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# taz.de -- Waldbrände in Griechenland: Brandstiftung von rechts
> In der Region Evros an der Grenze zur Türkei machen Einheimische
> Migranten für das Feuer verantwortlich – und greifen teilweise zur
> Selbstjustiz.
Bild: Sakis Terzidis besucht seinen verbrannten Ziegenstall und füttert seinen…
Evros taz | Sakis Terzidis, 52, Fünftagebart, drahtig, Tarnhose, Kappe mit
geradem Schirm, hält seinen alten Traktor nach einer Viertelstunde kräftig
durchrüttelnder Fahrt auf einer Anhöhe an. Terzidis steigt aus und zeigt
auf einen verbrannten Acker in der Ebene. Der Acker sei schon beim ersten
großen Feuer im Südevros verbrannt, erklärt er. Am 19. August, einem
Samstag, habe die Feuersbrunst im zehn Kilometer entfernten Ort Melia
begonnen. Angefacht von starken Winden habe sich das Melia-Feuer mit
rasender Geschwindigkeit nach Westen ausgebreitet. Die Feuerwalze
hinterließ eine Schneise der Verwüstung.
Plötzlich, [1][am 23. August], sei mitten auf dem Acker ein Auto gestanden.
„Ich habe es von Weitem gesehen. Was hatte es da zu suchen? Ausgerechnet
auf einem verbrannten Acker, dazu in der Siesta, um Viertel vor drei“, sagt
Sakis Terzidis. In unmittelbarer Nähe von dem Acker mit dem geparkten Auto
darauf, so Terzidis weiter, sei ein neues Feuer ausgebrochen. Dieses lokale
Feuer habe Kermes-Eichen erfasst, die das große Melia-Feuer verschont
hatte. Rasch seien zwei Löschflugzeuge abgehoben, ferner ein Hubschrauber.
Wie schon beim Melia-Feuer hätten sie zwar abermals verhindert, dass das
Feuer den nahe gelegenen Ort Agnadia erreicht. Was sie nicht retten
konnten: Sakis Terzidis’ Ziegenstall.
Für ihn ist klar, wie das zweite Feuer, das seine Existenz ruinierte,
ausbrach. „Das war Brandstiftung“, sagt er lapidar. „In den allermeisten
Fällen sind das Lathrometanastes. Wer sonst?“ Schon seine Wortwahl ist eine
Wertung. „Lathrometanastes“ sind Migranten, die „lathrea“, „geschmugg…
über die nahe Türkei nach Griechenland kommen. So als ob es sich um
Schmugglerware wie Schnaps oder Zigaretten handelte, nicht um Menschen.
Dass unbedarfte Migranten im Freien ein Feuer zum Kochen oder Aufwärmen
machen und so fahrlässig einen Brand auslösen, hält er für abwegig. „Die
haben doch nur Kekse oder so etwas dabei. Kocht man Kekse?“ Dass Migranten
Brandstifter sind, ist Sakis Terzidis’ Narrativ. Mit dieser Meinung ist er
nicht allein. Immer mehr Menschen in der Region Evros hetzen gegen
Migranten und [2][beschuldigen sie der Brandstiftung]. Für die Migranten
ist die Region nur eine Zwischenstation ihrer Route. Viele wollen weiter
nach Deutschland. Einheimische halten sie bei ihrer Flucht auf, nehmen sie
eigenhändig fest und übergeben sie dann an die Polizei. Es ist eine neue
Eskalationsstufe in der Migrationsfrage.
Terzidis startet wieder seinen Traktor. Nach einer weiteren Viertelstunde
Fahrt durch eine verbrannte Landschaft ist sein Ziegenstall auf der
Rückseite des Hügels erreicht. Die Szenerie ist gespenstisch. Zuletzt hatte
er zwanzig Ziegen, die er alleine versorgte. Ein mühsamer Job. Seine Tiere
rettete er früh, als der erste große Waldbrand, das Melia-Feuer, in der
Region tobte. Er brachte das Vieh in den Hof seines Hauses in Agnadia. Als
er seinen zerstörten Ziegenstall das erste Mal sah, musste er heulen. „Das
war mein Leben“, seufzt er.
Christos Kapnas, 26, stechender Blick, athletischer Typ, drückt einem so
kräftig die Hand, dass es fast weh tut. Er diente bei den Gebirgsjägern der
griechischen Streitkräfte. Kapnas wohnt im 431-Seelen-Ort Doriskos im
Südevros, nur ein paar Autominuten von der türkischen Grenze entfernt. Im
Sommer jobbt er in der Gastronomie, ab September ist er arbeitslos. Untätig
ist er nicht. Christos Kapnas nimmt Migranten fest. Auf offener Straße, auf
Feldern, in Wäldern, in von Migranten vorübergehend bewohnten Häusern.
Überall. Gezielt. Konsequent.
Laut Kapnas treten die Lathrometanastes in Gruppen auf. Fünf, zehn oder
zwanzig Leute. Meist sind das jüngere Männer. Nach dem Übertreten der
Grenze schmeißen sie ihre Pässe weg. „Ich weiß, wo ihre Routen verlaufen.
Ich halte sie an, frage sie nach ihren Namen, nach Papieren. Haben sie
keine Papiere, fordere ich sie mit energischer Stimme dazu auf, stehen zu
bleiben. Ich trage keine Waffe. Eine klare Ansage reicht, um ihnen Angst
einzujagen: ‚Ich diskutiere nicht mit euch!‘ Sie fügen sich, fallen auf die
Knie – und die Sache ist vorbei. Ich rufe die Polizei.“
Nur selten leiste jemand Widerstand, so Kapnas. „Vielleicht versucht einer,
mit einem ins Gespräch zu kommen, zu verhandeln. Fasst mich jemand an,
werfe ich ihn sofort auf den Boden und fessele ihn.“ Womit? „Mit den
Schnürsenkeln seiner Schuhe.“ Die Ordnungshüter kennen ihn. Nach zehn,
fünfzehn Minuten komme die Polizei und nehme die Migranten mit, sagt
Kapnas. Ob sie sie auf die Polizeiwache brächten oder in die Türkei
zurückdrängen würden, wisse er nicht.“ Wie oft er Migranten festgenommen
habe? “In den letzten drei, vier Jahren etwa fünfhundert Mal“.
Flüchtlinge aus Kriegsgebieten würde er akzeptieren, fügt er hinzu, aber
„nicht aus Ländern, in denen kein Krieg herrscht“. Er findet, dass
Menschen, die illegal über die Grenze kommen, sich der Polizei stellen
sollen. Andere Leute in seinem Dorf seien ebenfalls „selbsternannte
Sheriffs“, so Kapnas. Sie seien in seinem Alter, es gebe jüngere und viel
ältere. „Diejenigen, die das nicht gut finden, beschimpfen uns als
Faschisten oder Rassisten. Ich kann dazu nur sagen: Ich bin lieber ein
Faschist als ein Idiot.“
Blöd findet die Polizei Kapnas und Co offenkundig nicht. Gemeinsam würden
sie im Evros patrouillieren – auf der Suche nach Migranten. „Die Polizei
vertraut uns“, sagt Kapnas. Von den Politikern fühlt er sich im Stich
gelassen. Der Spartaner Leonidas habe mit nur 300 Soldaten die
übermächtigen Perser bekämpft, hebt er hervor. „Was tun heute die 300
Abgeordneten in Athen?“, frage er sich. Er gibt die Antwort. „Sie ist nicht
druckfähig.“
Kapnas hat rote Linien. Verwerflich sei, was ein anderer „selbsternannter
Sheriff“ am 22. August, auf dem Höhepunkt des Feuers im Südevros im Ort Nea
Chili tat. In einem Video im Internet sagt ein griechisch sprechender Mann,
er habe Migranten „eingesammelt“. „Ich habe ‚25 Stück‘ geladen“, g…
sind Migranten, wobei er auf einen Autoanhänger zeigt. „Sie werden uns
verbrennen. Sie werden uns verbrennen!“, ätzt er und öffnet die Tür. Im
Innenraum sind einige Migranten zu sehen.
„Der ganze Berg ist voll von ihnen“, poltert er hernach, um zu einem Pogrom
aufzurufen. „Organisiert euch, um sie zusammenzutreiben!“, ruft er in
seiner Tirade. Derweil ist bekannt, dass der Fahrzeugbesitzer, ein Albaner,
seit mehr als dreißig Jahren im Evros lebt. Auf dem Video zieht er einen
Anhänger, in dem 13 illegale Einwanderer syrischer und pakistanischer
Herkunft festgehalten werden. Zwei Griechen haben ihm mutmaßlich geholfen.
„Alle Migranten sind Brandstifter!“ Das ist das Narrativ des
Entführer-Trios.
Kapnas verurteilt ihr Vorgehen. „Migranten sind auch nur Menschen. Sie sind
kein Müll, den man in einen Anhänger steckt.“ Sein Motto bleibe: „Ruf die
Polizei an! Dreh kein Video!“ Sind die Migranten Brandstifter?“ „Das ist
ein schwerer Vorwurf“, räumt Kapnas ein. Dass es im Evros so viele
Brandherde gegeben habe, könne aber kein Zufall sein. Vorsätzlich einen
Brand zu legen, könne nur in Absprache geschehen, unterstreicht er. Selbst
wenn dies nur wenige Migranten betreffe: „Einen Schatten wirft das auf
alle.“ Das ist Christos Kapnas’ Narrativ.
[3][Die Region Evros] in Griechenlands äußerstem Nordosten ist nach dem
gleichnamigen Fluss benannt (Türkisch: Meric) und bildet in
Nord-Süd-Richtung in weiten Abschnitten die gut 200 Kilometer lange
Festlandgrenze zur Türkei. Ab dem 19. August brannte die Region Evros.
Zuerst wütete das Melia-Feuer im Südevros. Dass das Feuer in Melia nach
einem Blitzeinschlag ausbrach, gilt als gesichert, wie offizielle Quellen
bestätigen.
Ab dem 21. August brach im [4][Dadia-Nationalpark] in Zentralevros ein
weiteres Großfeuer aus. War auch hier ein Blitzeinschlag die Brandursache?
Oder Brandstiftung? Die Ermittlungen laufen, Ergebnisse gibt es bisher
keine. Es ist eine schwierige Suche, wie ein Feuer seinen Anfang nimmt.
Vermutungen, Spekulationen, Vorwürfen und Bezichtigungen sind Tür und Tor
geöffnet.
Beide Großfeuer im Evros vereinten sich zu einem Megafeuer. In knapp drei
Wochen fielen im Evros über 93.500 Hektar Land den Feuern zum Opfer. Das
entspricht einer Fläche größer als die von Berlin. Das Evros-Feuer ist der
größte Waldbrand in der EU seit Beginn der Aufzeichnungen. Der ökologische
und ökonomische Schaden in der dünnbesiedelten, strukturschwachen Region
Evros ist enorm. Demografisch und wirtschaftlich war der Evros schon vor
dem Feuer ausgeblutet, nun liegen weite Teile in Schutt und Asche.
Unstrittig ist, dass der Evros schon lange eine Migrantenroute darstellt.
Die Migranten wollen hier nur eines: weiter. Ihr Ziel: vor allem
Deutschland. Die Regierung in Athen unter dem konservativen Premier
Kyriakos Mitsotakis brüstet sich damit, eine restriktive Flüchtlings- und
Migrationspolitik zu verfolgen. Griechenland soll eine Festung sein. Laut
dem Athener Migrationsministerium wurden in den ersten sieben Monaten
dieses Jahres 11.672 illegale Neuankömmlinge registriert, die über die
Festland- und Seegrenze nach Griechenland kamen, etwa ein Fünftel in die
Region Evros. Dass es wirklich so wenige sind, glaubt im Evros keiner.
So einer ist Georgios Chatzigeorgiou. Besonders sauer sei er auf die
skrupellosen Schlepper. Er habe es nicht mehr gewagt, die einzige Autobahn
im Evros zu benutzen. Schlepper würden in gestohlenen, mit Migranten
vollbesetzten Autos nicht nur mit Karacho durch die Orte im Evros, sondern
auch als Geisterfahrer auf der Fernstraße in Richtung Thessaloniki rasen,
um der sie jagenden Polizei zu entkommen. Zwei tödliche Unfälle hätten sich
zuletzt ereignet, klagt er. „Das Migrantenproblem hat schlimme
Auswirkungen auf unser Leben“, sagt Chatzigeorgiou. Nach heftigen Protesten
der Einwohner kontrolliert die Polizei die Ein- und Ausfahrten der
Autobahn. Chatzigeorgiou begrüßt das.
Der 48-Jährige ist Ortsvorsteher im 486-Seelen-Ort Avantas im Südevros. In
einem schicken Lokal am Hauptplatz nimmt er einen Schluck vom servierten
Erfrischungsgetränk. Das Feuer, das aus Melia kam, habe 80 Prozent der
Waldfläche von Avantas vernichtet. Dabei hatte Chatzigeorgiou Avantas als
Wanderparadies etabliert. Das sei nun vorbei. „Da, wo alles grün war, ist
nur noch Asche.“ Das Feuer in Melia sei „sicher auf einen Blitzeinschlag“
zurückzuführen, sagt er. Mit Blick auf die Ursache des anderen Großfeuers
im Dadia-Nationalpark, das weiter nördlich wütete, sei „nichts
auszuschließen“, ebenso nicht ein „feindlicher Akt“ der Türkei. Das ist
Georgios Chatzigeorgious Narrativ.
Ortswechsel in den zentralen Evros, wo das Großfeuer im Dadia-Nationalpark
ausbrach. Jannis Dermentzoglou, 68, von Beruf Gerichtsvollzieher,
Mitgründer der nationalkonservativen Parlamentspartei Griechische Lösung
(Elliniki Lysi/EL) bittet zum Gespräch in sein Wahlkreisbüro im Herzen der
Gemeinde Soufli, einen Steinwurf von der Grenze zur Türkei entfernt. „Das
war früher die Bäckerei meines Großvaters. Sehen Sie, das ist der Ofen“,
sagt er sichtlich stolz.
Das Ambiente lässt keinerlei Fragen offen. Überall hängen Plakate seiner
Partei, auf denen das Konterfei des Parteichefs und Sprüche wie „Hellas
zuerst! Die Griechen zuerst! Machen wir Griechenland wieder griechisch!“
prangen. Auf seinem Schreibtisch liegt ein Buch mit dem Titel
„Migranteninvasion und griechische Krise“.
Nirgendwo sonst holt die Griechische Lösung so viele Stimmen wie im Evros,
einer traditionell konservativen Region. Bei den jüngsten Parlamentswahlen
Ende Juni holte sie hier 8,83 Prozent der Stimmen, ein doppelt so hoher
Stimmenanteil wie im Rest des Landes. Nationalistische Positionen gedeihen
in der Grenzregion, der Nährboden dafür ist fruchtbar. Wie das Athener
Forschungsinstitut Eteron in einer jüngsten Studie ermittelte, gaben 6,1
Prozent der Griechen an, eine „nationalistische Gesinnung“ zu haben. Bei
den EL-Wählern schnellt der Wert auf 24,2 Prozent in die Höhe. Ideologisch
verankert im Nationalismus sehen sich 3,6 Prozent der Wähler [5][der
konservativen Regierungspartei Nea Dimokratia.]
Dermentzoglou lästert nicht nur über die [6][Syriza-Regierung], die das
Zepter in Athen von 2015 bis Juli 2019 in der Hand hielt. „Mitsotakis ist
viel schlimmer“, schimpft er. Plötzlich blickt er wie ein Bluthund: „Tag
für Tag kommen 500 bis 1.000 Migranten über den Fluss Evros. Sie gehen in
die Berge.“ Der stramme Rechte enthüllt: „In meinem Keller habe ich dreiß…
weggeworfene Pässe.“ Für ihn ist klar: „Die Schmuggelmigranten legen die
Feuer!“ Warum sie das tun? „Dahinter steckt Erdoğan in Rücksprache mit
Mitsotakis! Damit der Evros keine Wälder mehr hat und die Türkei einfacher
einfallen kann.“ Das ist Jannis Dermentzoglous Narrativ.
[7][Apropos Türkei]: Ilias Vintsis, 46, Ortsvorsteher des 409 Einwohner
zählenden Orts Dadia, mitten im gleichnamigen Nationalpark, sieht es als
„wahrscheinlich“ an, dass hinter dem jüngsten Feuer im Nationalpark die
Türkei stecke. Ankara wolle die griechischen Militäranlagen im Evros, wo
sich Griechen und Türken bis auf die Zähne bewaffnet gegenüberstehen, „ohne
Wald besser beobachten können“, ist er überzeugt. Das Feuer in Dadia gehe
auf „vorsätzliche Brandstiftung“ zurück, ist er sich sicher.
Blitzeinschläge? Fehlanzeige. Die Migrantenströme im Wald seien „ein sehr
großes Problem“.
Höchstpersönlich sei er im Wald während des Feuers auf Migrantengruppen von
zehn oder mehr Leuten gestoßen, obgleich im Nationalpark der Zutritt für
jeden schon bei hoher oder akuter Brandgefahr streng verboten ist. „Was
haben die Migranten im Wald zu suchen?“, fragt Vintsis rhetorisch. Seine
prompte Antwort: „Unter ihnen sind Dschihadisten.“ Sie führen Böses im
Schilde. Das ist Ilias Vintsis’ Narrativ.
Säcke, Kleidungsstücke, Plastikverpackungen. Dora Skartsi ärgert sich. „Das
ist doch kein Nationalpark mehr!“ Sie muss es wissen. Skartsi, 60,
Forstwissenschaftlerin, Vogelkundlerin, Leiterin der Gesellschaft für
Biodiversität mit Sitz in Dadia, kennt den Wald so gut wie ihre
Westentasche. Ob an Wegen, in Tälern oder auf Hügeln: Hunderte Müllkippen
lägen überall verstreut herum. „Dieses Jahr hat das überhand genommen“,
klagt Skartsi.
Nicht nur dies sei ein klarer Indikator dafür, dass die Zahl der Migranten,
die durch den Wald ziehen oder sich darin tagelang verstecken, um auf den
nächsten Schlepper zu warten, merklich zugenommen hat. „Bei Löscheinsätzen
mit der Feuerwehr haben wir siebzig Migranten im brennenden Wald gefunden,
obwohl sich niemand dort aufhalten sollte.“ Skartsi glaubt nicht daran,
dass „die Migranten uns verbrennen wollen“.
Ihre Präsenz im Wald sei jedoch eine weitere reale Gefahr in der langen
Liste möglicher Brandursachen. „Aus Fahrlässigkeit, schreiben Sie das bitte
in Großbuchstaben“, wie sie betont. Die Migranten kochten im Wald, hätten
Gaskartuschen dabei. „Das Risiko ist gewaltig.“ Das dürfe man „nicht unt…
den Teppich kehren.“ Stellen Sie sich vor, Tausende Bewohner einer Stadt
gingen in einen Park, um dort zu picknicken – trotz Brandgefahr!“ Das ist
Dora Skartsis Narrativ.
## Neue Eskalationsstufe erreicht
Mit dem Narrativ, Flüchtlinge und Migranten als Brandstifter zu
bezichtigen, ist für die Rechtsanwälte Aikaterini Georgiadou und Jannis
Patzanakidis eine neue Eskalationsstufe in der Migrationsfrage erreicht.
„Es begann damit, den Migranten als Invasor zu sehen. Inzwischen ist der
Migrant nicht nur der Invasor, sondern auch der Brandstifter, der
Griechenland auslöschen will“, sagt Patzanakidis. Gerade ist er mit seiner
Kollegin Aikaterini Georgiadou von dem Aufnahmelager für Flüchtlinge und
Migranten in Fylakio im Nordevros zurückgekehrt. In einer Herberge in
Soufli gewähren sie der taz Einblicke in die Aufsehen erregende Causa der
13 Migranten, die ein Albaner mit der Hilfe zweier Griechen „einsammelte“,
in einen Anhänger steckte und per Video zum Pogrom gegen Migranten aufrief,
die „uns alle verbrennen wollen“.
Der Fall sei ein Novum. „So etwas ist noch nie passiert“, sagen Georgiadou
und Patzanakidis unisono. Das Duo vertritt die acht Syrer und fünf
Pakistaner. Ihnen gehe es gut. Zuerst seien die Pakistaner an jenem
ominösen 22. August von dem Täter-Trio in den Anhänger gepfercht worden.
Erst Stunden später seien die Syrer dazugekommen. Die Täter hätten Frauen
und Kinder aussortiert. Triage pur.
Wer in den Anhänger gesteckt wurde, sei in Lebensgefahr geraten. „Sie
standen davor, in Ohnmacht zu fallen, zu sterben. Sie konnten in diesem
Käfig keine Luft holen“, so Georgiadou. Sie hätten gegen die Wände des
Anhängers geschlagen, ohne dass jemand antwortete. „Ein Migrant hat uns
gesagt, er habe nichts mehr verstanden, als er nach Stunden aus dem
Anhänger steigen durfte“, ergänzt Patzanakidis. „Die Menschen standen unt…
Schock. Als sie gehört haben, dass ausgerechnet ihre Entführer sie der
Brandstiftung bezichtigen, haben sie nur gestaunt.“
Die gute Nachricht ist: Das Entführer-Trio kam in Untersuchungshaft, alle
13 Migranten wurden ohne jegliche Auflage freigelassen. Ein erster Erfolg
für das smarte Advokaten-Duo Georgiadou und Patzanakidis. Sie lassen nicht
locker. Die 13 Migranten wollen Asyl, ferner eine Aufenthaltserlaubnis aus
humanitären Gründen. Das griechische Gesetz sieht das vor. Denn sie seien
Opfer verbrecherischer Taten mit rassistischem Motiv geworden.
An Premier Mitsotakis lassen die Rechtsanwälte kein gutes Haar. „Um sich
der Verantwortung für das Ausmaß der Feuerkatastrophe zu entziehen, nährt
Mitsotakis das Narrativ ‚der Migrant, der Brandstifter‘, indem er darauf
hinweist, dass die Feuer auf den Migrantenrouten wüten“, sagt
Patzanakidis.
Mitsotakis tue dies, obschon im Wald von Avantas 18 Migranten einen
grausamen Tod starben, als das Feuer sie erfasste, kritisiert der Advokat.
Ihre verkohlten Leichen wurden am 22. August gefunden. 19 der 20 Brandopfer
im Evros sind Flüchtlinge und Migranten. „Hätten wir einen Regierungschef,
der eine klare Haltung einnimmt, hätten wir nicht so ein vergiftetes Klima
in der Gesellschaft“, hebt Patzanakidis hervor.
Der Advokat weist auf Mitsotakis’ Rede im Athener Parlament hin. Wortgetreu
sagte er: „Alle, die (tot) im Wald gefunden wurden, hätten niemals dort
sein dürfen. Die Behörden haben einen Notruf gesendet, in zwei Sprachen,
auf Griechisch und Englisch. ‚Befehl an alle: sofortige Evakuierung!‘ Wir
haben uns womöglich etwas anderes zu fragen: ‚Wer brachte sie dorthin? Was
sind das für Nichtregierungsorganisationen, die auf einmal ein Bild (über
deren Verbleib) haben?‘ Sind sie womöglich mitverantwortlich dafür, dass
sie die Menschen dorthin führen, diese dann (vom Feuer) eingeschlossen
sind, nicht evakuiert werden können und so ihr Leben verlieren?“ Das
Megafeuer im Evros ist gelöscht. Verbrannte Erde allerorten. Der Kampf der
Narrative geht weiter.
20 Sep 2023
## LINKS
[1] /Braende-in-Griechenland/!5955679
[2] /Verbrannte-Migranten-in-Griechenland/!5951055
[3] /Flucht-und-Migration-nach-Europa/!5925482
[4] https://www.deutschlandfunk.de/waldbrand-im-dadia-nationalpark-weiter-ausse…
[5] /Nea-Dimokratia-auf-der-Peloponnes/!5952004
[6] /Griechenlands-Linke-sucht-Nachfolge/!5958097
[7] https://www.rnd.de/politik/griechenland-und-die-tuerkei-bemuehen-sich-um-ei…
## AUTOREN
Ferry Batzoglou
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