# taz.de -- Buch „Posttraumatische Souveränität“: Geteiltes Trauma | |
> Kriegsangst östlicher Nachbarn: Karolina Wigura und Jarosław Kuisz | |
> analysieren andauernde Missverständnisse zwischen West- und | |
> Ostmitteleuropa. | |
Bild: Gemeinsames Schicksal: Hilfsgüter für Geflüchtete aus der Ukraine am G… | |
Ist es sinnvoll, die Situation der ostmitteleuropäischen Staaten mit dem | |
Begriff des Traumas zu erklären? In der älteren und jüngeren Geschichte | |
vieler dieser Staaten gibt es Zäsuren, für die diese Bezeichnung | |
zweifelsohne zutrifft. | |
Um nur einige wenige zu nennen: Die endgültige Teilung Polens 1795 und | |
damit der Zerfall des Vielvölkerstaats Polen-Litauen. Der | |
Molotow-Ribbentrop-Pakt 1939. Die sowjetische Besetzung des Baltikums. | |
Allein für die Ukraine könnte man reihenweise traumatische Ereignisse seit | |
dem 17. Jahrhundert aufzählen; lange bevor [1][Ostmitteleuropa zu den | |
„Bloodlands“ (Timothy Snyder) des Zweiten Weltkriegs wurde], wurde ihnen | |
ihre Souveränität wieder und wieder abgesprochen. | |
Der [2][polnische Journalist Jarosław Kuisz und die polnische Soziologin | |
und Journalistin Karolina Wigura] wenden in ihrem Essayband | |
„Posttraumatische Souveränität“ den Begriff des Traumas entsprechend an �… | |
der Problematik sind sie sich bewusst, die der Terminus mit sich bringt. | |
Er werde heute inflationär gebraucht, und doch solle man das Konzept in | |
seiner eigentlichen Bedeutung ernst nehmen: „[Ein Trauma ist] nicht nur die | |
Geschichte von etwas, das damals geschah, sondern der vorhandene Eindruck | |
des Schmerzes, des Schreckens und der Furcht, die auf Geist, Gehirn und | |
Körper wirkt und bleibende Folgen für die gegenwärtige Sicherung des | |
Überlebens des menschlichen Organismus hat“, zitieren sie den Psychiater | |
und Traumatherapeuten Bessel van der Kolk. | |
## Wiederkehrende territoriale Verluste | |
Mit diesem Konzept lasse sich erklären, warum der Westen Ostmitteleuropa | |
seit 1991 nie richtig verstanden hat, warum Westeuropa die Kriegsangst der | |
östlichen Nachbarn noch heute falsch einschätzt. | |
Kuisz und Wigura legen nahe, dass die durch die wiederkehrenden | |
territorialen Verluste erlittenen Traumata erst im Falle einer dauerhaften, | |
stabilen Souveränität überhaupt aufgearbeitet werden können. Sie ziehen | |
eine Analogie zwischen der Zwischenkriegszeit nach dem Ersten Weltkrieg und | |
der Zeit nach der Auflösung der Sowjetunion 1991. | |
Viele der kleinen und mittelgroßen Staaten, die nach 1918 in Europa | |
entstanden, wurden von denen, die die Großreiche wieder aufbauen wollten, | |
als „Unstaaten“ bezeichnet, schreiben sie. Vergleichsweise wenig | |
Anerkennung hätten die postsowjetischen Staaten in den vergangenen 30 | |
Jahren erhalten. Von östlicher Seite wurde ihnen die Existenzberechtigung | |
abgesprochen, von westlicher Seite wurden sie ignoriert – so könnte man es | |
in aller Kürze sagen. | |
Auch in Bezug auf die wiederkehrende Diskussion über einen möglichen | |
Frieden ([3][Navid Kermani], Harald Welzer) ist der Essay Kuisz’ und | |
Wiguras erhellend. „Da frühere Verluste der Souveränität in der Region zu | |
einem derartigen Ausmaß an Kriegsgräueln und Massenmorden geführt haben, | |
halten es die Gesellschaften dieser Länder für erwiesen, dass ein | |
Friedensschluss mit Russland ohne vorhergehenden militärischen Sieg über | |
das Land lediglich zu einer weiteren Wiederholung der Geschichte führen | |
wird.“ | |
## Opferkonkurrenz durch geteiltes Trauma | |
Dieser Satz fasst die grundlegende Fehleinschätzung deutscher und | |
europäischer Befürworter von Friedensverhandlungen gut zusammen, mal ganz | |
abgesehen davon, dass Frieden nach jetzigem Stand für die Ukraine überhaupt | |
erst mit Territorialverlust und einem erneuten Trauma zu haben wäre. Auch | |
die große Hilfsbereitschaft der Pol:innen gegenüber den Geflüchteten aus | |
der Ukraine erklärt das Autor:innenduo mit dem gemeinsamen Trauma. | |
Aber sie leugnen nicht, dass der Begriff auch zu Beliebigkeit führen kann, | |
wenn er falsch ausgedeutet wird. So sagen sie selbst, dass „sowohl Ukrainer | |
als auch Russen […] zweifellos in posttraumatischen Gesellschaften“ lebten, | |
was zu gefährlichen Schlussfolgerungen führen könne. | |
„Das Konzept des Traumas birgt das Risiko, das ethische Fundament unserer | |
Gesellschaften einschneidend zu verändern, indem es die Frage der | |
moralischen Handlungsmacht und des Bösen in den Hintergrund drängt“, | |
schreiben sie. Auch die Gefahr der Opferkonkurrenz bestehe. | |
„Posttraumatische Souveränität“ und der Begriff des Traumas, wie Kuisz und | |
Wigura ihn hier einführen, dienen vor allem dazu, die andauernden | |
Missverständnisse zwischen Westeuropa und Ostmitteleuropa zu erklären. | |
Dafür aber eignen sie sich hervorragend. | |
7 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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