Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Szeneviertel in Kyjiw: Das Kreuzberg von Kyjiw
> Kyjiws Stadtteil Podil ist lebendig und divers. Doch der russische
> Angriffskrieg ist nicht die einzige Gefahr für das urbane Soziotop.
Bild: In Podil ist alles kleiner und übersichtlicher als im restlichen Kyjiw
Das Lokal Avtostantsiya im Kyjwer Stadtteil Podil ist wie eine lauschige
Insel. Im klimatisierten Innenraum hängt eine Karte mit einem Busnetzplan,
denn das Lokal war einmal das Zentrum des örtlichen Busnetzes. Ein Paar der
grünen Plastikbänke des Wartesaals stehen noch an der Wand. Statt
Fahrkarten gibt es heute Kimchi und Pizza, auch vegan, und für Abkühlung
sorgt hausgemachte Limonade auf Kamillenteebasis.
Vor dem Beginn von Russlands großer Invasion wurde Kyjiw wegen seines
[1][Nachtlebens] mit Berlin in den 1990er Jahren verglichen. Während der
Pandemie lockten die vergleichsweise lockeren Regeln feierfreudiges
Publikum aus dem Ausland zu mehr oder weniger legalen Raves in frühere
Fabrikgebäude. Wenn Kyjiw das neue Berlin ist, dann ist der Stadtteil Podil
sozusagen [2][Kreuzberg].
Das Viertel liegt direkt am westlichen Ufer des Dnipro in der Nähe des
Hafens. Dessen großflächige Anlagen, eine alte Brotfabrik und die Hügel im
Westen rahmen den Stadtteil ein. Der Rest der Innenstadt Kyjiws liegt auf
den Hügeln. Dorthin gelangt man entweder mit der Zahnradbahn oder mit einer
der drei U-Bahnstationen in wenigen Minuten. Wer Zeit hat oder zu Besuch
ist, wählt gern den verkehrsberuhigten Andreassteig. Dort bieten Händler
Kunst und Trödel vor historischer Kulisse an. Ein Postkartenmotiv.
Tania Kozak will in der Avtostantsiya am Nachmittag ein bisschen von ihrem
Lieblingsviertel erzählen. Die ukrainische Journalistin lebt seit rund 20
Jahren dort. „Eigentlich war es Zufall. Ich bin wegen meinem Freund
hierhergezogen“, sagt sie. Aber inzwischen wolle sie nie mehr weg.
## Einzigartige Mischung
„Die Mischung hier ist in Kyjiw einzigartig.“ Es gebe viele kleine Läden,
immer wieder entstehe etwas Neues: „Viele junge, kreative Menschen leben
hier.“ Dazu trägt sicherlich auch bei, dass sich mitten in Podil der
Hauptsitz der Nationalen Universität Kyiw-Mohyla-Akademie befindet. Sie ist
zwar nicht die größte, aber die älteste Universität des Landes.
Podil ist eines der ältesten Viertel der Stadt und auch heute noch von
Bauten aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert geprägt, die entlang
der schmalen Straßen im Schachbrettmuster in vier oder fünf Stockwerken
gebaut sind.
Die Sowjetzeit hat bis auf eine Markthalle mit geschwungenem Dach kaum
[3][architektonische Spuren] hinterlassen. Alles ist eine Nummer kleiner
und übersichtlicher als im Kyjiw der breiten Boulevards und Hochhäuser auf
den Hügeln und am gegenüberliegenden Dnipro-Ufer.
## Widerstand der Anwohner
Tania Kozak hofft, dass möglichst viel von Podils Charme erhalten bleibt.
Immer wieder komme es nämlich vor, dass historisch wertvolle Gebäude
vernachlässigt werden, bis sie nicht mehr zu retten sind oder es einen
Brand gibt.
Hassobjekt vieler Anwohner ist seit einigen Jahren das „Monster von Podil“,
ein zwölfstöckiges Wohn- und Bürogebäude an der zentralen Kreuzung, dessen
Fassade eine wilde Mischung aus Architekturstilen abbildet. Es gibt
Türmchen, Erker, runde, eckige und ovale Fenster sowie Fassadenteile in
Braun und Dottergelb. Das Monster blockiert sogar eine
Fußgängerunterführung.
Dass es Druck aus der Immobilienwirtschaft gebe, sei nicht überraschend.
Das Viertel liege praktisch noch in der Innenstadt. Aber es gibt auch
Widerstand. Lokale Aktivisten haben sich zusammengefunden. Es gibt
Facebookgruppen und Telegramchannels. Die einen engagieren sich für den
Erhalt historischer Bausubstanz, andere gegen Baumfällungen.
## Divers und lebendig
Podil ist auch der diverseste Stadtteil Kyjiws, sagt Kozak. Menschen in dem
Viertel waren in der Vergangenheit Ziel von Attacken: Im Herbst 2021 hatten
20 Rechtsradikale versucht, in eine Bar einzudringen, weil diese in ihren
Augen ein Treffpunkt von Drogensüchtigen und Angehörigen der
[4][LGBTQ-Community] ist.
„Ich habe mein ganzes Leben in Podil verbracht“, erzählt Sergey, abgesehen
von Urlaubsreisen und drei Monaten direkt nach Beginn von Russlands
Invasion. Da ist Sergey, der nicht will, dass sein voller Name
veröffentlicht wird, mit seiner Frau und seinen Eltern in den Westen der
Ukraine geflohen. „Aber nachdem die Russen aus der Umgebung der Stadt
vertrieben waren, schien es uns sicher genug, zurückzugehen.“
Sergey mag, dass Podil lebendig ist. Und trotzdem habe es noch die Ecken,
die sich seit seiner Kindheit nicht verändert haben. Durch die oft unebenen
Straßen rumpeln jahrzehntealte Straßenbahnen.
## Invasion macht erfinderisch
Der 33-Jährige arbeitet im Management einer IT-Firma, die einem
internationalen Konzern gehört. Damit verdient er für ukrainische
Verhältnisse überdurchschnittlich, hat ein modernes Auto, eine
Eigentumswohnung und kann regelmäßig ausgehen. Über Gentrifizierung müsste
er sich erst mal keine Sorgen machen. Aber er wisse, dass es für andere
schwieriger ist.
In einer Seitenstraße führt Sergey in eine Kellerbar. Der Mann an der Theke
begrüßt ihn mit Handschlag. Der Laden bietet eine Auswahl an lokalem
Craftbeer. Sergey entscheidet sich für das Weizen, es kostet mehr als das
Doppelte eines Bieres aus den ukrainischen Großbrauereien. „Die lassen sich
immer etwas Neues einfallen. Sogar jetzt“, schwärmt Sergey von der Bar. In
den ersten Wochen nach der Invasion sei das Leergut für Molotowcocktails
benutzt worden.
Nach dem zweiten Bier ist Schluss. Um 22 Uhr schließen in Kyjiw die
Restaurants. Die [5][Ausgangssperre] beginnt zwar seit mehren Monaten erst
um Mitternacht, doch auch die Mitarbeiter der Gastronomie müssen irgendwie
nach Hause kommen. Da kann es schon mal schwierig werden, ein Taxi zu
bekommen. Und je später es wird, desto höher schießen die Preise in den
Taxi-Apps.
In Zukunft könnte der Autoverkehr Probleme machen. Derzeit brausen die
meisten Autos auf der mehrspurigen Uferstraße am Viertel vorbei. Doch vor
der russischen Invasion waren die Bauarbeiten an einer neuen Dniprobrücke
ganz in der Nähe wiederaufgenommen worden. Deren Zubringer würde direkt
nach Podil führen. So ein bisschen hat auch Kyjiw – wie Berlin – seine
[6][Autobahn-Diskussion].
29 Sep 2023
## LINKS
[1] /Feiern-in-Kyjiw/!5894593
[2] /Merz-ueber-Gillamoos-und-Kreuzberg/!5955170
[3] /Historikerin-ueber-Architektur-im-Krieg/!5884249
[4] /LGBT-in-der-Ukraine/!vn5839211
[5] /Alltag-in-der-Ukraine/!5875617
[6] /Clubs-gegen-A100/!5950099
## AUTOREN
Marco Zschieck
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Gentrifizierung
Kyjiw
Architektur
Gastronomie
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Digitale Medien
Osteuropa – ein Gedankenaustausch
## ARTIKEL ZUM THEMA
Landwirte in der Ukraine: Minen mit dem Traktor räumen
In der Ukraine kommt der Staat mit dem Räumen verminter Felder kaum
hinterher. Landwirte helfen sich jetzt selbst – mit ferngesteuerten
Traktoren.
Künstler in Russland: Lange Liste unerwünschter Musiker
Nicht nur die Band Zveri, auch andere russische Musiker dürfen in Russland
nicht auftreten. Ihr Vergehen: Kritik am Krieg.
Berliner Onlineportal über Ukraine-Aufbau: Was aus den Ruinen entstehen kann
Sofia E. ist aus Russland nach Berlin geflohen. Nun hat sie „Pyl“
grgründet, das sich vor allem mit dem Wiederaufbau der Ukraine beschäftigt.
Feiern in Kyjiw: Einfach mal abtauchen
Um dem Kriegsalltag zu entfliehen, kann man in eine Bar gehen. Gerade wirkt
der erste Cocktail – dann ertönt eine Sirene. Luftalarm.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.