# taz.de -- Auf Auswärtsfahrt mit Union Berlin: Es war einmal in Madrid | |
> Union Berlin feierte sein historisches Champions-League-Debüt beim | |
> Rekordmeister Real Madrid. Kein Wunder, dass die Mauerfallvokabel die | |
> Runde machte: Wahnsinn. | |
Bild: Knapp verloren, schön wars trotzdem: Unioner mit Losglück im Gästebloc… | |
MADRID taz | Der Weg zum Spiel der Spiele für den 1. FC Union würde kein | |
leichter sein, so viel war klar nach der Auslosung der | |
Champions-League-Gruppe. Erste Partie auswärts gleich bei Real Ma-drid, dem | |
Rekordgewinner dieses Wettbewerbs. Um dabei zu sein, brauchte es Glück. Nur | |
rund 3.500 Auswärtstickets kamen in die Lostrommel des Vereins, was für | |
mich schon mal wenig Gutes verhieß. Ich hatte nämlich nie mehr Losglück, | |
seit ich Ende der 70er Jahre bei der Sportlerball-Tombola im „Altmärker“ in | |
Arendsee einen Eierschneider zum Preis von 50 Ostpfennigen gewonnen hatte. | |
Überraschenderweise bekam ich jedoch eine Mail, dass mein Los gewonnen | |
hatte. Halleluja, aber natürlich verbunden mit Folgekosten. Die Anreise! | |
Unions Supportervereinigung Virus, kurz für „Verein Infizierter Rotweißer | |
Union-Supporter“, hatte ein paar Charterflieger organisiert. Finanziell und | |
ökologisch alles schwierig, aber wenn Fußballfantum zu etwas verleitet, | |
dann zum Nicht-drüber-Nachdenken in außergewöhnlichen Situationen. Und eine | |
solche lag ja definitiv vor mit dem ersten Champions-League-Spiel in der | |
Köpenicker Vereinsgeschichte. | |
Man merkte es schon beim Abholen der Tickets letzte Woche am Union-Stadion | |
An der Alten Försterei. Mitten an einem Wochentag führten drei Schlangen zu | |
den Fensterluken direkt am Wald der Wuhlheide. Aufgekratzte Stimmung unter | |
den Wartenden. Das schürte Erinnerungen an einen Septembertag im Jahr 1987, | |
als ein kleines Kassenhäuschen im Treptower Park stand, an dem allen | |
Ernstes Karten für ein „Friedenskonzert der FDJ“ mit Bob Dylan verkauft | |
wurden. | |
10 Mark für den Messias, unglaublich. 36 Jahre später hatte man plötzlich | |
ein personalisiertes Ticket für ein Heimspiel von Real Madrid in der Hand. | |
Die alte Mauerfallvokabel machte wieder die Runde: Wahnsinn. Begleitet vom | |
individuellen Newsaustausch vor allem zum Thema Reiserouten. So viel war | |
klar, viele Flugwege von Unionern führten nach Madrid, von Stuttgart, | |
Hamburg, Frankfurt, Amsterdam und in meinem Fall vom BER. | |
## Köpenicks „Reisekader“ | |
Am Mittwoch ging's los. Morgens halb fünf auf dem S-Bahnhof Adlershof, | |
viele Frühgestalten in Rot. Spontane Flugplanvergleiche und erste | |
Kennenlerngespräche mit Mitreisenden oder wie es fanseitig gern heißt: | |
Unions „Reisekadern“, in Anspielung auf den kleinen Teil der DDR-Elite, dem | |
es erlaubt war, ins nicht-sozialistische Ausland zu reisen. Irgendwas | |
Ostiges wird immer ironisch gepflegt. | |
Rolf, rotes, ausgeblichenes FCU-Basecap, rotes T-Shirt „Union | |
international“ mit einer Weltkugel in der Faust, kennt den Begriff | |
Reisekader noch gut. Er gehörte in der DDR nicht zu ihnen. Rolf arbeitete | |
als Physiker nach seinem Studium in Moskau ab 1985 in Adlershof, aber | |
Westreisen waren für ihn tabu, erzählt er. Dafür beteiligte er sich an | |
Reisen zu den Sternen. Entwickelte Satellitentechnik mit, erstmals 1988 für | |
die Reise zum Mars-Mond Phobos, konkret ein Messgerät zum Bestimmen des | |
Magnetfelds auf dem Trabanten. 1996 hat er dann hauptverantwortlich eine | |
Software für einen Mars-Satelliten programmiert. | |
Dazwischen hatte sich für ihn die Welt ordentlich gedreht. Mauerfall, nun | |
war sein Leben komplett neu zu programmieren. Auch das Union-Fansein. | |
1970/71 hatte Rolf sein erstes Union-Spiel gesehen. 1988, als er das erste | |
Mal an einem Raketenausflug beteiligt war, gab es das legendäre 3:2 in | |
Karl-Marx-Stadt, bei dem Union in letzter Sekunde den Klassenerhalt | |
sicherte. 1996, bei Rolfs zweiter Mars-Mission, spielte Union in der | |
Regionalliga Nordost, gegen die Reinickendorfer Füchse und Optik Rathenow. | |
Und nun, am Mittwoch, war er unterwegs nach Madrid. Zum „größten Spiel der | |
Vereinsgeschichte“, wie er sagt. Was für eine Reise. Von Köpenick zum | |
Heimatplaneten der Galaktischen, wie das erfolgsverwöhnte Real Madrid auch | |
genannt wird. Das Losglück fürs Ticket ins Bernabeu-Stadion brauchte Rolf | |
natürlich auch, denn seine „Eisern Card“ für lebenslang freien Eintritt, | |
die er vor 15 Jahren zu Regionalligazeiten für 2.222 Euro kaufte, gilt nur | |
für die Heimspiele von Union. Wenn es nicht Real geworden wäre in der | |
Gruppe, sondern Schachtjor Donezk, die ihre CL-Heimspiele in Hamburg | |
austragen, hätte er sich übrigens auch gefreut. Nach Kriegsbeginn hatte | |
Rolf mit seiner Frau eine ukrainische Familie in seinem Haus aufgenommen | |
und ihr auch eine Wohnung in Marzahn besorgt. „War nicht einfach.“ Das | |
Leben besteht ja nicht nur aus Union. | |
## Chaos beim Einlass | |
Am Mittwoch aber dann doch. Nicht nur für ihn, sondern für tausende Fans, | |
die sich am Mittag auf dem Plaza Puerta del Sol im Zentrum Madrids | |
eingefunden hatten. Der Platz ist offiziell der geografische Mittelpunkt | |
Spaniens (selbstverständlich wurde leicht getrickst), weshalb sich viele | |
ausländische Touris gern hier am Null-Kilometerstein fotografieren. In der | |
Mittagssonne, wo der Platz von roten gekleideten Berlinerinnen und | |
Umland-Berlinern übervölkert war, machten Asiatinnen und Südamerikanerinnen | |
nun jedoch Selfies mit dem auffälligen Pulk im Hintergrund. Unioner als | |
Madrider Touristenattraktion, das fanden sie toll. Die Polizisten weniger. | |
Sie drängten die zum Fanmarsch entschlossenen Fans in die U-Bahnstation. Am | |
Ende kamen trotzdem alle zeitig am fünf Kilometer entfernten Stadion | |
Bernabeu an. | |
Etliche Unionfans hatten sich Tickets im Heimbereich organisiert. | |
Teilweise, indem sie Mitglied bei Real Madrid wurden. Die Spanier haben | |
jetzt geschätzt einige hundert neue Vereinsmitglieder, für ein Jahr. Die | |
Unionfans im Auswärtsblock erlebten am Einlass chaotische, provokant | |
langwierige und teils schikanöse Kontrollen von Polizei und Security. | |
Transparente und Banner waren verboten. Am Ende konnten nicht alle Fans die | |
Champions-League-Hymne vor dem Anpfiff erleben. 300 Union-Ultras | |
verzichteten deswegen trotz Tickets sogar auf den Stadionbesuch, was Unions | |
Fansolidarorganisation „Eiserne Hilfe“ auf X, vormals Twitter, fragen ließ, | |
ob Real das erste Mal internationale Spiele mit Auswärtsfans ausrichte. | |
Das Spiel selbst, bei dem die Berliner Chants das Madrider | |
Operettenpublikum ziemlich übertönten, endete fast mit einem Remis. Wäre da | |
nicht wieder so eine letzte Minute gewesen, die in die Union-Geschichte | |
eingeht. Diesmal mit einem Tor, das den allerersten Champions-League-Punkt | |
verhinderte. Aber gut. „Das Spiel war trotzdem toll und macht diese Reise | |
für mich keinen Deut weniger besonders und historisch“, sagte Rolf, während | |
wir nachts um zwei am Flughafen in der Schlange an den Check-in-Schaltern | |
standen. Dort wurde es noch mal leicht konfus, weil die richtigen | |
Zuordnungen der Flüge offenbar doch eine Raketenwissenschaft sind. Aber am | |
Ende sind aber alle wieder in Berlin gelandet. | |
21 Sep 2023 | |
## AUTOREN | |
Gunnar Leue | |
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