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# taz.de -- Linke und Utopien: Das Paradies als Wissenschaft
> Marx und Engels haben utopisches Denken immer kritisch gesehen. Wie
> wollten sie die Gesellschaft verändern?
Bild: Utopien kritisch betrachtet von Marx und Engels
Der walisische Fabrikant Robert Owen boardete 1824 ein Schiff, das ihn in
die USA brachte. Im Gepäck hatte er Reformideen und große Pläne. Owen
wollte eine utopische Musterkolonie gründen. Dort sollte Ausbeutung der
Vergangenheit angehören und sich der Geist frei entfalten können. Der
Geschäftsmann kaufte dafür eine Kleinstadt in Indiana und benannte sie um
in „New Harmony“. Doch harmonisch lief es nicht. Schon 1827 scheiterte
seine sozialistische Gemeinschaft, ebenso wie andere Projekte nach Owens
Idealen.
Die USA waren noch ein junges Land, das für frische Ideen offenstand. Die
Industrialisierung rollte damals erst an, die Politik orientierte sich neu.
Selbst die ehemaligen Präsidenten John Adams und Thomas Jefferson luden
ein. Owens Gedanken inspirierten in den kommenden Jahren auch andere
sozialistische Denker, wie Karl Marx und Friedrich Engels. Owen, meinten
sie, sei es gelungen, die Produktivkräfte – also die gesamte menschliche
und maschinelle Arbeitsleistung – zum Wohle aller einzusetzen, anstatt sie
auszubeuten.
Im nächsten Atemzug kritisierten die beiden Kommunisten aber Owens
utopische Ansätze sowie andere frühe Sozialisten wie Charles Fourier oder
Henri de Saint-Simon. Ihre Gesellschaftsentwürfe hielten Marx und Engels
für naiv und unausgegoren. Sie wollten den Sozialismus stattdessen „von der
Utopie zur Wissenschaft“ bringen, wie es in Engels’ Programm des
Historischen Materialismus heißt.
Dass es Anfang des 19. Jahrhunderts so viele utopische Ansätze gab, lag an
der zerstörerischen Kraft des Kapitalismus, die sich zu der Zeit erst
entfaltete. Als Antwort ersonnen die Frühsozialisten ideale Alternativen
und – wie Robert Owen – Modellversuche eines egalitären Miteinanders. Für
Engels waren diese utopischen Ansätze Ausdruck des niedrigen
gesellschaftlichen Entwicklungsstands: „Dem unreifen Stand der
kapitalistischen Produktion, der unreifen Klassenlage, entsprachen unreife
Theorien“, schrieb er in „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie
zur Wissenschaft“.
## „Zur Utopie verdammt“
Was ihn und Marx an den Utopisten störte, war ihre Annahme, dass man die
neue, bessere Welt einfach herbeifantasieren könne. Sie glaubten nicht,
dass man die damalige Gesellschaft durch vernünftige Argumente von einem
gerechteren Miteinander überzeugen könnte, schon gar nicht durch erfolglose
Versuche.
„Diese neuen sozialen Systeme waren von vornherein zur Utopie verdammt; je
weiter sie […] ausgearbeitet wurden, desto mehr mußten sie in reine
Phantasterei verlaufen.“
Für Utopisten, so Engels, war der Sozialismus „Ausdruck der absoluten
Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit“und musste nur entdeckt werden, um aus
eigener Kraft die Welt zu erobern – unabhängig von geschichtlichen und
gesellschaftlichen Entwicklungen. [1][Besonders Marx bestand aber darauf,
den Kapitalismus genau zu analysieren]. Nur eine scharfe Systemkritik könne
den Weg aus der Ausbeutung weisen.
Um aus dem utopischen Sozialismus eine Wissenschaft zu machen, müsse er auf
einen „realen Boden“gestellt werden, schrieb Engels. Den Idealen der
Utopisten setzten er und Marx den strategischen, analytischen Blick
entgegen: Aufgabe der Analyse sei es, die handfesten Klassengegensätze in
der Gesellschaft aufzuzeigen. Dabei müssten nicht alle Teile der
Gesellschaft überzeugt werden. Vielmehr muss sich die arbeitende Klasse als
Subjekt erkennen, um den Kapitalismus in einer Revolution hinwegzufegen.
## Gefühle statt Vernunft
Ironischerweise wirkt dieses Vertrauen in die proletarische Revolution im
Rückblick selbst beinahe utopisch – aller analytischen Arbeit zum Trotz.
Doch von der marxistischen Utopienkritik können wir auch heute noch lernen.
Oftmals kritisieren Progressive den Kapitalismus mit einem Überschwang an
moralischem Eifer: Es gibt Gewinner und Verlierer, heißt es, und
Ressourcenverschwendung ist schädlich.
Diesem Unrecht setzen Linke ein Alternativmodell entgegen, welches
besonders gerecht und harmonisch scheint – ohne viele Gedanken daran zu
verschwenden, wie der Übergang vom jetzigen zum künftigen System konkret
aussehen soll.
Um zumindest selbst eine Veränderung zu spüren, ziehen sich manche
alternativ Gesinnte heute in utopische Räume zurück, wo sie ein gerechteres
Miteinander erproben wollen – etwa so wie Robert Owen in New Harmony. Die
Bewohnerinnen dieser abgeschlossenen Orte können sich von der bitteren
Wirklichkeit abkapseln. Liberale Staaten tolerieren diese Realitätsflucht
oft, kann sich dort doch umstürzlerisches Potenzial entladen, ohne dass es
den Herrschenden gefährlich wird. Das System draußen arbeitet unbekümmert
weiter.
Ähnlich wie utopisches Denken für Engels eine intellektuelle Unreife
offenbarte, kann man heute feststellen, dass die Beschränkung der Linken
auf die Utopie ein Krisensymptom ist.
Das letzte Mal, dass die westliche Linke ernsthaft das System stürzen
wollte, war in der Studierendenrevolution von 1968. Ihr Scheitern führte
zum Aufkommen der New-Age-Bewegung, die statt des Herrschaftsapparats nur
noch das individuelle Bewusstsein verändern wollte: die Selbstfindung als
revolutionärer Akt. Die Vernunft, die Engels noch kritisierte, wird hier
durch das Gefühl ersetzt.
Auf diesen Rückschritt für die politische Linke folgte 1991 der Zerfall der
Sowjetunion. Am Ende schien der Kapitalismus endgültig triumphiert zu
haben. Die britische Premierministerin und Wegbereiterin des
Neoliberalismus, Margaret Thatcher, war sich sicher: „There is no
alternative.“ Dieser vermeintliche Sieg des Kapitalismus hinterließ unter
Linken ein Gefühl der Ohnmacht, das wohl keiner so gut eingefangen hat wie
der [2][Kulturkritiker Mark Fisher] in seinem Buch „Kapitalistischer
Realismus“. Und genau hier liegt heute trotz aller Kritik das befreiende
Potenzial der Utopie, einen Ausweg aus dieser Krise der Vorstellungskraft
zu finden. Die Wünsche nach einer gerechteren Welt führen aber dazu, dass
die positiven Zukunftsentwürfe oft paradiesisch daherkommen.
Ähnlich wie in Thomas Morus’ Roman „Utopia“ beschrieben, scheinen alle
Kämpfe überwunden und Widersprüche aufgelöst zu sein. Diese
Erlösungswünsche – die bei aller Kritik durch Marx selbst in seiner Idee
von der klassenlosen Gesellschaft durchscheinen – haben nichts mit der
Wirklichkeit menschlicher Erfahrung zu tun, die immer von neuen
Herausforderungen und Konflikten bestimmt sein wird.
## Nicht der Garten Eden
Utopisches Denken täte gut daran, diese Reibereien mitzudenken. Wie das
aussehen kann, verrät ein Blick in die Literatur. Ursula K. Le Guin etwa
schreibt über Utopien, die von Schwierigkeiten geplagt sind. Die
anarchistischen Revolutionäre in „Der Planet der Habenichtse“ leben nicht
im Garten Eden. Stattdessen befinden sie sich in einem beständigen Kampf
mit widrigen Umständen und ihren eigenen Unzulänglichkeiten.
Was bereits Marx und Engels an den Utopisten störte, war keineswegs die
bessere Welt, die sie erträumten. Sie fürchteten aber, dass Utopien dazu
verdammt sind, Träume zu bleiben. Den utopischen Schwärmereien wollten sie
daher den strategischen Blick entgegensetzen und zur Revolution anstiften.
Dieses Spannungsverhältnis zwischen der Hoffnung auf Veränderung und die
für den Wandel notwendige harte Arbeit hat der Philosoph Theodor W. Adorno
treffend benannt: „[Marx und Engels] waren Feinde der Utopie um deren
Verwirklichung willen.“ Das heißt also, dass Utopien noch ihre Berechtigung
haben. Die Linke muss utopisch denken, wenn sie widerlegen will, dass der
Kapitalismus alternativlos ist. Wirkliche Veränderung erreicht sie aber nur
jenseits der Utopie.
26 Oct 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Leon Holly
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