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# taz.de -- Berlin hat zu wenig entsiegelte Flächen: Unterm Pflaster ist es zu…
> Alle reden von der „Schwammstadt“. In Friedrichshain-Kreuzberg wollen
> BürgerInnen selbst eine Straße teilentsiegeln. Doch so einfach geht es
> nicht.
Bild: So geht Entsiegelung: Von Anwohnern angelegte Blumenwiese am Kreuzberger …
Berlin taz | An der Ohlauer Straße, die vom Görlitzer Park zum
Landwehrkanal führt, stehen Linden. Bei etlichen wirkt die Baumkrone im
unteren Bereich welk: Hier haben sich Spinnmilben, winzige Parasiten, an
den Blättern gütlich getan. Auch wenn die Bäume wieder neu austreiben,
stellt der Befall eine Schwächung dar – befördert durch die jahrelange
Trockenheit, unter denen das Berliner Stadtgrün gelitten hat.
Kein Wunder, findet die [1][Initiative „Reichenberger Kiez für alle“]: Die
Baumscheiben, also die ungepflasterten Flächen rund um die Stämme, sind
viel zu klein, und der größte Teil der Niederschläge findet nie den Weg zu
den Wurzeln – obwohl der sogenannte Unterstreifen zwischen Gehweg und
Bordsteinkante mit dem typischen Berliner Kleinpflaster bedeckt ist, das
den Boden nicht hermetisch abschließt.
„Bei einem kurzen Starkregen läuft das meiste schnell ab, und bei sehr
leichtem Regen verdunstet das meiste von der Oberfläche der Steine“, sagt
Fiete Rohde, der in der Ohlauer Straße wohnt und sich in der Initiative
engagiert. „Dass wirklich 25 Prozent des Wassers versickern, wie es
offiziell heißt, kommt sehr selten vor.“ Auf die Baumscheiben selbst falle
kaum Regen, solange die Bäume belaubt sind.
Jetzt soll sich etwas ändern: In einem freundlichen Schreiben haben die AGs
„Entsiegel-Truppe“ und „Kiezgrün“ der Initiative Bezirksbürgermeister…
Clara Herrmann und Umweltstadträtin Annika Gerold (beide Grüne) sowie die
zuständigen Ämter über eine Entsiegelungsaktion in Kenntnis gesetzt. Am 30.
September sollen „mindestens hundert Bürger:innen“ antreten, um
Kleinpflastersteine aus dem Boden zu hebeln und mehr als 200 Quadratmeter
durchlässige, begrünbare Fläche zu schaffen. Man hoffe auf die „geschätzte
Unterstützung“ des Bezirksamts und freue sich „auf die gemeinsamen
Abstimmungsschritte“.
## Aufs Straßengesetz über Geh- und Radwege verwiesen
Trotz des charmanten Tons und mitgelieferten Entwürfen, wo genau das
Pflaster entfernt werden soll, hatten die AktivistInnen dort jedoch keinen
Erfolg: „Die von Ihnen geplante Entsiegelung in der Ohlauer Straße wird
durch das Straßen- und Grünflächenamt abgelehnt“, heißt es in der Antwort
trocken. Zur Begründung wird auf die „Ausführungsvorschriften zu Paragraf 7
des Berliner Straßengesetzes über Geh- und Radwege“ verwiesen, nach denen
der Gehwegunterstreifen „grundsätzlich in Mosaikpflaster verlegt“ werde.
Daran sei man gebunden.
Zudem dürften Privatpersonen keine Arbeiten im öffentlichen Straßenland
ausführen, heißt es in der E-Mail, die der taz vorliegt. Das dürften nur
„Fachfirmen, die im ULV (Amtliches Unternehmer- und Lieferantenverzeichnis)
als Steinstraßenbaufirma eingetragen sind“. Sollte die Aktion stattfinden,
handele es sich um eine „Ordnungswidrigkeit, die durch das Bezirksamt
geahndet würde“.
Auch wenn die Absage vielleicht nicht ganz überraschend kam – ein bisschen
hatte die Initiative doch auf einen Beschluss der BVV
Friedrichshain-Kreuzberg vom 28. Juni gesetzt. Darin fordert das
Bezirksparlament das Bezirksamt auf, „es Anwohnenden, Gruppen und Vereinen
auf niedrigschwelligen Antrag (verstärkt) kurzfristig zu ermöglichen, in
Kooperation mit dem Bezirksamt Baumscheiben zu vergrößern, Parkplätze zu
entsiegeln sowie Grünflächen zu pflegen und Fußwege in Teilen
(Gehwegunterstreifen) zu entsiegeln, wo dies ohne Beeinträchtigung der
Verkehrssicherheit und Barrierefreiheit möglich ist“.
Das Bezirksamt solle dafür Fördermittel beim Senat anwerben, heißt es in
dem Beschluss, der auf einen Antrag der linken Bezirksverordneten Karolin
Behlert zurückgeht. Die Bedingungen für solche Entsiegelungen seien auf der
bezirklichen Website „mit einem Hinweis auf das Handbuch Gute Pflege“ zu
veröffentlichen, wie es jetzt schon für die Begrünung von Baumscheiben
gilt. Künftig solle dort auch darüber informiert werden, wie man am besten
an Pflanzmaterial, Leihwerkzeug oder Fördermittel komme.
## „Unorthodoxen Lösungen“
Für Behlert liegt die Dringlichkeit auf der Hand: „Berlin will zur
Schwammstadt werden, gleichzeitig ist ein Drittel bebaut, asphaltiert oder
sonst wie versiegelt“, sagt sie der taz. In ihrem Bezirk seien es sogar
rund 65 Prozent der Fläche. Um schnell ein „klügeres Regenwassermanagement�…
zu erreichen – ein Ziel, das politisch von allen politischen Lagern in der
Stadt geteilt wird –, müsse man „auch mal gemeinsam nach unorthodoxen
Lösungen suchen“. Weil den Bezirksämtern die Ressourcen fehlten, sollen
Anwohnende in die Bresche springen können.
Dass dem Bezirksamt aus einem BVV-Beschluss keine direkte Verpflichtung
erwächst, weiß Behlert natürlich – und auch, dass Vorschriften Vorschriften
sind: „Der bürokratische Wahnsinn ist eben Teil des Alltags.“ Sie hätte
sich aber gewünscht, dass das Bezirksamt seine Skepsis schon im
BVV-Ausschuss klarer erläutert hätte, so die Linken-Politikerin: „Dann
hätte man gemeinsam am Text feilen können.“
Sie kann auch in den Ausführungsvorschriften zumindest Spielräume erkennen.
Etwa wenn es dort in der Vorbemerkung heißt, „auf begründeten Antrag“ kö…
von den Regeln abgewichen werden. In Lichtenberg, so Behlert, sei auch
schon eine Entsiegelungsaktion ohne Fachfirma möglich gewesen: Dort habe
der Naturschutzbund Nabu zusammen mit dem Bezirksamt Gehwegplatten in einer
Grünanlage entfernt. „Es ist einfach ärgerlich, dass noch von
Ordnungswidrigkeiten gesprochen wird, wenn die Natur vor die Hunde geht“,
findet die Linke.
Fiete Rohde, der als Initiator des [2][gemeinnützigen Vereins KIEZconnect]
auch sonst nach Methoden sucht, um Akteure zu vernetzen, sieht das genauso.
Angesichts der Notwendigkeit, die Stadt schnell klimaresilient zu machen,
hält er „bürgerschaftliche Entsiegelung“ für einen „echten Zauberstab�…
Dass die Planer in der Bezirksverwaltung „in ihrer beruflichen Laufbahn
hoheitliches Denken gelernt haben“, will er ihnen gar nicht verdenken. Dass
die Politik das nicht aufbricht – gerade die Grünen, die den Bezirk
dominieren –, stört ihn schon mehr. „Denen fehlt es auch an
Entschlusskraft, weil sie Angst haben, dass dann gegen sie Stimmung gemacht
wird“, glaubt Rohde. „Im Graefekiez hat die CDU das ja geschafft.“
## Im Sinne des Guerilla Gardening
Dort dampfte das Bezirksamt zuletzt einen geplanten Verkehrsversuch massiv
ein, bei dem zeitweilig die meisten Parkplätze wegfallen sollten. Der
Grund: Die CDU hatte eine Kampagne dagegen gestartet und erfolgreich
Stimmen für einen Einwohnerantrag gesammelt. Auch dort übrigens sollten
viele der freiwerdenden Flächen entsiegelt werden – in dem überschaubaren
Bereich, der von dem Experiment verblieben ist, wurde das mittlerweile auch
durchgeführt.
Was weiterhin fehlt, ist ein Entsiegelungskonzept für den Bezirk, mit dem
das Bezirksamt schon 2021 von der BVV beauftragt wurde. Laut Pressestelle
geht es aber voran: „Derzeit baut das Straßen- und Grünflächenamt in einer
Vielzahl von Pilotprojekten die notwendige Expertise für ein dezentrales
Regenwassermanagement auf“, heißt es auf taz-Anfrage.
Genannt werden außer dem Graefekiez der Lausitzer Platz und die
Waldeyerstraße im Samariterviertel, hinzu kämen noch die Krautstraße, das
Görlitzer Ufer und die Bergmannstraße. In der Summe würden „rund 2.000
Quadratmeter Straßenland entsiegelt“.
Dass ziviles Entsiegeln manchmal auch ohne den Segen der Verwaltung geht,
zeigen übrigens zwei kleine Wiesenflächen neben dem Bouleplatz am
Paul-Lincke-Ufer, unweit der Ohlauer Straße: Hier blühen in diesem Sommer
Nachtkerzen, Kapuzinerkresse und Stockrosen wild durcheinander, wo vorher
Pflastersteine lagen. Anwohnende hatten hier im Sinne des Guerilla
Gardening einfach zu Hacke und Spaten gegriffen. Ganz unglücklich scheint
mit dem Ergebnis eigentlich niemand zu sein – von einem Rückbau ist
jedenfalls nicht Rede.
13 Sep 2023
## LINKS
[1] https://wechange.de/group/reichenberger-kiez/
[2] https://www.kiezconnect.org/
## AUTOREN
Claudius Prößer
## TAGS
Schwammstadt-Konzept
Flächenversiegelung
Bodenversiegelung
Klima
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Naturschutz
Schwammstadt-Konzept
Wochenkommentar
Heinrich Strößenreuther
Bäume
Schwerpunkt Klimawandel
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