# taz.de -- Militäranalyst zur Offensive der Ukraine: „Schuld hat nicht nur … | |
> Der Militärexperte Franz-Stefan Gady berät Regierungen in den USA und | |
> Europa. Er erklärt, welche Waffen die Ukraine in diesem Krieg braucht. | |
Bild: Abnutzung, bis die Front kollabiert? Ukrainische Soldaten nahe Bachmut am… | |
taz: Herr Gady, ist die Gegenoffensive der Ukraine erfolgreich? | |
Franz-Stefan Gady: Dazu müssten wir mehr über das genaue Endziel der | |
Ukraine wissen, was wir bisher bestenfalls aus Äußerungen ableiten können – | |
etwa die Verbindungen zur Krim zu kappen. Dies vorabgestellt, würde man | |
einen Erfolg mit einer Abnutzung der russischen Streitkräfte definieren, | |
was aber schwer messbar ist. Besser messbar ist der geografische | |
Geländegewinn, der allerdings aktuell nicht überbewertet werden darf, wenn | |
die Abnutzung der russischen Streitkräfte das militärische Primärziel wäre. | |
Die öffentliche Erzählung über diese Offensive muss jedenfalls damit enden, | |
dass die russischen Streitkräfte eine klare Niederlage erleiden. Diese | |
Botschaft muss dann natürlich auch zu den westlichen Unterstützern | |
durchdringen, um Waffen- und Hilfslieferungen zu gewährleisten. Stellt der | |
Westen diese ein, wird der Krieg ja weitergehen, nur eben womöglich noch | |
blutiger. | |
Aber was heißt das für eine aktuelle Erfolgsbemessung? | |
Wenn man nach zwei Monaten mit hohen Verlusten auf der eigenen Seite und | |
begrenzten Geländegewinnen dasteht, muss man sich schon irgendwann die | |
Frage stellen: Wie lange noch? Wann macht es Sinn, diese Offensive zu | |
stoppen und sich auf eine andere Kriegsführung, eine andere Offensive | |
vorzubereiten? Meine Vermutung ist tatsächlich, dass die Offensive bis | |
vielleicht spätestens Ende September kulminieren wird, also: Großräumige | |
ukrainische Attacken werden möglicherweise Ende nächsten Monats enden. | |
Gekämpft wird natürlich noch weiterhin werden. | |
Was ist passiert? | |
Das Grundproblem ist, dass die Ukrainer eine Abnutzungsstrategie gewählt | |
haben, nachdem die Strategie des Bewegungskriegs in den ersten Tagen nicht | |
aufgegangen ist. Jetzt ist es eine langsamere, blutigere Strategie der | |
Abnutzung, in der schwer zu bewerten ist, was als „erfolgreich“ gilt, weil | |
man Verluste auf der einen mit Verlusten auf der anderen Seite ins | |
Verhältnis setzen muss. Die Frage ist, welche der beiden Streitkräfte wird | |
Ende nächsten Monats fähiger sein, den Krieg fortzuführen. | |
Es scheint, dass die Ukrainer leichte Vorteile haben, was den | |
Artilleriekampf betrifft, sie haben hier eine qualitative Überlegenheit in | |
der Ausrüstung. Sie sind auch besser ausgebildet für den Nahkampf – für | |
Grabenkämpfe und so weiter. Die ukrainischen Streitkräfte wären | |
wahrscheinlich im Bewegungskrieg überlegen. Deshalb ist die große Frage: | |
Schaffen es die Ukrainer noch in den nächsten Wochen in die | |
Bewegungskriegsführung überzugehen. Die genaue Antwort darauf kennen wir | |
noch nicht. | |
Im Großen und Ganzen herrscht im Westen [1][eine relative Enttäuschung über | |
den Verlauf der Offensive]. | |
Ja, das haben sich die ukrainischen Streitkräfte eben auch anders | |
gewünscht, aber sie sind eben auch realistisch. Jetzt setzen sie im | |
Abnutzungskrieg auf das, was Ernest Hemingway einmal mit „erst schleichend | |
und dann plötzlich“ beschrieben hat: Im Abnutzungskrieg baut sich der Druck | |
schleichend auf, bis es zum plötzlichen Durchbruch kommt und die Front | |
teilweise kollabiert – zumindest ist das in der Militärtheorie so. | |
Sie haben [2][nach einer Reise an die Front kürzlich angemerkt], dass die | |
ukrainische Armee mit der Vielzahl unterschiedlicher Waffensysteme, die sie | |
von der Nato bekommt, auch überfordert sein könnte – es komme eher darauf | |
an, das gelieferte Gerät sinnvoll orchestriert einzusetzen. | |
Ich sprach hier hauptsächlich vom Kampf der verbundenen Waffen. Die | |
ukrainischen Streitkräfte mussten in wenigen Monaten lernen, wofür andere | |
vielleicht über ein Jahrzehnt gebraucht hätten. Man muss für jede Lieferung | |
auch die Ausbildung und die Möglichkeit eines gut koordinierten Einsatzes | |
im Verbund einkalkulieren. Angesichts dieser Opportunitätskosten wäre ich | |
vorsichtig mit der Behauptung, dass die Ukraine zum Beispiel die deutschen | |
Taurus-Marschflugkörper für diese Phase der Gegenoffensive wirklich | |
braucht. Ich halte die Marschflugkörper für langfristig wichtig, aber | |
sekundär für den Ausgang der Offensive. | |
Reden wir also dauernd über die falschen Waffen? | |
Letztlich müssen wir der Ukraine liefern, was sie verlangt. Aber es ist | |
primär ein Artilleriekrieg, gebraucht werden vor allem die schwere | |
Artilleriemunition und die entsprechenden Rohre, die relativ schnell | |
ausleiern. Auch Minenräumgerät jeglicher Art. Wer jetzt meint, mit einer | |
modernen Luftwaffe könne die Ukraine gewinnen oder hätte schon gewonnen, | |
dem sage ich, der Einsatz einer modernen Luftwaffe im Verbund mit anderen | |
Systemen ist kurzfristig nicht realistisch und aktuell nicht militärisch | |
ausschlaggebend. | |
Insgesamt gebärden sich in der Waffenlieferungsfrage die USA und | |
[3][Deutschland zurückhaltender], während vor allem die Briten auf mehr | |
drängen, Stichwort Kampfjets. Ist das eine Art verabredeter | |
Rollenverteilung in der Nato? | |
Es ist vielleicht nicht verabredet, aber eine Rollenverteilung. Die | |
Probleme, die in Europa bezüglich einer möglichen Eskalation des Krieges | |
gesehen werden, sind meiner Ansicht nach auch medial überzeichnet. Die | |
Einzigen, die wirklich Eskalationsmanagement betreiben müssen, sind die | |
Amerikaner. Die Briten können Sachen tun, die die Amerikaner nicht tun | |
können, denn die Russen schauen letztlich nach Washington, nicht nach | |
London. | |
Und jede Eskalation etwa nuklearer Art wird von dort, von Washington aus | |
gemanagt werden müssen. Die Kritik an der Biden-Administration, dass sie | |
bestimmte Waffen der Ukraine nicht liefert, finde ich deshalb nicht | |
angebracht. Die USA tun, was sie können! Deutschland dagegen hätte durchaus | |
die Möglichkeit, aus dem Schatten der Amerikaner herauszutreten – und macht | |
das ausweislich der umfangreichen Lieferungen ja auch schon. | |
Auf die Marschflugkörper und auch Kampfjets zielt der Vorwurf, dass der | |
Westen das Notwendige zwar oft erkenne, aber dann nicht beschließe. | |
Das stimmt vor allem für die Artillerieproduktion. Da hat Europa viel zu | |
lange zugewartet, das muss man Europa wirklich ankreiden, das hätte schon | |
Wochen nach Beginn des Krieges stattfinden können. Der Dreh- und Angelpunkt | |
dessen, was die Ukraine derzeit macht, ist bodengestütztes Geschützfeuer – | |
etwa mit der Panzerhaubitze 2000 oder Himars-Mehrfachraketenwerfern. | |
Die Artillerie ist derzeit die Königin der Waffen auf dem Schlachtfeld, | |
unterstützt von der Infanterie und wenn möglich mechanisierten Verbänden | |
aus Schützen- und Kampfpanzern. Es ist aber auch nicht die Schuld des | |
Westens, wenn diese Waffen teilweise nicht richtig eingesetzt werden oder | |
militärische Fehler auf dem Schlachtfeld gemacht werden. Es ist verkürzt zu | |
sagen, die Schuld an der gegenwärtigen Situation in der Ukraine liegt in | |
Europa oder in den USA. | |
Hieß es nicht letztes Jahr, die frühen Erfolge der Ukraine seien der guten | |
Schulung namentlich durch die Briten zu verdanken, die dem strikt | |
hierarchischen sowjetischen Traditionsdenken der Russen überlegen sei? | |
Auf den hochintensiven Kampf, zu dem die Ukraine jetzt genötigt wurde, wäre | |
auch kein westliches Land vorbereitet. Die Erfolge zu Beginn des Krieges | |
gegen die Ukraine sind auch den vielen Freiwilligen zu verdanken, und die | |
wurden nicht vom Westen ausgebildet, sondern haben sich auf Youtube | |
angeschaut, wie man Panzerabwehrwaffen bedient, und sind dann auf eigene | |
Faust in den Kampf gezogen. | |
In der Anfangsphase wurde der Stoß auf Kyjiw im Wesentlichen von zwei | |
ukrainischen Artilleriebrigaden abgewehrt, die nach sowjetischem Muster | |
gekämpft haben. Aber speziell zu Beginn dieses Kriegs ist über Social Media | |
wirklich viel Unsinn verbreitet worden, das hat mich sehr geärgert. | |
An anderer Stelle haben Sie auch schon einmal | |
„Schreibtisch-Militäranalysten“ kritisiert. Was macht einen guten | |
Militäranalysten aus? | |
Es gibt viele Leute, die arbeiten sehr gut vom Schreibtisch aus. Meine | |
Kritik betraf einige Twitter(X)-User, die sich als Militäranalysten | |
ausgeben und nachweislich Unwahrheiten verbreiten. Das Wichtigste ist, | |
zuzugeben, wenn man etwas nicht weiß, wenn die Datenlage unzureichend ist. | |
Man sollte sich nicht gleich zu Beginn kategorisch auf einen Standpunkt | |
festlegen, denn dann wird man im Folgenden vor allem damit beschäftigt | |
sein, die eigene These immer weiter zu untermauern, statt sich der | |
Wirklichkeit zuzuwenden. | |
Ich halte es außerdem für wünschenswert, das Militärhandwerk wenigstens mal | |
beschnuppert zu haben. Kriegsführung ist beides: Handwerk und Intuition. | |
Letztere wird dann oft in der Retrospektive als Strategie bezeichnet, aber | |
die besten Kommandeure der Militärgeschichte haben immer intuitiv und aus | |
dem Bauch heraus Entscheidungen getroffen. | |
25 Aug 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Offensive-gegen-Russland-Besatzung/!5947681 | |
[2] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-verlauf-gegenoffensive-gad… | |
[3] /Waffen-fuer-die-Ukraine/!5952125 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Winkelmann | |
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