# taz.de -- Entwicklungssprünge im Globalen Süden: Fehler einfach überspring… | |
> Westliche Industrieländer haben nicht nur energiepolitisch viel verbockt. | |
> Was der Globale Süden besser macht. | |
Bild: Solar Panel in Wakhan, Afghanistan | |
Der Globale Norden baut heute Solar- und Windenergie aus, doch vorher | |
schaufelte er seine Kohlegruben leer. Länder des Globalen Südens | |
überspringen das fossile Zeitalter teilweise. Leapfrogging nennt sich | |
dieses Phänomen. Es bezeichnet, dass ineffiziente, umweltschädliche und | |
kostspielige Entwicklungen ausgelassen werden. Drei Beispiele für | |
Entwicklungssprünge dieser Art. | |
## Energiewende: Erneuerbare Mininetzwerke statt Kohlekolosse | |
Das Problem: Viele der westlichen Industrieländer haben im 20. Jahrhundert, | |
als ihre Wirtschaft stark wuchs, die falschen Entscheidungen im Hinblick | |
auf ihre Energieversorgung getroffen. Sie setzten auf vermeintlich günstige | |
fossile Energieträger, nämlich Kohle, Öl und Gas. Heute stecken wir in | |
einer [1][Klimakrise], die maßgeblich durch diese Entscheidungen verursacht | |
wurde. | |
Der Bedarf: Wenn in den Ländern des Globalen Südens die Wirtschaft weiter | |
wächst, bedeutet das auch eine [2][steigende Energienachfrage]. In einigen | |
Ländern sind momentan noch weniger als die Hälfte aller Haushalte an das | |
öffentliche Stromnetz angeschlossen. Die Versorgung dieser Haushalte mit | |
zentralen, großen Kraftwerken ist mit viel Aufwand verbunden, weil zum Teil | |
weite Distanzen überbrückt werden müssen. Eines der UN-Ziele für | |
nachhaltige Entwicklung ist es aber, allen Menschen „Zugang zu bezahlbarer, | |
verlässlicher, nachhaltiger und moderner Energie“ zu ermöglichen. | |
Die Alternative: Kleine Stromnetze für erneuerbare Energien, sogenannte | |
Mini-Grids, können mit wenig Aufwand lokal aufgebaut werden und gezielt | |
einzelne Orte mit Strom versorgen, die bisher nicht an ein Stromnetz | |
angeschlossen sind. Diese lokalen Projekte profitieren enorm davon, dass | |
Photovoltaik-Anlagen, Wasserkraftwerke und Windräder nicht nur immer | |
effizienter werden, sondern auch deutlich [3][günstiger hergestellt werden | |
als früher] und damit mehr Menschen zur Verfügung stehen. | |
Mit mindestens 21.500 dieser Mini-Grid-Lösungen wurden 2021 etwa 48 | |
Millionen Menschen mit Strom versorgt, [4][berichtet die Weltbank]. Die | |
meisten installierten Anlagen gab es 2021 in Afghanistan. Durch seine | |
Gebirgslage erzeugt Afghanistan bereits heute 75 Prozent des gesamten | |
Stroms erneuerbar durch Wasserkraft. Gerade Menschen in ländlicheren | |
Gebieten profitieren davon aber kaum. Die Wasserkraftwerke speisen ihren | |
Strom in das nationale Stromnetz ein, mit dem viele Menschen im ländlichen | |
Raum nicht verbunden sind. | |
Mini-Grids können diesen Menschen günstig grüne Energie zur Verfügung | |
stellen. Sie müssen ihre Energie nicht mit Dieselgeneratoren erzeugen und | |
können stattdessen saubere Solarenergie nutzen. | |
## Kommunikation: Smarte Phones statt lange Leitungen | |
Das Problem: Unser Planet ist durchzogen von Telefonkabeln. Sobald eine | |
schnellere Art der Datenübertragung entdeckt wurde, verbuddelten die | |
Telefonkonzerne im Globalen Norden neue Leitungen in der Erde oder hängten | |
sie als Oberleitung von Mast zu Mast durchs Land. Festnetzverbindungen | |
waren lange Zeit sinnvoll. Allerdings werden für solche Leitungen nicht nur | |
Ressourcen für die Kabel benötigt, sondern es wird auch in die Landschaft | |
eingegriffen. Das gilt ganz besonders in Gebieten mit wenig | |
Einwohner*innen. | |
Der Bedarf: Die Frage, ob man Zugriff auf ein Netz für Telefon und Internet | |
hat, ist lange nicht mehr nur eine Kommunikationsfrage. Geld überweisen, | |
Kredite aufnehmen, Versicherungen abschließen – viele Alltagsfragen | |
funktionieren besonders in Flächenländern nur oder besser via Telefon und | |
Computer. | |
Die Alternative: Auf dem afrikanischen Kontinent und vielen anderen Teilen | |
des globalen Südens wurde der Ausbau des [5][Festnetzes] quasi | |
übersprungen. In Kenia beispielsweise besaßen laut einer Studie der | |
International Telecommunication Union im Jahr 2000 unter 2 Prozent der | |
Haushalte einen Festnetzzugang. Der technische Aufwand, Festnetzkabel | |
landesweit auszubauen, war für Kenia damals einfach zu hoch. Gleichzeitig | |
gab es zu wenig zahlungsfähige Kunden, um die anfallenden | |
Investitionskosten abzudecken. Für die Verlegung von Telefonkabeln hätten | |
große Mengen an Kupfer oder Aluminium und Isoliermaterial verbaut werden | |
müssen. Die Kabel hätten über weite Strecken hinweg unter- oder oberirdisch | |
in dem flächenmäßig sehr großen Land Unmengen an Ressourcen verbraucht. | |
Günstiger und ressourcenschonender sind Mobilfunktechnologien. Während im | |
Jahr 2000 noch kaum Mobilfunkanschlüsse für Kenia dokumentiert sind, lag | |
die Abdeckung pro 100 Einwohner*innen 2018 bei ungefähr 95 Prozent. | |
Nigeria hat mit 200 Millionen Einwohner*innen etwa 173 Millionen | |
Handyverträge. In Mali gibt es sogar mehr Handys oder [6][Smartphones] als | |
Menschen. | |
Heute haben Menschen in Afrika südlich der Sahara deutlich häufiger ein | |
mobiles Bankkonto als der Rest der Welt. Auch der Zugang zu digitalen | |
Bildungsangeboten half gerade während der Pandemie vielen Kindern, von zu | |
Hause aus weiter zu lernen. | |
Landwirtschaft: Mehr Ernte ohne Höfesterben | |
Das Problem: In vielen Ländern Europas bedeutete die Steigerung von | |
Effizienz in der Landwirtschaft das Ende kleinbäuerlicher Strukturen. Mit | |
dem Ziel, auf gleicher Ackerfläche mehr Ernte einzufahren, wurde die | |
Landwirtschaft technisierter und durch mehr Spritzmittel, synthetische | |
Dünger, Monokulturen und Massentierhaltung auch umweltschädlicher. [7][Die | |
Zahl der Betriebe ging immer weiter zurück], dafür wurden sie immer größer. | |
Geht mehr Produktivität auch ohne dass Kleinbäuer*innen aufgeben? | |
Der Bedarf: In vielen afrikanischen Ländern ist mehr Ertrag pro Fläche | |
weiterhin aus guten Gründen nötig. Teilweise gibt es nicht genug Nahrung | |
für die wachsende Bevölkerung, Lebensmittel müssen deshalb importiert | |
werden, was die Preise für die lokalen Käufer*innen weiter erhöht. Dabei | |
zeigen [8][neue Berechnungen], dass mit einer intensiveren Bewirtschaftung | |
der bestehenden Felder nicht nur alle Menschen auf dem afrikanischen | |
Kontinent ernährt werden können, sondern sogar Getreide exportiert werden | |
könnte. | |
Die Alternative: Ein Beispiel für kleinbäuerliche Zusammenschlüsse für mehr | |
Erträge ist die Organisation Babban Gona, übersetzt „große Farm“, die 20… | |
in Nigeria gegründet wurde. Die Idee ist, dass Kleinbäuer*innen sich zu | |
Vertrauensgruppen zusammenschließen, beraten werden und gemeinsam in | |
Qualitäts-Saatgut investieren. | |
Für eine intensive Nutzung der Felder spielt Saatgut eine wichtige Rolle. | |
Bislang behalten viele [9][afrikanische Bäuer*innen] einen Teil der | |
geernteten Samen, um sie in der nächsten Saison auszusäen. So müssen sie | |
kein Saatgut kaufen und bleiben unabhängig von Agrarkonzernen. Aber mit den | |
selbst geernteten Samen erzielen sie geringere Erträge als mit verbessertem | |
Saatgut, zum Beispiel sogenannten Hybridsorten, die durch Kreuzung von | |
Pflanzen mit unterschiedlichen Eigenschaften entstehen. Solches Saatgut | |
lässt sich zwar nicht jedes Jahr neu aussähen, steigert aber die Ernten. | |
Die Organisation [10][Babban Gona] kann den Bäuer*innen das Saatgut | |
günstig anbieten, weil sie große Mengen einkauft. Und sie verkauft ihre | |
Ernte zum bestmöglichen Preis. So konnten die Bäuer*innen ihre Erträge | |
bereits mehr als verdoppeln und dennoch verschiedene Betriebsgrößen | |
erhalten. | |
22 Oct 2023 | |
## LINKS | |
[1] /klima | |
[2] /Globale-Energiewende/!5935675 | |
[3] /Ausgebremste-Energiewende/!5493905 | |
[4] https://www.esmap.org/mini_grids_for_half_a_billion_people_the_report | |
[5] /Archiv-Suche/!5888448&s=telefonnetz&SuchRahmen=Print/ | |
[6] /Frei-von-Smartphone/!5957923 | |
[7] /Solidarischer-Getreideanbau/!5908148 | |
[8] https://www.berlin-institut.org/fileadmin/Redaktion/Publikationen/PDF/BI_Sc… | |
[9] /Slow-Food-in-Uganda/!5900274 | |
[10] https://babbangona.com | |
## AUTOREN | |
Yannik Achternbosch | |
Melina Moehring | |
Sophie Fichtner | |
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