# taz.de -- Nach den Kämpfen im Nordkosovo: Alles eine Frage der Interpretation | |
> In Serbien und Kosovo rollt die Propagandamaschine an. Viele Fragen | |
> bleiben offen, doch gewiss ist: Beide Seiten gießen Öl ins Feuer. | |
Bild: Kosovo am 25.09.2023, Kosovarische Polizisten zeigen beschlagnahmte Waffe… | |
BELGRAD taz | Ein Polizist wurde getötet, zwei wurden verwundet. Die | |
Polizei erschoss drei Angreifer. Die Polizisten sind Albaner, die Angreifer | |
Serben. Alles begann am frühen Sonntagmorgen im Dorf Banjska im | |
größtenteils von Serben bewohnten Nordkosovo. Augenzeugen berichteten von | |
sporadischen Schießereien den ganzen Tag über. Die kosovarische Polizei | |
verkündete, sechs verdächtige Serben festgenommen zu haben. | |
Das weiß man bis jetzt über das [1][Blutbad im Kosovo]. Alles andere sind | |
Spekulationen – und die sind, wie immer wenn es um serbisch-albanische | |
Probleme geht, teils widersprüchlich. | |
In Kosovos Hauptstadt Pristina war sofort klar: Aus Belgrad unterstützte | |
„serbische kriminelle Banden“ hätten einen terroristischen Angriff auf | |
kosovarische Rechtshüter ausgeübt. Eine „professionelle Formation“ sei am | |
Werk gewesen, erklärte Kosovos Ministerpräsident Albin Kurti, die | |
„finanziell und logistisch“ untersützt werde aus Belgrad. Er warf, | |
abermals, Serbien vor, Kosovo destabilisieren zu wollen. | |
Aus der serbischen Hauptstadt Belgrad betrachtet hatte man dagegen nicht | |
den Eindruck, dass serbische Behörden von der bewaffneten | |
Auseinandersetzung etwas ahnten. Der Parlamentspräsident sagte am | |
Sonntagmorgen nur Vages über den Vorfall, andeutend, dass Albaner Schuld | |
seien an allem. Aber dann herrschte den Tag über Funktstille. Man wartete | |
auf Staatspräsident [2][Aleksandar Vučić]. | |
## Die serbischen Medien sind sich in der Schuldfrage einig | |
Der meldete sich erst zwanzig Stunden nach dem Blutvergießen zu Wort. Der | |
„einzige Schuldige“ sei Albin Kurti, sagte Vučić in einer Ansprache an das | |
serbische Volk. Kurtis „größter Wunsch“ sei es, Sebien wieder in einen | |
Krieg mit der Nato hineinzuziehen. Früher hatte Vučić den kosovarischen | |
Regierungschef „terroristischer Abschaum“ genannt. | |
Dementsprechend sahen am Montag auch die Titelseiten der gleichgeschalteten | |
serbischen Boulevardpresse aus: „Kurtis Terroristen töten Serben“; „Das | |
Blut klebt an Kurtis Händen“; „Blutige Früchte des Terrors, den Pristina | |
ausübt“. Ein ähnlicher Ton war im Morgenprogramm der ebenfalls | |
gleichgeschalteten serbischen Fernsehsender zu hören. | |
Die These der Machthaber in Serbien lautet: Die Repression gegen die Serben | |
im Kosovo sei so inakzeptabel, dass man sich nicht wundern braucht, wenn | |
sich jemand zur Wehr setzt. Selbst wenn Serben tatsächlich zuerst auf | |
albanische Polizisten geschossen hätten, seien sie provoziert worden, denn | |
die kosovarische Polizei habe, laut den Brüsseler Abkommen, in mehrheitlich | |
von Serben bewohnten Gemeinden ohnehin nichts zu suchen. | |
Die wenigen kritischen serbischen Medien spekulierten, Vučić habe die | |
Kontrolle über einen Teil der im Kosovo lebenden Serben verloren, jedoch | |
könne allein Kurti einen Nutzen aus der jüngsten Krise ziehen. Vereinzelt | |
hörte man auch, dass man in dem bewaffneten Vorfall eine „russische | |
Handschrift“ erkennen könne. | |
## Mehr Fragen als Antworten | |
Derweil gibt es mehr Fragen als Antworten: Wer sind die Serben, die | |
albanische Polizisten angriffen? Woher hatten sie die Waffen? Wie kann es | |
sein, dass niemand etwas mitbekommen hatte: weder kosovorische oder | |
serbische Sicherheitsdienste noch die internationale Friedenstruppe Kfor | |
der Nato, die EU-Mission im Kosovo Eulex oder die UN-Mission Unmik? | |
Dabei ist bekannt, dass Kosovo ein Pulverfass ist. Erst im Mai waren rund | |
30 Kfor-Soldaten bei Krawallen im Nordkosovo verletzt worden. | |
Der „Brüsseler Dialog“, Gespräche zwischen Belgrad und Pristina unter der | |
Obhut der EU und amerikanischem Nachdruck, waren noch vor dem jüngsten | |
Vorfall in eine Sackgasse geraten. Der Druck der EU und USA war in den | |
letzten Wochen auf Kurti konzentriert, er sollte der Gründung einer | |
[3][Assoziation serbischer Gemeinden] zustimmen, einer | |
Selbstverwaltungsorganisation der Serben im Kosovo. Kurti lehnte das ab. | |
Noch vor einem Jahr haben Serben aus Protest alle Institutionen des Kosovo | |
verlassen. | |
Wie es weiter gehen soll, weiß niemand. Anstatt zu versuchen, die Situation | |
zu beruhigen, heizen beide Seiten das Feuer immer weiter an. | |
25 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Konflikt-zwischen-Serbien-und-Kosovo/!5961949 | |
[2] /Sanktionen-fuer-Serbiens-Geheimdienstchef/!5947205&s=Aleksandar+Vu& | |
[3] https://www.derstandard.de/consent/tcf/story/2000143022972/neuer-vorschlag-… | |
## AUTOREN | |
Andrej Ivanji | |
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