| # taz.de -- Kunstbiennale im Kosovo: Mit Ironie in Ruinen | |
| > Die klitzekleine Autostrada-Kunstbiennale im Kosovo ist so schön wie | |
| > politisch. Und das Bottom-Up-Projekt begibt sich in ein kulturelles | |
| > Vakuum. | |
| Bild: Skanderbeg-Denkmal in Pristina ohne Skanderbeg von Luchezar Boyadjiev (Au… | |
| Pferde ohne Reiter, hoch erhoben auf ehernen Sockeln. Luchezar Boyadjievs | |
| Werke sind schon oft ausgestellt worden. Aber noch nie dürften sie so gut | |
| platziert worden sein wie auf der 4. Autostrada-Biennale jetzt im | |
| kosovarischen Prizren. Seit zwanzig Jahren dekonstruiert der bulgarische | |
| Künstler mit seinen Fotografien die [1][Repräsentation von Militärs, | |
| Königen und nationalen Helden auf öffentlichen Plätzen]. Dazu retuschiert | |
| er aus Reiterstandbildern, die er auf der ganzen Welt ablichtet, die | |
| menschlichen Gestalten heraus. Boyadjievs Serie mit dem ironischen Titel | |
| „On vacation …“ hängt derzeit in einem stillgelegten Militärhangar in d… | |
| ehemaligen Terrain der UN-KFOR-Truppen, die die Demilitarisierung des | |
| Kosovo nach den Kriegen 1998/99 überwachen sollten. | |
| In diesem gut bewachten Kontext geben seine täuschenden Bilder einen | |
| besonders starken Kontrast ab. Als die KFOR-Truppen 2018 das Feldlager | |
| unter dem Kommando der Bundeswehr, das schon im osmanischen Reich | |
| militärisch genutzt worden war, verließen, nutzte die klitzekleine | |
| Autostrada-Biennale in Kosovos zweitgrößter Stadt die Gelegenheit. Flugs | |
| verlegte sie ihr Hauptquartier in das Gelände, in dem die Stadt gerade ein | |
| Innovationszentrum aufbaut. | |
| Autostrada, der Name der 2017 zum ersten Mal veranstalteten | |
| Kunstausstellung, klingt wie eine Kreuzung [2][aus einem Fellini-Film der | |
| 50er Jahre] und der Werbung der Berliner CDU für ihr bevorzugtes | |
| Mobilitätsmittel. Doch der Name funktioniert mehr als ironische Metapher | |
| auf die zahlreichen Investitionsruinen, die in vielen Ländern des Balkans | |
| ihre Spuren hinterlassen haben – von nicht fertiggestellten Shopping-Malls | |
| bis zu Autobahnen. Der Bildhauer Leutrim Fishekqui, die Pädagogin Vatra | |
| Abrashi und der Filmregisseur Baris Karamuço, damals alle Endzwanziger, | |
| wollten lieber in etwas Sinnvolles investieren. Deshalb gründeten sie diese | |
| Kunst-Biennale. | |
| In dem Kreis der weltweit rund 250 Biennalen ist Autostrada etwas | |
| Besonderes. Den balkanischen Kunst-Aficionados geht es nicht um | |
| Spektakel-Kultur oder Standortmarketing. Sie wollten das kulturelle Vakuum | |
| in einem Land füllen, in dem die bildende Kunst kaum eine Rolle spielt. | |
| Zwischen den mehrwöchigen Ausstellungen im zweijährigen Turnus, wie der | |
| jetzigen, sollte sie auch als Anlaufstelle für junge Menschen dienen, die | |
| ihre künstlerischen und kreativen Kräfte schulen wollen, aber im Kosovo | |
| keine Möglichkeit dazu finden. Nahezu jede:r, der im 2008 unabhängig | |
| erklärten Land Kunst machen möchte, will in Deutschland studieren. Für | |
| einen Staat mit knapp zwei Millionen Einwohnern ist dieser Braindrain ein | |
| Problem. Rund 60 Jugendliche haben nun die Curator Labs und die | |
| Bildungsprogramme der Autostrada-Biennale durchlaufen, mehr als die Hälfte | |
| von ihnen Frauen. | |
| In dieses innovative Format haben die beiden Kuratorinnen Joanna Warsza und | |
| Övül Durmuşoğlu für die nunmehr zweite von ihnen verantwortete Ausgabe den | |
| Geist einer widerständigen Ästhetik eingefüllt. Das Berliner Duo, weit über | |
| Berlin hinaus bekannt geworden durch seine [3][„Balkone“-Ausstellung] 2020 | |
| in Prenzlauer Berg während der Pandemie, versteht sich auf eine spannende | |
| Balance aus Politik und Schönheit. | |
| ## Denkmäler entideologisieren | |
| Steht für die Politik ein Mann wie Luchezar Boyadjiev, steht für die | |
| Schönheit Neda Saeedi. Die Künstlerin hat das leere Zentrum des alten | |
| Partisanendenkmals an der Flusspromenade von Prizren mit einer gelb-blauen | |
| Glasarbeit sacht entideologisiert, in der sechs stilisierte Amseln | |
| umeinanderkreisen. Damit nimmt sie den Mythos des Amselfeldes auf, der das | |
| Wort Kosovo bedeutet. | |
| Gleich gegenüber hat Kostas Bassanos Walter Benjamins berühmten Satz „Es | |
| ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne ein solches der Barbarei zu sein“ | |
| aus großen Holzbuchstaben an den Lauf des Lumbardhi-Flusses gestellt, er | |
| durchspringt Prizren wie ein Gebirgsbach. Ein kritisches Memento, das den | |
| anschwellenden Tourismus in der pittoresken Destination mit vielen | |
| Kulturdenkmälern vielleicht nicht zur Umkehr, aber doch für ein paar | |
| Minuten zum Nachdenken bringen könnte. | |
| In der eine Fahrtstunde entfernten Hauptstadt Prishtina hat Hera | |
| Büyüktaşcıyan den Hof einer ausrangierten Ziegelfabrik mit leuchtend blauen | |
| Stoffbahnen ausgelegt, um an die vergessenen oder verbauten Wasserläufe des | |
| Kosovo zu erinnern. I | |
| Im Unterschied zur [4][Manifesta, die im vergangenen Jahr mit derlei | |
| Arbeiten ebenfalls in Prishtina gastierte], ist die kleine | |
| Autostrada-Biennale aber eine selbstorganisierte Bottom-up-Initiative vor | |
| Ort. Der Wille, sich mit Kunst und Kultur gleichsam selbst aus dem Sumpf | |
| des schleichenden Bedeutungsverlust ihrer Heimat zu ziehen, ist die überall | |
| spürbare Energie dieses bewundernswerten Unternehmens. Unter ihrem | |
| Biennale-Titel „All images will disappear one day“ spielen Warsza und | |
| Durmuşoğlu mit der Idee von der Nachhaltigkeit der Kunst, die sie gegen die | |
| kurzlebige visuelle Kultur der Gegenwart setzen. Wobei sie natürlich mit | |
| jedem ihrer 30 ausgewählten Werke den Beweis für die nie endende Präsenz | |
| aller Bilder liefern. | |
| Immerhin etwas von ihrer Idee, das Unsichtbare, Verborgene sichtbar zu | |
| machen, scheint in den Arbeiten des 1930 geborenen Xhevdet Xhafa auf. In | |
| Westeuropa ist dieser grandiose Vertreter des abstrakten Expressionismus | |
| nahezu unbekannt. In großformatigen, monochromen, [5][an Pierre Soulages | |
| erinnernden] Bildern, hat er Alltagsgegenstände integriert. Was bleibt, | |
| wenn die Bilder verschwinden, so ließe sich seine, „Autobiographie“ | |
| betitelte Serie interpretieren, sind vage, amorphe Erinnerungen. | |
| 17 Jul 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ingo Arend | |
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