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# taz.de -- Jahrestag des Münchner Abkommens: Sozialdemokraten in Not
> Am 30. September 1938 wurde das Sudetenland durchs Münchner Abkommen ans
> Deutsche Reich abgetreten. Es hatte fatale Folgen für Antifaschisten.
Bild: Im Herbst 1938 vertreiben Nazis tschechische Familien aus dem Sudetenland
Georg Rubner lebt mit seiner jungen Familie seit 1937 im Volkshaus in Eger
(Cheb) im [1][Sudetenland]. Nur wenige Kilometer trennen die westlichste
Stadt der Tschechoslowakei vom Deutschen Reich.
Am 12. September 1938 sitzt vermutlich fast das gesamte Sudetenland vor dem
Radio, um zu hören, was Adolf Hitler vor Zehntausenden Anhängern zum
Abschluss des [2][NSDAP]-Parteitags sagen wird. Seit dem „Anschluss“
[3][Österreichs] im März 1938 hat sich die Situation weiter zugespitzt, die
Nazis auf beiden Seiten der Grenze forderten immer aggressiver die
Eingliederung des mehrheitlich deutschsprachigen Grenzgebiets ins Deutsche
Reich.
Auch Georg Rubner hört die Rede, obwohl er Sozialdemokrat ist. Adolf Hitler
ruft seinen Anhängern in Nürnberg unter anderem zu: „Dieses Deutschland
steht nun vor uns, und wir haben das Glück, in ihm zu leben. Anderen
Deutschen ist dieses Glück zurzeit noch verwehrt.“ Im gesamten Sudetenland
lösen seine Worte bei den Anhängern der Sudetendeutschen Partei (SdP)
Begeisterung aus. Die seit Jahren brodelnde Stimmung eskaliert innerhalb
weniger Tage. Während europäische Diplomaten sich bemühen, einen Weltkrieg
zu verhindern, kommt es im September 1938 im Sudetenland zu
bürgerkriegsähnlichen Zuständen zwischen Anhängern der SdP und ihren
Gegnern.
1938 befindet sich die Deutsche Sozialdemokratische Arbeiterpartei in der
Tschechoslowakischen Republik (DSAP) bereits seit fünf Jahren im Widerstand
gegen den Aufstieg des Nationalsozialismus in ihrem Land, aber auch im
benachbarten Deutschen Reich. Nach der Machtübernahme Hitlers hilft die
DSAP massiv beim Aufbau von SPD-Auslandsstrukturen und unterstützt den
Widerstand im Reich.
## SPD-Schwesterpartei entsteht
Die Schwesterpartei der SPD entsteht nach dem Ersten Weltkrieg in der nun
unabhängigen Tschechoslowakei und wirbt um die Stimmen der etwa drei
Millionen Menschen zählenden deutschsprachigen Minderheit, die im
mehrheitlich deutschsprachigen Grenzgebiet zum Deutschen Reich und
Österreich lebt. 1929 gewinnt die DSAP die meisten deutschen Stimmen in den
Parlamentswahlen. Ende 1937 zählt die DSAP 80.000 Mitglieder. Daneben
bieten parteinahe Organisationen wie Gewerkschaften, Jugendverbände,
Konsumvereine oder Arbeitersportorganisationen eine Heimat.
1933, im Jahr von Hitlers Machtübernahme, gründet Konrad Henlein in Eger
die Sudetendeutsche Heimatfront (ab 1935: Sudetendeutsche Partei), die sich
zunächst als staatsloyale Partei stilisiert, aber ab März 1938 offen
nationalsozialistisch auftritt. Ihr Aufstieg ist lawinenartig: Bei den
Parlamentswahlen von 1935 gewinnt sie zwei Drittel der sudetendeutschen
Stimmen.
Seit 1933 zählt der 36-jährige, in Prag lebende Ernst Paul, Redakteur des
„Sozialdemokrat“, zu den wichtigsten Organisatoren der Unterstützung für
die reichsdeutschen Sozialdemokraten. Paul führt auch die
sozialdemokratische Selbstschutzorganisation, die Republikanische Wehr. Die
uniformierte RW hat 1938 ungefähr 7.000 Mitglieder.
Ihre Hauptaufgabe ist es, sozialdemokratische Organisationen in der CSR vor
den zunehmenden Übergriffen der Henlein-Anhänger zu schützen. Die wachsende
Bedrohung beantwortet sie auch mit öffentlichen Bekenntnissen zur
demokratischen Tschechoslowakei. Im Juli 1937 schwört Ernst Paul in Aussig
(Ústí nad Labem) vor 5000 RW-Leuten: „Wir geloben unsere Bereitschaft,
gemeinsam mit dem tschechoslowakischen Volk an unserem Staat zu bauen und
ihn zu verteidigen.“
## Morddrohungen und Belagerungen
Jedoch bekennen sich immer weniger Sudetendeutsche zur Demokratie. Die
sozialdemokratische Aufklärungsarbeit erreicht nur wenige Menschen.
Zwischen Dezember 1937 und März 1938 steigt die Mitgliederzahl der SdP von
548.000 auf 759.000. Als im März 1938 Österreich besetzt wird, finden
überall im Sudetenland Freudenfeiern statt. Der „Anschluss“ an das Deutsche
Reich wird gefordert. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wird das Leben für die
meisten Gegner der SdP unerträglich im Sudetenland: Es gibt Morddrohungen
gegen sie, Lehrer und Schüler begrüßen sich mit „Heil“, Kinder von
Sozialdemokraten werden in der Schule mit Messern bedroht, jüdische
Geschäfte von SdPlern belagert.
Bei den im Mai 1938 stattfindenden Gemeindewahlen ist die Repression durch
die SdP so massiv, dass die DSAP in vielen Gemeinden gar keine Wahllisten
mehr aufstellen kann. Bei der Wahl entfallen ungefähr 90 Prozent der
Stimmen auf die SdP. Ihre Mitgliederzahl steigt im Sommer auf 1,3 Millionen
– das sind mehr als ein Drittel aller Sudetendeutschen. Ein
sozialdemokratischer Abgeordneter beschreibt die Situation im Sudetenland
wie folgt: „Wenn wir nach Prag kommen, so haben wir den Eindruck, aus einem
besetzten Land in ein freies Land zu kommen.“
Anfang September 1938 verschärft sich die Lage im Sudentenland. Henlein
hatte Hitler besucht. Ernst Paul mobilisiert daraufhin die RW in die
Bergarbeiterstadt Dux (Duchcov). 10.000 Frauen und Männer kommen und
bekennen sich in dieser ausweglosen Lage öffentlich zur Verteidigung der
Demokratie. Nach Adolf Hitlers Rede am 12. September brechen geplante
Unruhen aus. Zehntausende SdP-Anhänger gehen auf die Straßen und versuchen
die Kontrolle über ihre Gemeinden zu gewinnen. Sie überfallen Zollämter,
Polizeistationen oder sozialdemokratische Einrichtungen. Das Ziel: Sie
wollen eine Volksabstimmung erzwingen. In vielen Gemeinden ereignen sich
Szenen wie in der Kleinstadt Eger.
Dort ziehen am 12. September hunderte Henlein-Anhänger zum Marktplatz. Sie
schlagen die Schaufenster jüdischer und tschechischer Geschäfte ein und
kommen zum Volkshaus, in dem Georg Rubner mit seiner Familie und elf
weitere sozialdemokratische Familien leben, erinnert sich später Georg
Rubners Sohn Otto. In dem Haus befinden sich zudem Büroräume der DSAP und
Gewerkschaften sowie eine Kneipe mit Saal für Veranstaltungen. An diesem
12. September will die Menge das Volkshaus stürmen. Sie schlagen alle
Fenster ein und geben Schüsse auf das Volkshaus ab. Georg Rubner und seine
Familie ziehen sich mit den anderen Bewohnern in den dritten Stock zurück,
sie müssen um ihr Leben fürchten.
## 30.000 Sudetendeutsche verlassen das Land
Aus der Ferne in Prag hilft Ernst Paul am Telefon bei der Entwicklung einer
Verteidigungsstrategie. Mitglieder der Republikanischen Wehr verteidigen
mit vier Revolvern bewaffnet das Haus gegen den Mob. Erst nach einer Stunde
taucht die Polizei auf und kann die Menge zurückdrängen. Nach den
Ereignissen dieser Tage organisiert die DSAP die Evakuierung von
gefährdeten Sozialdemokraten und ihren Familien ins Landesinnere. 30.000
antifaschistische Sudetendeutsche verlassen in den nächsten Tagen das
Sudetenland. Auch die Rubners beschließen, dass Eger zu gefährlich geworden
ist.
Am 16. September wird die SdP im Sudentenland verboten. Ihre Anführer
fliehen ins Deutsche Reich. Von dort aus beginnt das Sudetendeutsche
Freikorps, das zuletzt mehrere zehntausend Männer zählt, mit weiteren
Terroraktionen gegen Staatsvertreter und Antifaschisten vorzugehen.
„Mitbürger, es geht um alles!“, heißt es in einem letzten großen Aufruf …
DSAP dieser Tage. „Vor allem in den Hochburgen sind Sozialdemokraten
bereit, die Grenze zu schützen, sie wissen, was ihnen droht“, sagt der
Historiker Thomas Oellermann heute. Daher unterstützen in Rothau (Rotava),
Tetschen (Děčín) und anderen Orten die RW-Männer den Grenzschutz und die
Polizei bei der Aufrechterhaltung der Ordnung im Sudetenland.
Nicht wenige, darunter auch Ernst Paul, gehen in diesen Tagen davon aus,
dass es zum Krieg mit Deutschland kommen würde, weswegen er noch mit der
Aufstellung einer Armeeeinheit aus RW-Mitgliedern verhandelt. Doch es kommt
anders. Großbritannien und Frankreich glauben noch mit ihrer
Appeasementpolitik einen großen Krieg verhindern zu können. Sie gehen auf
die Forderung Hitlers nach Abtrennung des Sudetenlandes ein. Die
tschechoslowakische Regierung erhält bei ihren Verteidigungsbemühungen
keine Unterstützung. Am 30. September 1938 besiegelt das Münchener Abkommen
das Schicksal der Tschechoslowakei.
Am 1. Oktober beginnt der Einmarsch der Wehrmacht in das Sudetenland.
Überall wird sie von vor Freude weinenden Menschen begrüßt. Einem Teil der
Sudetendeutschen geschieht nun das, was ihnen die SdPler angedroht hatten:
Sie werden öffentlich misshandelt und durch die Straßen getrieben, 10.000
bis 20.000 deutsche Antifaschisten werden verhaftet – kommen ins Gefängnis
oder ins Konzentrationslager. Von ihrer Regierung erfahren die
sudetendeutschen Sozialdemokraten wenig Hilfe: Geflüchtete werden von der
Regierung zurück ins Sudetenland geschickt.
Mangels Alternative geht auch Georg Rubner zurück. Noch am Bahnhof von Eger
wird er wie so viele andere festgenommen. Zwei Jahre wird er in den
Konzentrationslagern Dachau und Flossenbürg inhaftiert. Ernst Paul gelingt
im Herbst 1938 die Flucht nach Schweden. Andere gehen nach England oder
Kanada und treten im Weltkrieg alliierten Armeen bei. In weiser Voraussicht
hatte die sudetendeutsche Sozialdemokratie im September 1938 gewarnt:
„Gleichberechtigung durch Frieden oder Untergang durch Krieg.“ Sie sollten
recht behalten.
27 Sep 2023
## LINKS
[1] /Tag-der-Sudetendeutschen-in-Nuernberg/!5301785
[2] /Braune-Tradition-zwischen-Main-und-Alpen/!5956403
[3] /Oesterreich-russische-Beziehungen/!5959246
## AUTOREN
Stefan Braun
## TAGS
Sudetendeutsche
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