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# taz.de -- Unsichtbarkeit von Long Covid: Einfach nur ausruhen
> Long-Covid-Betroffene müssen noch immer für die Anerkennung ihrer
> Krankheit kämpfen. Nur wenige Spezialist*innen kennen sich gut aus.
Bild: Atemtrainig eines Long-Covid-Patienten in einer Reha-Klinik
Gut zwei Monate ist es nun her, dass das Gesundheitsministerium sehr
medienwirksam seine Informationskampagne zu Long Covid vorgestellt hat. Für
uns Betroffene hat sich dadurch vor allem eines geändert: Unsere Umwelt
denkt, das Problem sei nun gelöst. Es ist, als seien die Beschwerden fort,
wenn man uns Patient*innen nur besser aufklärt. Dem ist mitnichten so.
Für viele der Betroffenen gibt es noch keine Heilung, allenfalls die
Behandlung einzelner Symptome. Zu diesem Teil gehöre ich.
Von allen möglichen [1][Spätfolgen des Coronavirus] habe ich, wie
Hunderttausende andere auch, die dämlichsten abbekommen:
„Belastungsintoleranz“ und Post-Exertionelle Malaise (PEM) – eine
Zustandsverschlechterung nach Belastung. Schon infolge von nur geringer
Anstrengung verschlechtert sich der körperliche Gesamtzustand massiv und
vollkommen unverhältnismäßig für Tage, manchmal für Wochen oder gar Monate.
Anfangs, vor eineinhalb Jahren, hieß das in meinem Fall: einmal zur
Toilette gehen, für Stunden nicht nur erschöpft sein, sondern vollkommen
entkräftet, Konzentrationsstörungen, Kopfschmerzen, Gliederschmerzen,
Frieren, Herzrasen und vieles mehr. Andere Betroffene wären froh, sie
könnten überhaupt allein auf die Toilette gehen. Inzwischen kann ich schon
deutlich mehr tun, bevor die Entkräftung einsetzt. Das Problem aber besteht
weiter: PEM gilt als unheilbar.
Mediziner*innen haben auf PEM keine Antwort, allzu viele kennen sie
bis zum heutigen Tage noch nicht einmal. Die üblichen Mechanismen der
Medizin funktionieren nicht: Sport, ein bisschen abnehmen, sich
zusammenreißen – bei PEM ist das der Stoff, aus dem Bettlägerigkeit
entsteht. Trotzdem hören viele Betroffene von ihren Ärzt*innen die
gängigen Ratschläge.
## Seit den 1960er Jahren bekannt
Man müsse sich auch mal fordern und zusammenreißen, die Erschöpfung sei bei
dem Übergewicht ja kein Wunder, und ob man sicher sei, nicht unter
Depressionen zu leiden. Manche Mediziner*innen halten PEM für etwas,
zu dem man eine Meinung haben könne: „Ich glaube nicht dran“, sagen sie Nur
einzelne Spezialist*innen kennen sich tatsächlich gut aus.
Das ist insofern erstaunlich, da die Krankheit schon seit den 1960er Jahren
bekannt ist und nicht nur vom Coronavirus ausgelöst werden kann. Allerdings
trägt sie den missverständlichen Namen: [2][ME/CFS]. Dabei steht CFS für
[3][chronisches Fatigue-Syndrom]. Das klingt verharmlosend. Der Dramatik
der Krankheit wird der Name in keiner Weise gerecht.
Wer PEM hat, kann zurzeit vor allem eines machen: nichts. Das aber mit viel
Disziplin. Pacing heißt dieses Energiemanagement. Nie zu viel machen, immer
aufhören, deutlich bevor es schlechter geht. Dadurch bekommt man unsere
Krankheit kaum zu Gesicht. Gesehen werden wir nur, wenn es uns gut genug
geht, aus dem Haus zu gehen und Sozialkontakte zu pflegen. Dann bekommen
wir zu hören: „Du siehst aber ganz gut aus.“ Sehen wir auch – noch.
Zu Hause wendet sich das Blatt, denn PEM tritt zeitversetzt auf, wenn wir
dann vollkommen entkräftet auf dem Sofa liegen. Grenzen einhalten, zur Ruhe
finden, Pausen mache – das ist weder etwas, was wir gelernt haben, noch
das, was wir uns wünschen, noch was unsere Gesellschaft uns einfach
zubilligt. Die meisten von PEM Betroffenen werden ununterbrochen gezwungen,
über ihre Grenzen hinauszugehen: Wir müssen den Ärzten und Ärtztinnen
gegenüber darum kämpfen, ernst genommen zu werden.
## Kampf um Geld und Verständnis
Wir müssen kämpfen, bis Geld kommt, das ausreicht, davon zu leben. [4][Wir
kämpfen mit den Krankenkassen], mit Freunden und Angehörigen. Und wir
kämpfen mit dem eigenen Anspruch, mehr leisten zu müssen. All das kostet
viel mehr Kraft, als wir haben. Es verschlechtert den Gesundheitszustand
und verschleppt die Genesung.
Ich selbst genese zurzeit sehr langsam und weit weg vom Gesundheitssystem.
Das lässt mich ratlos und wütend aufs „System“ zurück. In den letzten
Wochen mache ich mehr Fortschritte als das ganze Jahr davor. Fortschritte,
die man sogar mit bloßem Auge erkennen kann, für die man kein Mikroskop
mehr braucht. Der Weg ist immer noch sehr weit. Aber jeder Zentimeter ist
Freiheitsgewinn. Jede Minute Kraft zählt.
Dabei mache ich nur das, was eigentlich selbstverständlich sein sollte,
wenn der Körper erschöpft und entkräftet ist: Ich ruhe mich aus und achte
darauf, mich nach Möglichkeit nie zu überanstrengen, um PEM zu vermeiden.
Das war es. Nur den Selbstheilungskräften nicht im Weg stehen.
## Man darf alles sein, nur nicht entkräftet
Es ist reiner Zufall, dass ich ein Sabbatjahr angespart hatte, das mir
erlaubt, diese Ruhe zu finden. Meine Frau und ich sind für ein Jahr ins
Wohnmobil gezogen und machen eine Long-Covid-gerechte Zeitlupenreise durch
Frankreich und Spanien. Ich sitze auf dem Beifahrerinnensitz, und meine
Frau macht die Arbeit. Je länger die Reise geht, je weiter ich mich von
jedweder Form des Angetriebenwerdens entferne, desto mehr kann mein Körper
wieder leisten.
Warum wird uns eine solche Ruhe nicht zugebilligt? Oder besser noch: gleich
als Kur verordnet? Rehas, in denen man trainiert, strikt seine eigenen
Grenzen einzuhalten und gegen alle eigenen Wünsche nach Aktivität und
Behandlung und gegen alle gesellschaftlichen Konventionen zu verteidigen.
Wir leben in einer Welt, in der man alles sein darf, nur nicht entkräftet.
Dabei sind längst alle erschöpft.
Der Arzt, der die Entkräftung diagnostizieren müsste, würde feststellen:
Auch er geht seit Jahren über seine Grenzen. Ruhe ist die Sehnsucht unserer
Zeit. Das geht so weit, dass mich manche um eine Krankheit beneiden, die
ich selbst als Gruß aus der Hölle erlebe. Wie soll man uns Ruhe gönnen,
wenn man sie sich selbst nicht zubilligt? Und so kämpfen wir Betroffenen
weiter: gegen treibende Mediziner*innen, Verwandte und Bekannte, Behörden
und den eigenen Anspruch. Dabei könnten wir mit der nötigen Ruhe vielleicht
sogar gesund werden.
21 Sep 2023
## LINKS
[1] /Leben-mit-Long-Covid/!5870106
[2] /Petition-zum-Fatigue-Syndrom/!5835731
[3] /Diagnose-Chronisches-Fatigue-Syndrom/!5938615
[4] /Long-Covid-Erkrankte-in-Niedersachsen/!5947968
## AUTOREN
Maria A. Sinning
Maria A. Sinning (Pseudonym)
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