# taz.de -- Waldbrände in Griechenland: Brandstiftung von rechts | |
> In der Region Evros an der Grenze zur Türkei machen Einheimische | |
> Migranten für das Feuer verantwortlich – und greifen teilweise zur | |
> Selbstjustiz. | |
Bild: Sakis Terzidis besucht seinen verbrannten Ziegenstall und füttert seinen… | |
EVROS taz | Sakis Terzidis, 52, Fünftagebart, drahtig, Tarnhose, Kappe mit | |
geradem Schirm, hält seinen alten Traktor nach einer Viertelstunde kräftig | |
durchrüttelnder Fahrt auf einer Anhöhe an. Terzidis steigt aus und zeigt | |
auf einen verbrannten Acker in der Ebene. Der Acker sei schon beim ersten | |
großen Feuer im Südevros verbrannt, erklärt er. Am 19. August, einem | |
Samstag, habe die Feuersbrunst im zehn Kilometer entfernten Ort Melia | |
begonnen. Angefacht von starken Winden habe sich das Melia-Feuer mit | |
rasender Geschwindigkeit nach Westen ausgebreitet. Die Feuerwalze | |
hinterließ eine Schneise der Verwüstung. | |
Plötzlich, [1][am 23. August], sei mitten auf dem Acker ein Auto gestanden. | |
„Ich habe es von Weitem gesehen. Was hatte es da zu suchen? Ausgerechnet | |
auf einem verbrannten Acker, dazu in der Siesta, um Viertel vor drei“, sagt | |
Sakis Terzidis. In unmittelbarer Nähe von dem Acker mit dem geparkten Auto | |
darauf, so Terzidis weiter, sei ein neues Feuer ausgebrochen. Dieses lokale | |
Feuer habe Kermes-Eichen erfasst, die das große Melia-Feuer verschont | |
hatte. Rasch seien zwei Löschflugzeuge abgehoben, ferner ein Hubschrauber. | |
Wie schon beim Melia-Feuer hätten sie zwar abermals verhindert, dass das | |
Feuer den nahe gelegenen Ort Agnadia erreicht. Was sie nicht retten | |
konnten: Sakis Terzidis’ Ziegenstall. | |
Für ihn ist klar, wie das zweite Feuer, das seine Existenz ruinierte, | |
ausbrach. „Das war Brandstiftung“, sagt er lapidar. „In den allermeisten | |
Fällen sind das Lathrometanastes. Wer sonst?“ Schon seine Wortwahl ist eine | |
Wertung. „Lathrometanastes“ sind Migranten, die „lathrea“, „geschmugg… | |
über die nahe Türkei nach Griechenland kommen. So als ob es sich um | |
Schmugglerware wie Schnaps oder Zigaretten handelte, nicht um Menschen. | |
Dass unbedarfte Migranten im Freien ein Feuer zum Kochen oder Aufwärmen | |
machen und so fahrlässig einen Brand auslösen, hält er für abwegig. „Die | |
haben doch nur Kekse oder so etwas dabei. Kocht man Kekse?“ Dass Migranten | |
Brandstifter sind, ist Sakis Terzidis’ Narrativ. Mit dieser Meinung ist er | |
nicht allein. Immer mehr Menschen in der Region Evros hetzen gegen | |
Migranten und [2][beschuldigen sie der Brandstiftung]. Für die Migranten | |
ist die Region nur eine Zwischenstation ihrer Route. Viele wollen weiter | |
nach Deutschland. Einheimische halten sie bei ihrer Flucht auf, nehmen sie | |
eigenhändig fest und übergeben sie dann an die Polizei. Es ist eine neue | |
Eskalationsstufe in der Migrationsfrage. | |
Terzidis startet wieder seinen Traktor. Nach einer weiteren Viertelstunde | |
Fahrt durch eine verbrannte Landschaft ist sein Ziegenstall auf der | |
Rückseite des Hügels erreicht. Die Szenerie ist gespenstisch. Zuletzt hatte | |
er zwanzig Ziegen, die er alleine versorgte. Ein mühsamer Job. Seine Tiere | |
rettete er früh, als der erste große Waldbrand, das Melia-Feuer, in der | |
Region tobte. Er brachte das Vieh in den Hof seines Hauses in Agnadia. Als | |
er seinen zerstörten Ziegenstall das erste Mal sah, musste er heulen. „Das | |
war mein Leben“, seufzt er. | |
Christos Kapnas, 26, stechender Blick, athletischer Typ, drückt einem so | |
kräftig die Hand, dass es fast weh tut. Er diente bei den Gebirgsjägern der | |
griechischen Streitkräfte. Kapnas wohnt im 431-Seelen-Ort Doriskos im | |
Südevros, nur ein paar Autominuten von der türkischen Grenze entfernt. Im | |
Sommer jobbt er in der Gastronomie, ab September ist er arbeitslos. Untätig | |
ist er nicht. Christos Kapnas nimmt Migranten fest. Auf offener Straße, auf | |
Feldern, in Wäldern, in von Migranten vorübergehend bewohnten Häusern. | |
Überall. Gezielt. Konsequent. | |
Laut Kapnas treten die Lathrometanastes in Gruppen auf. Fünf, zehn oder | |
zwanzig Leute. Meist sind das jüngere Männer. Nach dem Übertreten der | |
Grenze schmeißen sie ihre Pässe weg. „Ich weiß, wo ihre Routen verlaufen. | |
Ich halte sie an, frage sie nach ihren Namen, nach Papieren. Haben sie | |
keine Papiere, fordere ich sie mit energischer Stimme dazu auf, stehen zu | |
bleiben. Ich trage keine Waffe. Eine klare Ansage reicht, um ihnen Angst | |
einzujagen: ‚Ich diskutiere nicht mit euch!‘ Sie fügen sich, fallen auf die | |
Knie – und die Sache ist vorbei. Ich rufe die Polizei.“ | |
Nur selten leiste jemand Widerstand, so Kapnas. „Vielleicht versucht einer, | |
mit einem ins Gespräch zu kommen, zu verhandeln. Fasst mich jemand an, | |
werfe ich ihn sofort auf den Boden und fessele ihn.“ Womit? „Mit den | |
Schnürsenkeln seiner Schuhe.“ Die Ordnungshüter kennen ihn. Nach zehn, | |
fünfzehn Minuten komme die Polizei und nehme die Migranten mit, sagt | |
Kapnas. Ob sie sie auf die Polizeiwache brächten oder in die Türkei | |
zurückdrängen würden, wisse er nicht.“ Wie oft er Migranten festgenommen | |
habe? “In den letzten drei, vier Jahren etwa fünfhundert Mal“. | |
Flüchtlinge aus Kriegsgebieten würde er akzeptieren, fügt er hinzu, aber | |
„nicht aus Ländern, in denen kein Krieg herrscht“. Er findet, dass | |
Menschen, die illegal über die Grenze kommen, sich der Polizei stellen | |
sollen. Andere Leute in seinem Dorf seien ebenfalls „selbsternannte | |
Sheriffs“, so Kapnas. Sie seien in seinem Alter, es gebe jüngere und viel | |
ältere. „Diejenigen, die das nicht gut finden, beschimpfen uns als | |
Faschisten oder Rassisten. Ich kann dazu nur sagen: Ich bin lieber ein | |
Faschist als ein Idiot.“ | |
Blöd findet die Polizei Kapnas und Co offenkundig nicht. Gemeinsam würden | |
sie im Evros patrouillieren – auf der Suche nach Migranten. „Die Polizei | |
vertraut uns“, sagt Kapnas. Von den Politikern fühlt er sich im Stich | |
gelassen. Der Spartaner Leonidas habe mit nur 300 Soldaten die | |
übermächtigen Perser bekämpft, hebt er hervor. „Was tun heute die 300 | |
Abgeordneten in Athen?“, frage er sich. Er gibt die Antwort. „Sie ist nicht | |
druckfähig.“ | |
Kapnas hat rote Linien. Verwerflich sei, was ein anderer „selbsternannter | |
Sheriff“ am 22. August, auf dem Höhepunkt des Feuers im Südevros im Ort Nea | |
Chili tat. In einem Video im Internet sagt ein griechisch sprechender Mann, | |
er habe Migranten „eingesammelt“. „Ich habe ‚25 Stück‘ geladen“, g… | |
sind Migranten, wobei er auf einen Autoanhänger zeigt. „Sie werden uns | |
verbrennen. Sie werden uns verbrennen!“, ätzt er und öffnet die Tür. Im | |
Innenraum sind einige Migranten zu sehen. | |
„Der ganze Berg ist voll von ihnen“, poltert er hernach, um zu einem Pogrom | |
aufzurufen. „Organisiert euch, um sie zusammenzutreiben!“, ruft er in | |
seiner Tirade. Derweil ist bekannt, dass der Fahrzeugbesitzer, ein Albaner, | |
seit mehr als dreißig Jahren im Evros lebt. Auf dem Video zieht er einen | |
Anhänger, in dem 13 illegale Einwanderer syrischer und pakistanischer | |
Herkunft festgehalten werden. Zwei Griechen haben ihm mutmaßlich geholfen. | |
„Alle Migranten sind Brandstifter!“ Das ist das Narrativ des | |
Entführer-Trios. | |
Kapnas verurteilt ihr Vorgehen. „Migranten sind auch nur Menschen. Sie sind | |
kein Müll, den man in einen Anhänger steckt.“ Sein Motto bleibe: „Ruf die | |
Polizei an! Dreh kein Video!“ Sind die Migranten Brandstifter?“ „Das ist | |
ein schwerer Vorwurf“, räumt Kapnas ein. Dass es im Evros so viele | |
Brandherde gegeben habe, könne aber kein Zufall sein. Vorsätzlich einen | |
Brand zu legen, könne nur in Absprache geschehen, unterstreicht er. Selbst | |
wenn dies nur wenige Migranten betreffe: „Einen Schatten wirft das auf | |
alle.“ Das ist Christos Kapnas’ Narrativ. | |
[3][Die Region Evros] in Griechenlands äußerstem Nordosten ist nach dem | |
gleichnamigen Fluss benannt (Türkisch: Meric) und bildet in | |
Nord-Süd-Richtung in weiten Abschnitten die gut 200 Kilometer lange | |
Festlandgrenze zur Türkei. Ab dem 19. August brannte die Region Evros. | |
Zuerst wütete das Melia-Feuer im Südevros. Dass das Feuer in Melia nach | |
einem Blitzeinschlag ausbrach, gilt als gesichert, wie offizielle Quellen | |
bestätigen. | |
Ab dem 21. August brach im [4][Dadia-Nationalpark] in Zentralevros ein | |
weiteres Großfeuer aus. War auch hier ein Blitzeinschlag die Brandursache? | |
Oder Brandstiftung? Die Ermittlungen laufen, Ergebnisse gibt es bisher | |
keine. Es ist eine schwierige Suche, wie ein Feuer seinen Anfang nimmt. | |
Vermutungen, Spekulationen, Vorwürfen und Bezichtigungen sind Tür und Tor | |
geöffnet. | |
Beide Großfeuer im Evros vereinten sich zu einem Megafeuer. In knapp drei | |
Wochen fielen im Evros über 93.500 Hektar Land den Feuern zum Opfer. Das | |
entspricht einer Fläche größer als die von Berlin. Das Evros-Feuer ist der | |
größte Waldbrand in der EU seit Beginn der Aufzeichnungen. Der ökologische | |
und ökonomische Schaden in der dünnbesiedelten, strukturschwachen Region | |
Evros ist enorm. Demografisch und wirtschaftlich war der Evros schon vor | |
dem Feuer ausgeblutet, nun liegen weite Teile in Schutt und Asche. | |
Unstrittig ist, dass der Evros schon lange eine Migrantenroute darstellt. | |
Die Migranten wollen hier nur eines: weiter. Ihr Ziel: vor allem | |
Deutschland. Die Regierung in Athen unter dem konservativen Premier | |
Kyriakos Mitsotakis brüstet sich damit, eine restriktive Flüchtlings- und | |
Migrationspolitik zu verfolgen. Griechenland soll eine Festung sein. Laut | |
dem Athener Migrationsministerium wurden in den ersten sieben Monaten | |
dieses Jahres 11.672 illegale Neuankömmlinge registriert, die über die | |
Festland- und Seegrenze nach Griechenland kamen, etwa ein Fünftel in die | |
Region Evros. Dass es wirklich so wenige sind, glaubt im Evros keiner. | |
So einer ist Georgios Chatzigeorgiou. Besonders sauer sei er auf die | |
skrupellosen Schlepper. Er habe es nicht mehr gewagt, die einzige Autobahn | |
im Evros zu benutzen. Schlepper würden in gestohlenen, mit Migranten | |
vollbesetzten Autos nicht nur mit Karacho durch die Orte im Evros, sondern | |
auch als Geisterfahrer auf der Fernstraße in Richtung Thessaloniki rasen, | |
um der sie jagenden Polizei zu entkommen. Zwei tödliche Unfälle hätten sich | |
zuletzt ereignet, klagt er. „Das Migrantenproblem hat schlimme | |
Auswirkungen auf unser Leben“, sagt Chatzigeorgiou. Nach heftigen Protesten | |
der Einwohner kontrolliert die Polizei die Ein- und Ausfahrten der | |
Autobahn. Chatzigeorgiou begrüßt das. | |
Der 48-Jährige ist Ortsvorsteher im 486-Seelen-Ort Avantas im Südevros. In | |
einem schicken Lokal am Hauptplatz nimmt er einen Schluck vom servierten | |
Erfrischungsgetränk. Das Feuer, das aus Melia kam, habe 80 Prozent der | |
Waldfläche von Avantas vernichtet. Dabei hatte Chatzigeorgiou Avantas als | |
Wanderparadies etabliert. Das sei nun vorbei. „Da, wo alles grün war, ist | |
nur noch Asche.“ Das Feuer in Melia sei „sicher auf einen Blitzeinschlag“ | |
zurückzuführen, sagt er. Mit Blick auf die Ursache des anderen Großfeuers | |
im Dadia-Nationalpark, das weiter nördlich wütete, sei „nichts | |
auszuschließen“, ebenso nicht ein „feindlicher Akt“ der Türkei. Das ist | |
Georgios Chatzigeorgious Narrativ. | |
Ortswechsel in den zentralen Evros, wo das Großfeuer im Dadia-Nationalpark | |
ausbrach. Jannis Dermentzoglou, 68, von Beruf Gerichtsvollzieher, | |
Mitgründer der nationalkonservativen Parlamentspartei Griechische Lösung | |
(Elliniki Lysi/EL) bittet zum Gespräch in sein Wahlkreisbüro im Herzen der | |
Gemeinde Soufli, einen Steinwurf von der Grenze zur Türkei entfernt. „Das | |
war früher die Bäckerei meines Großvaters. Sehen Sie, das ist der Ofen“, | |
sagt er sichtlich stolz. | |
Das Ambiente lässt keinerlei Fragen offen. Überall hängen Plakate seiner | |
Partei, auf denen das Konterfei des Parteichefs und Sprüche wie „Hellas | |
zuerst! Die Griechen zuerst! Machen wir Griechenland wieder griechisch!“ | |
prangen. Auf seinem Schreibtisch liegt ein Buch mit dem Titel | |
„Migranteninvasion und griechische Krise“. | |
Nirgendwo sonst holt die Griechische Lösung so viele Stimmen wie im Evros, | |
einer traditionell konservativen Region. Bei den jüngsten Parlamentswahlen | |
Ende Juni holte sie hier 8,83 Prozent der Stimmen, ein doppelt so hoher | |
Stimmenanteil wie im Rest des Landes. Nationalistische Positionen gedeihen | |
in der Grenzregion, der Nährboden dafür ist fruchtbar. Wie das Athener | |
Forschungsinstitut Eteron in einer jüngsten Studie ermittelte, gaben 6,1 | |
Prozent der Griechen an, eine „nationalistische Gesinnung“ zu haben. Bei | |
den EL-Wählern schnellt der Wert auf 24,2 Prozent in die Höhe. Ideologisch | |
verankert im Nationalismus sehen sich 3,6 Prozent der Wähler [5][der | |
konservativen Regierungspartei Nea Dimokratia.] | |
Dermentzoglou lästert nicht nur über die [6][Syriza-Regierung], die das | |
Zepter in Athen von 2015 bis Juli 2019 in der Hand hielt. „Mitsotakis ist | |
viel schlimmer“, schimpft er. Plötzlich blickt er wie ein Bluthund: „Tag | |
für Tag kommen 500 bis 1.000 Migranten über den Fluss Evros. Sie gehen in | |
die Berge.“ Der stramme Rechte enthüllt: „In meinem Keller habe ich dreiß… | |
weggeworfene Pässe.“ Für ihn ist klar: „Die Schmuggelmigranten legen die | |
Feuer!“ Warum sie das tun? „Dahinter steckt Erdoğan in Rücksprache mit | |
Mitsotakis! Damit der Evros keine Wälder mehr hat und die Türkei einfacher | |
einfallen kann.“ Das ist Jannis Dermentzoglous Narrativ. | |
[7][Apropos Türkei]: Ilias Vintsis, 46, Ortsvorsteher des 409 Einwohner | |
zählenden Orts Dadia, mitten im gleichnamigen Nationalpark, sieht es als | |
„wahrscheinlich“ an, dass hinter dem jüngsten Feuer im Nationalpark die | |
Türkei stecke. Ankara wolle die griechischen Militäranlagen im Evros, wo | |
sich Griechen und Türken bis auf die Zähne bewaffnet gegenüberstehen, „ohne | |
Wald besser beobachten können“, ist er überzeugt. Das Feuer in Dadia gehe | |
auf „vorsätzliche Brandstiftung“ zurück, ist er sich sicher. | |
Blitzeinschläge? Fehlanzeige. Die Migrantenströme im Wald seien „ein sehr | |
großes Problem“. | |
Höchstpersönlich sei er im Wald während des Feuers auf Migrantengruppen von | |
zehn oder mehr Leuten gestoßen, obgleich im Nationalpark der Zutritt für | |
jeden schon bei hoher oder akuter Brandgefahr streng verboten ist. „Was | |
haben die Migranten im Wald zu suchen?“, fragt Vintsis rhetorisch. Seine | |
prompte Antwort: „Unter ihnen sind Dschihadisten.“ Sie führen Böses im | |
Schilde. Das ist Ilias Vintsis’ Narrativ. | |
Säcke, Kleidungsstücke, Plastikverpackungen. Dora Skartsi ärgert sich. „Das | |
ist doch kein Nationalpark mehr!“ Sie muss es wissen. Skartsi, 60, | |
Forstwissenschaftlerin, Vogelkundlerin, Leiterin der Gesellschaft für | |
Biodiversität mit Sitz in Dadia, kennt den Wald so gut wie ihre | |
Westentasche. Ob an Wegen, in Tälern oder auf Hügeln: Hunderte Müllkippen | |
lägen überall verstreut herum. „Dieses Jahr hat das überhand genommen“, | |
klagt Skartsi. | |
Nicht nur dies sei ein klarer Indikator dafür, dass die Zahl der Migranten, | |
die durch den Wald ziehen oder sich darin tagelang verstecken, um auf den | |
nächsten Schlepper zu warten, merklich zugenommen hat. „Bei Löscheinsätzen | |
mit der Feuerwehr haben wir siebzig Migranten im brennenden Wald gefunden, | |
obwohl sich niemand dort aufhalten sollte.“ Skartsi glaubt nicht daran, | |
dass „die Migranten uns verbrennen wollen“. | |
Ihre Präsenz im Wald sei jedoch eine weitere reale Gefahr in der langen | |
Liste möglicher Brandursachen. „Aus Fahrlässigkeit, schreiben Sie das bitte | |
in Großbuchstaben“, wie sie betont. Die Migranten kochten im Wald, hätten | |
Gaskartuschen dabei. „Das Risiko ist gewaltig.“ Das dürfe man „nicht unt… | |
den Teppich kehren.“ Stellen Sie sich vor, Tausende Bewohner einer Stadt | |
gingen in einen Park, um dort zu picknicken – trotz Brandgefahr!“ Das ist | |
Dora Skartsis Narrativ. | |
## Neue Eskalationsstufe erreicht | |
Mit dem Narrativ, Flüchtlinge und Migranten als Brandstifter zu | |
bezichtigen, ist für die Rechtsanwälte Aikaterini Georgiadou und Jannis | |
Patzanakidis eine neue Eskalationsstufe in der Migrationsfrage erreicht. | |
„Es begann damit, den Migranten als Invasor zu sehen. Inzwischen ist der | |
Migrant nicht nur der Invasor, sondern auch der Brandstifter, der | |
Griechenland auslöschen will“, sagt Patzanakidis. Gerade ist er mit seiner | |
Kollegin Aikaterini Georgiadou von dem Aufnahmelager für Flüchtlinge und | |
Migranten in Fylakio im Nordevros zurückgekehrt. In einer Herberge in | |
Soufli gewähren sie der taz Einblicke in die Aufsehen erregende Causa der | |
13 Migranten, die ein Albaner mit der Hilfe zweier Griechen „einsammelte“, | |
in einen Anhänger steckte und per Video zum Pogrom gegen Migranten aufrief, | |
die „uns alle verbrennen wollen“. | |
Der Fall sei ein Novum. „So etwas ist noch nie passiert“, sagen Georgiadou | |
und Patzanakidis unisono. Das Duo vertritt die acht Syrer und fünf | |
Pakistaner. Ihnen gehe es gut. Zuerst seien die Pakistaner an jenem | |
ominösen 22. August von dem Täter-Trio in den Anhänger gepfercht worden. | |
Erst Stunden später seien die Syrer dazugekommen. Die Täter hätten Frauen | |
und Kinder aussortiert. Triage pur. | |
Wer in den Anhänger gesteckt wurde, sei in Lebensgefahr geraten. „Sie | |
standen davor, in Ohnmacht zu fallen, zu sterben. Sie konnten in diesem | |
Käfig keine Luft holen“, so Georgiadou. Sie hätten gegen die Wände des | |
Anhängers geschlagen, ohne dass jemand antwortete. „Ein Migrant hat uns | |
gesagt, er habe nichts mehr verstanden, als er nach Stunden aus dem | |
Anhänger steigen durfte“, ergänzt Patzanakidis. „Die Menschen standen unt… | |
Schock. Als sie gehört haben, dass ausgerechnet ihre Entführer sie der | |
Brandstiftung bezichtigen, haben sie nur gestaunt.“ | |
Die gute Nachricht ist: Das Entführer-Trio kam in Untersuchungshaft, alle | |
13 Migranten wurden ohne jegliche Auflage freigelassen. Ein erster Erfolg | |
für das smarte Advokaten-Duo Georgiadou und Patzanakidis. Sie lassen nicht | |
locker. Die 13 Migranten wollen Asyl, ferner eine Aufenthaltserlaubnis aus | |
humanitären Gründen. Das griechische Gesetz sieht das vor. Denn sie seien | |
Opfer verbrecherischer Taten mit rassistischem Motiv geworden. | |
An Premier Mitsotakis lassen die Rechtsanwälte kein gutes Haar. „Um sich | |
der Verantwortung für das Ausmaß der Feuerkatastrophe zu entziehen, nährt | |
Mitsotakis das Narrativ ‚der Migrant, der Brandstifter‘, indem er darauf | |
hinweist, dass die Feuer auf den Migrantenrouten wüten“, sagt | |
Patzanakidis. | |
Mitsotakis tue dies, obschon im Wald von Avantas 18 Migranten einen | |
grausamen Tod starben, als das Feuer sie erfasste, kritisiert der Advokat. | |
Ihre verkohlten Leichen wurden am 22. August gefunden. 19 der 20 Brandopfer | |
im Evros sind Flüchtlinge und Migranten. „Hätten wir einen Regierungschef, | |
der eine klare Haltung einnimmt, hätten wir nicht so ein vergiftetes Klima | |
in der Gesellschaft“, hebt Patzanakidis hervor. | |
Der Advokat weist auf Mitsotakis’ Rede im Athener Parlament hin. Wortgetreu | |
sagte er: „Alle, die (tot) im Wald gefunden wurden, hätten niemals dort | |
sein dürfen. Die Behörden haben einen Notruf gesendet, in zwei Sprachen, | |
auf Griechisch und Englisch. ‚Befehl an alle: sofortige Evakuierung!‘ Wir | |
haben uns womöglich etwas anderes zu fragen: ‚Wer brachte sie dorthin? Was | |
sind das für Nichtregierungsorganisationen, die auf einmal ein Bild (über | |
deren Verbleib) haben?‘ Sind sie womöglich mitverantwortlich dafür, dass | |
sie die Menschen dorthin führen, diese dann (vom Feuer) eingeschlossen | |
sind, nicht evakuiert werden können und so ihr Leben verlieren?“ Das | |
Megafeuer im Evros ist gelöscht. Verbrannte Erde allerorten. Der Kampf der | |
Narrative geht weiter. | |
20 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Braende-in-Griechenland/!5955679 | |
[2] /Verbrannte-Migranten-in-Griechenland/!5951055 | |
[3] /Flucht-und-Migration-nach-Europa/!5925482 | |
[4] https://www.deutschlandfunk.de/waldbrand-im-dadia-nationalpark-weiter-ausse… | |
[5] /Nea-Dimokratia-auf-der-Peloponnes/!5952004 | |
[6] /Griechenlands-Linke-sucht-Nachfolge/!5958097 | |
[7] https://www.rnd.de/politik/griechenland-und-die-tuerkei-bemuehen-sich-um-ei… | |
## AUTOREN | |
Ferry Batzoglou | |
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