den
Blick zu nehmen.
Auf der Frankfurter Buchmesse diskutierte kürzlich Lea Bonasera,
Mitgründerin der Letzten Generation, mit den Journalistinnen Yasmine
M’Barek und Jagoda Marinić über Widerstand und Demokratie. Warum sie denn
nicht den Marsch durch die Institutionen antreten würde, fragte Marinić. Es
gebe viele Themen, „bei denen die Menschen Veränderung wollen“, entgegnete
Bonasera, aber die Politik setze das nicht um, etwa beim Tempolimit.
Man wolle als Widerstandsbewegung „diese Demokratiedefizite aufdecken,
aufzeigen und versuchen zu beheben“. M’Barek hingegen ist skeptisch. Denn
die Deutungshoheit bei Debatten liege oft bei den Menschen, die den „Status
quo verteidigen und das auch können“.
## Fremde Menschen für die eigene Demo instrumentalisieren
Zweiter Diskursschauplatz, wiederum Frankfurt, Goethe-Universität: Dort
diskutierten Wissenschaftler*innen Mitte Oktober im Rahmen einer
Ringvorlesung über „Klimaaktivismus der Letzten Generation – Zur Legalität
und Legitimität einer politischen Praxis“. Für den Legalismus zuständig war
der ehemalige Bundesrichter Thomas Fischer, streitbarer Autor rechtlicher
Kolumnen. Die Aktivist*innen wollten, so Fischer, „nicht die Menschen,
die im Stau stehen, zu irgendwas zwingen, sondern die Bundesregierung“. Es
sei nicht gerechtfertigt, „und zwar auch nicht aus demokratietheoretischen
Gründen“, fremde Menschen für die eigene Demonstration zu
instrumentalisieren.
[2][Die Juraprofessorin Katrin Höffler sieht das anders]: Aus
kriminologischer Perspektive seien harte Strafen „schädlich mit Blick auf
Deeskalation.“ Es gebe ein „Ohnmachtsgefühl“ und es sei gut möglich, da…
die Klimabewegten zukünftig „den Staat nicht mehr zum Handeln auffordern,
sondern das Vertrauen in ihn verloren geht.“
Diskursbeitrag Nummer drei: Ein neuer Sammelband, „Kleben und Haften:
Ziviler Ungehorsam in der Klimakrise“, herausgegeben von Maxim Bönnemann,
versammelt rechtswissenschaftliche Debattenbeiträge der jüngsten Zeit.
Viele von ihnen beziehen sich auf einen Aufsatz von [3][Jürgen Habermas]
aus dem Jahr 1983. Dieser entstand im Kontext der Friedens- und
Anti-AKW-Bewegungen in den 80ern, als sich die Frage nach der
Rechtfertigung zivilen Ungehorsams ebenfalls stellte.
Er entpuppt sich als erstaunlich zeitlos. Habermas befand damals: „Wenn die
Repräsentativverfassung vor Herausforderungen versagt, die die Interessen
aller berühren, muss das Volk in Gestalt seiner Bürger, auch einzelner
Bürger, in die originären Rechte des Souveräns eintreten dürfen.“ Der
demokratische Rechtsstaat sei „in letzter Instanz auf diesen Hüter der
Legitimität angewiesen“.
## Die Anmaßung, allein über „das Richtige“ zu entscheiden
FAZ-Herausgeber Kaube hält von dieser Denkfigur offenbar nichts.
Apodiktisch schreibt er, wer die Aktionen der Letzten Generation für
legitim halte, „weil sie die Vorboten einer zukünftigen Rechtsauffassung
seien“, blicke nur abfällig auf die „althergebrachten Kommunikationsformen
der Demokratie, für die aber kein Ersatz angeboten wird, sondern nur die
mit pochendem Herzen vorgetragene Sympathie für das Gute“. Diese etwas
klebrig daherkommende Sprache verkennt den Stellenwert von Versammlungs-,
Meinungs- und Kunstfreiheit. Aber es stimmt selbstverständlich: Real ist
die Gefahr der Anmaßung, allein über „das Richtige“ entscheiden zu könne…
Habermas bemerkte dazu, ziviler Ungehorsam sei nur rechtfertigbar, weil
„auch im demokratischen Rechtsstaat legale Regelungen illegitim sein
können“. Schön, denkt man sich: Da kann ja jede*r kommen! Er konkretisiert
aber: Illegitim nicht auf Basis eines „privilegierten Zugangs zur
Wahrheit“, maßgebend seien „allein die für alle einsichtigen moralischen
Prinzipien, auf die der moderne Verfassungsstaat die Erwartung gründet, von
seinen Bürgern aus freien Stücken anerkannt zu werden.“
Stellt sich die Frage: Worauf müssten wir uns im Jahr 2023 alle einigen
können, damit ziviler Ungehorsam moralisch gerechtfertigt wäre? Unsere
Alten sollen nicht am Hitzschlag sterben, die Wälder sollten nicht jedes
Jahr aufs Neue abbrennen, die Flüsse nicht trockenfallen oder zu tödlichen
Sturzbächen werden und auch sonst wäre es gut, wenn größere Teile der Welt
nicht unbewohnbar werden würden.
Was ist nun vorläufig zu bilanzieren, knapp zwei Jahre nach den ersten
Straßenblockaden? Die Gesellschaft ist konfrontiert mit der Frage nach der
Legitimität demokratischer Mehrheits- und Minderheitspositionen und damit,
wie sich dieses Legitimitätsgefüge verschiebt, wenn man den existenziellen
Zeitdruck im Angesicht des 1,5-Grad-Ziels in Rechnung stellt. Es mag
klingen wie akademische Spiegelfechterei zum Verhältnis von politischer
Theorie und qua Grundgesetz verfasster Demokratie.
Aber die Klimakrise hat das Potenzial, wenn ungebremst, mittelfristig zur
Demokratiekrise umzuschlagen. Eine an Mehrheitsentscheidungen ausgerichtete
Demokratie, die sich ob ihrer eigenen Trägheit selbst ins Verderben stößt,
wäre paradox. Jedenfalls das ist vermutlich, nun ja, mehrheitsfähig.
30 Oct 2023
## LINKS
[1] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/letzte-generation-und-brand…
[2] /Juraprofessorin-zur-Letzten-Generation/!5897805
[3] /Neues-Buch-von-Juergen-Habermas/!5878340
## AUTOREN
Julian Sadeghi
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Kolumne Der rote Faden
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