# taz.de -- Tschechische Avantgarde in Berlin: Ein Tanz mit X | |
> Die Ausstellung „Hej rup!“ im Bröhan-Museum zeigt die tschechische | |
> Avantgarde der Zwischenkriegszeit. Poesie bekommt dabei viel Raum. | |
Bild: Ausschnitt aus Buchstabe E aus „Abeceda“, 1926, Karel Teige (Typograf… | |
Über einen Bildschirm flackert ein schwarz-weißer Film, in dem eine Frau | |
tanzt, oder man könnte auch formulieren: sehr bedeutungsvoll wirkende | |
gymnastische Verrenkungen macht. Um ihre langbeinige Gestalt herum schieben | |
sich graue, weiße, schwarze Blöcke und Linien, erscheinen immer wieder neue | |
grafische Gebilde. Dazu ertönt eine klangvolle Männerstimme. Spricht hier | |
der Dichter selbst? | |
Er deklamiert – im tschechischen Original – das Gedicht „Abeceda“ von | |
Vítězslav Nezval, in dem jede Strophe einem Buchstaben des Alphabets | |
gewidmet ist. Was die Tänzerin Milča Mayerová dazu in diesem hundert Jahre | |
alten Experimentalfilm vorführt, ist nichts weniger als die Übertragung des | |
poetischen Prinzips in Bewegung. Damit stellt sie gleichzeitig die | |
vollendete Verkörperung der Prinzipien des Poetismus dar, einer | |
avantgardistischen Strömung, die in der Tschechoslowakei der | |
Zwischenkriegszeit proklamiert und ausschließlich dort gepflegt wurde. | |
Zu Recht nimmt der Poetismus breiten Raum ein in einer Sonderausstellung | |
über die tschechische Avantgarde, die derzeit [1][im Bröhan-Museum] zu | |
sehen ist. | |
„Wir geben den Begriff ‚Kunst‘ auf und begreifen das Wort ‚Poesie‘ in | |
seinem ursprünglichen griechischen Sinne: Poiésis, das supreme Schaffen. | |
Die Poesie legt man heute nicht nur in Büchern nieder, man kann mit Farbe, | |
Licht, Ton, Bewegung, mit Leben selbst dichten“, verkündete Karel Teige, | |
seines Zeichens Künstler, Architekt, Kunsttheoretiker und Zentralgestirn | |
[2][der tschechischen Avantgarde]. Wie ein Hans-Dampf-in-allen-Gassen | |
scheint Teige auch in der Berliner Ausstellung gleichsam omnipräsent zu | |
sein. | |
## „Kunst“ und „Poesie“ | |
Ungeachtet der gewissen Sonderrolle, die die tschechische Kulturszene und | |
ihr poetistischer Künstlerbund „Devětsil“ im Verhältnis zu den | |
Nachbarländern spielten, waren die tschechoslowakischen KünstlerInnen | |
hervorragend international vernetzt und gestalteten die großen ästhetischen | |
Strömungen der Zeit aktiv mit. | |
Die Fotografie wurde abseits ihrer rein dokumentarischen Funktion als | |
Gestaltungsmedium entdeckt, Bildkomposition und formale Elemente rückten in | |
den Fokus. In der Ausstellung belegen etwa zahlreiche Fotogramme die | |
Wandlung der Fotografie zum experimentellen künstlerischen Medium. | |
## Suprematismus und Kubismus | |
In der bildenden Kunst sowie in Architektur und Design schlug sich [3][der | |
Einfluss von Suprematismus und Kubismus] eindrucksvoll nieder. Welche | |
Wirkung das kubistische Spiel mit gebrochenen Grundformen in der | |
Möbelgestaltung hatte, wird in der Ausstellung anhand zahlreicher | |
Möbelstücke anschaulich gemacht. | |
Als am nachhaltigsten sollte sich aber der Kontakt zu den französischen | |
Surrealisten erweisen, mit denen zahlreiche Mitglieder des Devětsil, | |
darunter natürlich Karel Teige, in enger Verbindung standen. Die | |
KünstlerInnen Jindřich Štyrský und Toyen lebten mehrere Jahre in | |
Frankreich, stellten dort aus und wirkten nach ihrer Rückkehr stilbildend | |
für die surrealistische Strömung in der tschechischen Malerei. | |
Im poetistischen Devětsil allerdings, wo man ja eigentlich dem Kunstbegriff | |
zugunsten einer volksnäher zu begreifenden Definition von | |
lebensdurchdringender Poesie abgeschworen hatte, wurde ansonsten gar nicht | |
mehr ständig gemalt, sondern bevorzugt geklebt: Die Collage war das | |
künstlerische Ausdrucksmittel der Zeit und für surrealistische Inhalte | |
zudem hervorragend geeignet. | |
Die politisch-gesellschaftliche Dimension der tschechischen Avantgarde kam | |
vor allem im Bereich der Architektur zum Tragen. Karel Teige, der selbst | |
auch ein Zwischenspiel als Dozent am Bauhaus gegeben hatte, stimmte in | |
etlichen Grundsatzfragen keineswegs mit dessen prominenten Protagonisten | |
überein. | |
## Kritik an Walter Gropius | |
Zum einen stellte er Walter Gropius’ prinzipielles Festhalten am Handwerk | |
infrage, sollte doch seiner Ansicht nach das Augenmerk eher auf die | |
industrielle Fertigung von Gebrauchsgütern gelegt werden. Außerdem | |
kritisierte er viele Bauprojekte zeitgenössischer Architekturstars als | |
elitär und schrieb etwa über [4][Mies van der Rohes berühmte Villa | |
Tugendhat], sie sei „ein Höhepunkt des modernen Snobismus, ein Angeberstück | |
für Millionärskultur, das bei aller formalen Qualität nichts anderes ist, | |
die Neuausgabe eines protzigen Barockpalais“. | |
Teige selbst entwarf die konkrete Vision eines Hauses mit normierten | |
Mini-Apartments für alle, wobei die funktionalen Bereiche gemeinschaftlich | |
genutzt werden sollten. Durchaus damit verwandt war die Stadt, die der | |
Schuhfabrikant Bat’a für seine Arbeiter in Zlín bauen ließ. Auch diesem | |
pragmatischen gesellschaftlichen Experiment, das sozusagen parallel zu den | |
Ideen der künstlerischen Avantgarde realisiert wurde, ist ein eigener Raum | |
gewidmet, und im Katalog zur Ausstellung wird das Thema noch vertieft. | |
Das gilt längst nicht für alle Themen, die im Rahmen der Schau selbst nur | |
angerissen werden können. Ein weiterführender Text zu Literatur, Theater | |
und Film fehlt im Katalog ganz – obgleich das Cover sogar aus den von Milča | |
Mayerová getanzten Buchstaben gestaltet wurde. | |
9 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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