# taz.de -- Wiederentdeckung des Autors Egon Bondy: Die Kunst mitten im Höllen… | |
> Egon Bondy schrieb über Verfolgung, sexueller Besessenheit und | |
> Psychiatrisierung. Seine Autobiografie ist eine wichtige Entdeckung. | |
Bild: Egon Bondy und seine Geliebte Honza Krejcarová | |
Gewesene Leute“ ist der Titel einer Kurzgeschichte Maxim Gorkis von 1897 | |
über sozial entgleiste Bürger des Zarenreichs, ein Vorläufertext für sein | |
berühmtestes Stück, das „Nachtasyl“. Die Bezeichnung aus dem späten 19. | |
Jahrhundert sollte sich nach der russischen Oktoberrevolution dann | |
einbürgern für die entmachteten Eliten der 1917 gestürzten Ordnung, für | |
jene auf den Straßen von St. Petersburg bettelnden ehemaligen Admiräle, | |
Minister und sich prostituierenden Gräfinnen. | |
Aber auch der kommunistische Putsch 1948 in der Tschechoslowakei hat solche | |
„gewesenen Leute“ hervorgebracht. Zum Beispiel Zbyněk Fišer, der sich | |
später Egon Bondy nannte: Schriftsteller, Philosoph und Bohemien, Sohn | |
eines hohen Militärs im Weltkrieg und in der Zwischenkriegszeit. Oder die | |
Tochter der in Ravensbrück ermordeten Schriftstellerin, Frauenrechtlerin, | |
Kommunistin und [1][Kafka-Freundin Milena Jesenská]: Jana Krejcarová, die | |
unter dem Spitznamen „Honza“ in der Prager Boheme berühmt war. | |
Fišer/Bondy war während der kurzen demokratischen Perioden nach Okkupation | |
und Krieg ein intellektueller It-Boy der High Society in Prag. Aber die | |
Jeunesse dorée der Tschechoslowakei – das Land war vermutlich der | |
fortschrittlichste und modernste Staat Europas, bevor Nazi-Deutschland es | |
zerschlug – stürzte 1948 ins soziale Nichts: eine der wenig bedachten und | |
beschriebenen sozialen Katastrophen der europäischen Nachkriegszeit. | |
Egon Bondys autobiografische Schilderung dieses Höllensturzes aus dem | |
Rückblick des Jahres 1981 ist jetzt in einer neuen Übersetzung von Eva | |
Profousová, ergänzt durch ausführlich-kenntnisreiche Anmerkungen, | |
Tagebücher und Gedichte Bondys sowie ein informatives Nachwort von Jan | |
Faktor, im Guggolz Verlag erschienen. | |
Das Buch dokumentiert, wie die ererbte tschechische bürgerliche | |
intellektuelle Kultur, wie Humor, Selbstironie, Resilienz und vor allem: | |
das Schreiben – über den sozialen Vernichtungswillen eines totalitären | |
Regimes triumphieren konnten. Und es zeigt zugleich die ruinösen | |
psychischen und sozialen Verluste und Opfer, die dieser Triumph gekostet | |
hat. | |
## Suche nach geistiger Nahrung | |
Bondys „Die ersten zehn Jahre“ (es sind die zwischen 1947 und 1957) | |
schildert die Odyssee zweier Menschen, des Autors und seiner Geliebten | |
Honza Krejcarová zwischen staatlicher Verfolgung, Alkoholismus, Bettelei, | |
Obdachlosigkeit, sexueller Besessenheit, Gefängnis, Psychiatrisierung, | |
Schmuggelfahrten nach Wien und dem verzweifelten Versuch, aus der sozialen | |
Katastrophe Kunst und Philosophie zu machen. | |
Der Lektüreaugenblick zum Beispiel, in dem der junge Marxist und Dadaist | |
Bondy fast epiphanisch begreift, ein wie gedanklich armseliges Buch | |
Friedrich Engels’ „Anti-Dühring“ ist (der damals offiziell gefeierte | |
Grundlagentext des „Dialektischen Materialismus“), und beschließt, auf die | |
Suche nach substantiellerer geistiger Nahrung zu gehen, gehört zu den | |
vielen eindrücklichen Momenten dieser intellektuellen Biografie. | |
Bondy kam – als jugendlicher Nachzügler – aus der „ersten“ tschechisch… | |
Avantgarde, einem surrealistisch-kommunistischen Milieu der dreißiger Jahre | |
um den Schriftsteller und Theoretiker Karel Teige, den späteren | |
Literaturnobelpreisträger Jaroslav Seifert und die Malerin Marie Čermínová | |
(„Toyen“); und er wurde in den sechziger Jahren und nach dem Einmarsch von | |
1968 zum Mentor der „zweiten“ – der antikommunistischen – Prager | |
Avantgarde, als die Band Plastic People of the Universe seine Gedichte | |
vertonte und seine Buddhismus-Studien eine Art tschechische Beat-Generation | |
inspirierten. | |
Der Aufstieg Václav Havels aus diesem prekären und hochgefährdeten Milieu | |
in die Prager Burg und ins Präsidentenamt ist der weltgeschichtlich | |
sichtbare Ausdrucks desselben intellektuellen und sozialen | |
Überlebenswillens, der mit dieser Autobiografie porträtiert wird. | |
## Massive Selbstzerstörung | |
Bondys Kunst-Ethos des „totalen Realismus“ verschweigt nicht, sondern | |
zeichnet präzise nach, dass der innere und äußere Widerstand mit massiver | |
Selbstzerstörung erkauft war; zu den erstaunlichsten Passagen seines Buchs | |
gehört die Beschreibung psychischer Grenzerfahrungen, die vielleicht | |
psychotisch gewesen sind, aus denen Bondy jedoch literarische und | |
philosophische Einsichten gewann, die plausible literarische und politische | |
Wirkungen entfalteten. | |
In den neunziger Jahren erwies sich allerdings, dass auch wiederholte | |
Phasen einer Zusammenarbeit mit dem tschechoslowakischen Geheimdienst zu | |
den Kosten gehört hat, die das Überleben damals offenbar forderte. 1993 zog | |
Bondy aus Prag nach Bratislava – eine Art Protest gegen die Teilung seines | |
Landes. | |
Dort hat er bis 2007 gelebt, den erstaunlichen wirtschaftlichen, sozialen | |
und kulturellen Wiederaufstieg der Slowakei mitverfolgt und vermutlich die | |
glücklichste Zeit seines Lebens verbracht. Der Guggolz Verlag hat mit | |
dieser Edition – [2][zum wievielten Mal] – Einblicke in eine intellektuelle | |
Weltgegend eröffnet, die uns räumlich nah, aber innerlich immer noch | |
seltsam fern geblieben ist. | |
13 Jun 2023 | |
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## AUTOREN | |
Stephan Wackwitz | |
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