| # taz.de -- Wasserkraft im Tiroler Kaunertal: Auf Talfahrt | |
| > Das Platzertal in Tirol soll einer Wasserkraftanlage weichen. | |
| > Naturschützer, Landwirte und Paddler warnen vor irreversiblen Schäden. | |
| Bild: Bislang nur vom Licht geflutet: das Platzertal in Tirol, eine Hochmoorlan… | |
| Auf mehr als 2.000 Metern über dem Meeresspiegel steht die Platzeralm wie | |
| das Pförtnerhäusl zu einer höheren Welt. Hinter dem Haus weiden Kühe, man | |
| hört Almglockengeläut. Ein Wandersteig windet sich bergan. Almrosen | |
| leuchten pinkfarben zwischen Steinen. Vielerorts tritt Wasser aus dem Hang, | |
| gurgelt bergab. Nach einer Stunde Anstieg flacht die Landschaft ab, gibt | |
| den Blick nach vorne frei. | |
| Eine fast asketische Landschaft breitet sich aus. Zwischen alpinen Wiesen | |
| und samtenen Moospolstern legt der Platzbach sein blaugrünes Band. Zwischen | |
| Torfbuckeln liegen Tümpel. Kein Baum, kein Strauch. Auch keine Hütte, keine | |
| Wegbeschilderungen. Es ist ein Stück unverfügte Natur. | |
| Nur heute sind am Taleingang ungewöhnlich viele, vor allem junge Leute | |
| unterwegs. Sie hantieren mit Seil und Reepschnüren, entrollen Banner. Als | |
| insgesamt 50 Meter Stoff über das Bachbett gespannt sind, kann man darauf | |
| in schwarzen Lettern lesen: „Platzertal bleibt!“ Die rund 20 Aktivisten | |
| kommen von den Umweltverbänden WWF und Global 2000 sowie dem | |
| Naturschutzverein WET, „Wildwasser erhalten Tirol“. | |
| Die Stelle haben sie für die Aktion bewusst gewählt. Von beiden Seiten | |
| rücken hier die Berge V-förmig zusammen, bilden einen Flaschenhals. | |
| Topografisch ideal in den Augen eines Ingenieurs, um hier eine Talsperre zu | |
| ziehen. Genehmigt die Politik die Pläne der Tiwag, der Tiroler Wasserkraft | |
| Aktiengesellschaft, wird hier in wenigen Jahren eine rund 120 Meter hohe | |
| und 400 Meter breite Betonmauer errichtet. | |
| ## Eine Mauer, so hoch wie der Stephansdom | |
| 120 Meter – das ist in etwa so hoch wie der Stephansdom in Wien oder 20 | |
| Meter höher als die Münchner Frauenkirche. Moorflächen im Ausmaß von etwa | |
| neun Fußballfeldern würden anschließend geflutet. Der neue Speichersee | |
| würde dann über Rohrleitungen mit dem tiefer liegenden Wasserkraftwerk | |
| Kaunertal verbunden. | |
| Bettina Urbanek, dunkle Haare, festes Schuhwerk, steht neben einem | |
| flechtenbewachsenen Findling und gibt der Presse Interviews. Sie ist für | |
| diese Aktion eigens aus Wien angereist und in das Hochtal aufgestiegen. Die | |
| Gewässerökologin beim WWF Österreich verfolgt dieses Ausbauprojekt seit | |
| mehr als einem Jahrzehnt. | |
| Urbanek findet klare Worte: „Dieses Hochtal samt seinem Moorgebiet auf | |
| 2.350 Meter Seehöhe für ein Pumpspeicherkraftwerk zu fluten ist massiv | |
| naturzerstörerisch und energiewirtschaftlich so nicht nötig“, sagt sie. „… | |
| ist ein Märchen, dass dieser Bau in Zeiten der Energiewende alternativlos | |
| sei – das soll nur die veraltete Planung der Tiwag kaschieren.“ | |
| Die Tiroler Wasserkraft AG gehört zu hundert Prozent dem Land, es betreibt | |
| den Löwenanteil der über 1.000 Wasserkraftwerke in Tirol. Nun hat der | |
| Energieversorger die Pläne zum Ausbau des Kraftwerks Kaunertal zum | |
| wiederholten Male zur Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) eingereicht. | |
| ## Schweres Gerät in sensible Bergregionen | |
| Wobei der Begriff „Ausbau“ die Dimension der Baumaßnahmen nur unzureichend | |
| wiedergibt. De facto wäre es eines der größten Wasserkraftprojekte in | |
| Europa, mit unumkehrbaren ökologischen Auswirkungen auf drei Täler. Die | |
| Rede ist von drei Baustellen, die eine Fläche von insgesamt 19 Hektar | |
| betreffen würden. | |
| Rund 23 Kilometer Stollen von bis zu sechs Meter Durchmesser müssten in den | |
| Berg getrieben werden, teilweise unter Naturschutzgebieten hindurch. | |
| Schweres Gerät müsste in sensible Bergregionen verbracht werden, Flüsse | |
| abgeleitet. Aktuell veranschlagte Kosten: mehr als 2 Milliarden Euro. Ginge | |
| es nach der Tiwag, wäre der Baubeginn schon 2028. | |
| Das Unternehmen rechtfertigt das Ausbauvorhaben mit dem Verweis auf die | |
| österreichische Energiestrategie. Die Republik will bis 2040 klimaneutral | |
| werden. Wie überall bringt die Dekarbonisierung zunächst eine massive | |
| Erhöhung des Strombedarfs mit sich. Nach Aussagen des Bundesministeriums | |
| für Klimaschutz wird sich der Strombedarf Österreichs bis 2040 um 50 bis 70 | |
| Prozent erhöhen, weil die fossilen Energieträger ersetzt werden müssen. | |
| Ausbauziel an erneuerbaren Energien für Österreich sind bis 2030 deshalb | |
| zusätzliche 27 Terawattstunden, davon 5 Terawattstunden aus Wasserkraft. | |
| Der Ausbau des Kraftwerks Kaunertal brächte laut Tiwag eine Leistung von | |
| zusätzlichen 886 Gigawattstunden im Jahr. Damit stiege das Unternehmen in | |
| eine höhere Liga der Erzeugungsgesellschaften auf. | |
| Zu der Protestaktion ist auch Marlon Schwienbacher gekommen. Der jugendlich | |
| wirkende Mann ist selbstständiger Biologe mit dem Schwerpunkt | |
| Vegetationsökologie. Seinem gebräunten Gesicht sieht man an, dass er viel | |
| im Gebirge unterwegs ist. Er hat eine Studie erstellt, die zeigt: Im | |
| Platzertal liegt einer der größten, fast unberührten hochalpinen Moor- und | |
| Feuchtgebietskomplexe Österreichs – seine Fläche erstreckt sich über mehr | |
| als 20 Hektar. | |
| „Das hier ist ein Lebensraummosaik aus Kleinstbiotopen, die über | |
| Wasserläufe miteinander vernetzt sind“, so der Wissenschaftler. Tiere und | |
| Pflanzen hätten sich hier über lange Zeiträume hinweg angepasst. „Das sind | |
| genau die Orte, die wir schützen müssen.“ | |
| Moorlandschaften sind aber nicht nur Horte der Biodiversität, sie spielen | |
| auch eine bedeutende Rolle für den Klimaschutz. Torf ist Weltmeister in der | |
| Kohlenstoffspeicherung. Global betrachtet nehmen Moore nur 3 Prozent der | |
| Landfläche ein, aber speichern rund 30 Prozent des Kohlenstoffs. | |
| Dabei sind auch alpine Niedermoore Kohlenstoffsenken. „Ihre Vegetation | |
| entzieht der Atmosphäre den Kohlenstoff und trägt ihn unter | |
| Sauerstoffausschluss dauerhaft in die Böden ein – und zwar in großen | |
| Mengen“, so Schwienbacher. „Aber das tun nur Moore, die sich in einem guten | |
| Zustand befinden.“ | |
| ## Immenser Speicherbedarf für den Klimaschutz | |
| Ein Besuch bei der Tiwag in Innsbruck. Am Eduard-Wallnöfer-Platz hat das | |
| Unternehmen seinen Hauptsitz. In der Glasfassade des Baus spiegeln sich die | |
| Skateboarder, die auf Betonrampen ihre Sprünge machen. Drinnen, im ersten | |
| Stock, setzt sich Wolfgang Stroppa an einen ovalen Konferenztisch und | |
| breitet einen Plan darauf aus. Der Diplomingenieur hat für das | |
| Ausbauprojekt leitende Funktion. | |
| Auf der Übersicht kann man erkennen: Herzstück des bestehenden Kraftwerks | |
| ist der Gepatsch-Speicher, ein Stausee aus den 60ern. In ihm wird jetzt das | |
| Wasser umliegender Bergbäche eingezogen. Von dort aus wird es abgelassen, | |
| treibt im Kraftwerk Prutz Turbinen an und wird in den Inn abgeleitet. | |
| Stroppa erklärt die Ausbaupläne: Zwei neue Kraftwerke mit Turbinenhäusern | |
| und Triebwasserwegen sollen entstehen, eines neben dem bereits | |
| existierenden, es hieße dann Prutz 2, und ein zweites zwischen | |
| Gepatsch-Speicher und dem neuen Speicher Platzertal mit Namen Versetz. | |
| Die zusätzliche Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien sei das Ziel, | |
| so der Tiwag-Ingenieur. „Zusätzliche Erzeugung heißt aber auch zusätzliches | |
| Wasser, das wir dafür benötigen.“ Das soll aus dem hinteren Ötztal kommen, | |
| davon wird später im Text noch die Rede sein. Dieses Plus an Wasser würde | |
| in den Speicher Gepatsch geleitet. Von dort könnte es über die Turbinen in | |
| den Inn abgelassen werden, oder zuerst hinauf in den neuen Speicher | |
| Platzertal gepumpt werden, gewissermaßen geparkt. | |
| „Das heißt, das Tal hat später andere Funktionen, als es davor hatte“, sa… | |
| Stroppa mit Hinblick auf das Platzertal. Diese Umwidmung rechtfertigt er | |
| mit dem Verweis auf die EU, die das Thema Speicherbedarf generell im Rahmen | |
| [1][der Klimaziele] ganz nach oben gesetzt habe. „Wir werden einen immensen | |
| Bedarf haben an Speicherung und an Ausgleichs- und Regelenergie“, sagt er. | |
| Diese Aussage ist erst einmal richtig. | |
| ## Schreckgespenst: Blackout | |
| Die Dekarbonisierung des Stromnetzes verlangt nach mehr Flexibilität zum | |
| Ausgleich der Schwankungen der Wind- und Solarstromerzeugung. Speicher sind | |
| dabei eine Möglichkeit, Flexibilität zu liefern. Und Pumpspeicherkraftwerke | |
| sind dank der Höhendifferenz eine Option, Energie zu speichern und die | |
| Einspeisung und Ausspeisung von Strom im Netz auszugleichen. | |
| Dies erklärt allerdings noch nicht, warum so ein Speicher in einem Hotspot | |
| alpiner Artenvielfalt gebaut werden muss. Die Energiewende bedeute, | |
| Kompromisse zu machen, so Stroppa, man müsse sich die Frage stellen: „Was | |
| bin ich bereit an Natur einzusetzen für die Erzeugung von erneuerbarer | |
| Energie?“ | |
| In ihrem Werben um die Tiroler Bevölkerung nutzt die Tiwag ein weiteres | |
| Argument, das Wolfgang Stroppa auch im Gespräch mit der taz anführt. Das | |
| Thema Blackout. Das neue Pumpspeicherwerk könne bei einem großflächigen | |
| Stromausfall innerhalb des europäischen Verbundes die Netzspannung wieder | |
| aufbauen. | |
| Tatsächlich sind Wasserkraftwerke durch ihre mechanische Wirkweise – Wasser | |
| fällt durch die Schwerkraft auf Turbinen – „schwarzstartfähig“ und kön… | |
| im Krisenfall anforderungsgenau ins Netz speisen. Zur Wahrheit gehört aber: | |
| Das Kraftwerk Kaunertal vermag bereits jetzt einen Schwarzstart, so wie | |
| jedes andere Wasserkraftwerk, das an das Verbundnetz angeschlossen ist. Von | |
| denen gibt es in Tirol und Österreich bereits eine ganze Menge. | |
| ## Sprudelnde Ungezähmtheit | |
| Unter der Wellerbrücke bei Oetz tost die Ötztaler Ache. Sie donnert hier | |
| durch eine felsige Engstelle. Heute, an einem Sommernachmittag, wo die | |
| Sonne heiß auf die Ötztaler Ferner scheint, ist der Wasserpegel besonders | |
| hoch. Touristen stehen auf der Brücke, blicken übers Geländer in das | |
| Gesprudel, fasziniert von so viel Ungezähmtheit. Sie bestaunen die wenigen | |
| Kajakfahrer, die sich auf diesen schwierig zu fahrenden Abschnitt wagen, | |
| der in der Welt der Paddler weithin berühmt ist. | |
| Das Ötztal ist eines der letzten Täler Österreichs, in denen sich das | |
| Gletscherwasser auch in tieferen Lagen noch seinen natürlichen Weg suchen | |
| darf. Auf einer Strecke von 42 Kilometern durchzieht der Wildbach die | |
| Landschaft. Das Ötztal selbst ist ein inneralpines Trockental, von Natur | |
| aus niederschlagsarm. Es ist der Fluss, der dort ein Leben und Wirtschaften | |
| erst möglich macht. | |
| Doch bald könnte Schluss sein mit so viel Tosen und Rauschen. Die Tiwag | |
| möchte kurz vor dem Zusammenfluss von Venter und Gurgler Ache deren Wasser | |
| mittels zweier 25 Meter hoher Betonsperren in einem 500 Meter langen Becken | |
| aufstauen. Mehr als 70 Prozent der dortigen Wassermenge würden abgezweigt | |
| und dauerhaft in den Gepatsch-Speicher umgeleitet. Dafür müsste die Tiwag | |
| vom Kaunertal aus einen rund 23 Kilometer langen sogenannten | |
| Freispiegelstollen durch das Gebirge treiben. Für das Unternehmen ist das | |
| interessant: Das Volumen im Gepatsch-Speicher ließe sich damit fast | |
| verdoppeln. | |
| Reinhard Scheiber ist Obmann der Ötztaler Agrargemeinschaften und Gründer | |
| der Ötztaler [2][Bürgerinitiative gegen den Ausbau des Kraftwerks | |
| Kaunertal]. Die Initiative will, dass der Fluss im Tal verbleibt. „Für uns | |
| hat unser Wasser einen viel größeren Wert als nur die Energie, die in ihm | |
| steckt“, sagt er. „An ihm hängt alles dran – Landwirtschaft, Tourismus, | |
| Lebensqualität, Trinkwasser!“ Würde der Flusspegel sinken, sei die | |
| Absenkung des Grundwasserspiegels zu befürchten. „Das hätte Folgen auf | |
| unsere Futterwiesen“, so Scheiber. | |
| ## Trockene Wiesen | |
| Schon jetzt müsse man diese in trockenen Sommern bewässern. Die Landwirte | |
| sähen die Auswirkungen der Klimakrise auch auf den Almen. „Dort fallen | |
| Bäche trocken“, sagt Scheiber. „Dann müssen unsere Tiere weite Wege zur | |
| nächsten Tränke gehen.“ Die wenigsten Menschen im Tal seien komplett gegen | |
| die Nutzung von Wasserkraft. Aber dann sollten es bitte Laufkraftwerke in | |
| Gemeindehand sein. | |
| So bliebe das Wasser vor Ort und in Notzeiten verfügbar. „Geben wir es | |
| jetzt an die Tiwag, sind die Wasserrechte für 90 Jahre verloren“, sagt | |
| Scheiber. Das könne man gegenüber nachkommenden Generationen nicht | |
| verantworten. „Kann ich Geld trinken?“, so der Landwirt. | |
| Jürgen Neubarth kommt nicht aus der Riege der Naturschützer. Er sieht die | |
| Dinge aus energiewirtschaftlicher Sicht. Der Ingenieur berät | |
| österreichische und deutsche Unternehmen, Gemeinden, Behörden sowie NGOs zu | |
| Energiethemen. Für den WWF Österreich hat er das Ausbauprojekt Kaunertal | |
| analysiert. | |
| Er bezweifelt die Notwendigkeit, das Platzertal in einen Stausee zu | |
| verwandeln. „Es fehlt das übergeordnete öffentliche Interesse, wie es durch | |
| die europäischen Ausbauziele für den Ausbau der Erneuerbaren gilt“, so | |
| Neubarth. Tatsächlich würde der neue Platzer-Speicher und das Kraftwerk | |
| darunter gar keinen Strom aus den Erneuerbaren erzeugen, sondern beides | |
| würde nur dazu dienen, das Wasser zu speichern. „Und das mit Verlusten, | |
| weil das Wasser erst gegen die Schwerkraft nach oben gepumpt werden muss.“ | |
| ## Geld statt Wasser | |
| Den Zeitdruck, mit dem die Tiwag das Projekt durchbringen will, sieht er | |
| kritisch. „Es gibt weder in Tirol noch in Österreich eine übergeordnete | |
| Speicherstrategie, die benennt, wie viel Speicherkapazitäten wir parallel | |
| zum Ausbau von Wind und Sonne überhaupt brauchen.“ Der bisherige Ausbaugrad | |
| von Photovoltaik liegt in Tirol derzeit bei 2,3 Prozent, Windkraft bei null | |
| Prozent. | |
| Außerdem sei die Energiewende kein Tiroler, sondern vielmehr ein | |
| europäisches Projekt. „Ein Speicher, der das europäische Verbundnetz | |
| stabilisieren soll, kann also auch woanders stehen als im Platzertal – der | |
| kann auch in Thüringen stehen.“ | |
| Überdies gäbe es gelungene Beispiele dafür, ältere Pumpspeicherkraftwerke | |
| ohne große Naturzerstörung effizienter zu machen, wie etwa das Vorarlberger | |
| Kraftwerk Kops 2. Bei dem ist es durch die Optimierung der bestehenden | |
| Infrastruktur gelungen, 525 Megawatt Stromleistung zusätzlich zu | |
| generieren. Repowering nennt sich das. Ohnehin gelte, so Neubarth, eine | |
| alte energiewirtschaftliche Weisheit: „Die günstigste und effizienteste | |
| Flexibilitätsmöglichkeit ist der Stromnetzausbau.“ | |
| Warum drängt die Tiwag dann so auf diesen Speicher? Auf die Frage lacht | |
| Neubarth: „Die wollen halt Geld verdienen, und das kann man mit dem | |
| Projekt.“ Was ein Pumpspeicherwerk wirtschaftlich interessant mache, sei, | |
| das Wasser mehrmals am Tag zwischen Unter- oder Oberbecken hin- und | |
| herzuschicken. „Wenn mittags dank Sonneneinstrahlung viel günstiger | |
| PV-Strom an der Strombörse zu haben ist, wird das Wasser nach oben in die | |
| Reserve gepumpt. | |
| ## Anwalt der Natur | |
| Und es wird etwa dann heruntergelassen, wenn die Sonne nicht mehr scheint, | |
| in den Haushalten der Bedarf steigt und die Preise hochgehen. Das geht rauf | |
| und runter die ganze Zeit, 2.000 Stunden im Jahr. Billig Strom kaufen, | |
| teuer verkaufen – das ist die Idee.“ | |
| Noch einmal nach Innsbruck, Meraner Straße. Nur wenige Gehminuten vom | |
| Hauptsitz der Tiwag entfernt hat die Tiroler Umweltanwaltschaft ihre Büros. | |
| Diese vom Staat bezahlte Institution gibt es in Österreich in jedem | |
| Bundesland. Der Biologe Johannes Kostenzer leitet die Tiroler Einrichtung. | |
| In ihm hat die Natur einen starken Fürsprecher. „Ich bin dazu vereidigt, in | |
| Behördenverfahren die Interessen der Natur zu vertreten“, erklärt er. | |
| Wie ein Naturschutzverband hat er Parteistellung, wenn größere Bauten oder | |
| Infrastrukturmaßnahmen geplant sind. Kostenzer hat das Recht auf | |
| Akteneinsicht, er kann Pläne einsehen und darf bei Verhandlungen | |
| Stellungnahmen abgeben. Dazu hat er Weisungsfreiheit. „Mir kann kein | |
| Politiker reinreden“, sagt er. Kostenzer spricht ruhig und überlegt. Er hat | |
| viel Erfahrung mit Konflikten dieser Art. Rund 1.250 Fälle im Jahr landen | |
| bei ihm und seinen Mitarbeitern. | |
| Noch mehr erneuerbare Energie aus Tiroler Flüssen zu ziehen hält er für | |
| eine Fehlentwicklung, weil diese Technologie wieder den ökologischen | |
| Lebensraum Gewässer belaste. Tatsächlich befinden sich 43 Prozent der | |
| Tiroler Fließgewässerstrecken, gemessen an den Kriterien der | |
| EU-Wasserrahmenrichtlinie, ökologisch in einem sehr schlechtem Zustand. | |
| ## Die Gletscherschmelze nicht einberechnet | |
| Kostenzer spreizt fünf Finger. „Wir können die gesunden Flussabschnitte in | |
| Tirol an nur einer Hand abzählen“, so der Umweltanwalt. „Aber gerade in | |
| Zeiten der Klimakrise brauchen wir intakte Gewässer dringend.“ Das Gleiche | |
| gelte für Moorflächen, die bei Starkregen natürliche Wasserrückhalte sind. | |
| „Solche Räume aufs Spiel zu setzen geht völlig gegen die Intention des | |
| [3][Nature Restoration Law] zur Wiederherstellung der Natur, für das gerade | |
| erst das EU-Parlament abgestimmt hat.“ | |
| Der Umweltanwalt spricht noch einen Fakt an. „Die hydrologische Planung der | |
| Tiwag ist viele Jahre alt, sie ist gar nicht angepasst an die | |
| Gletscherschmelze in ihrer Gewaltigkeit.“ Tatsächlich schmelzen die | |
| Ötztaler Ferner rasant. „In den nächsten 20 bis 30 Jahren wird ein | |
| wesentlicher Anteil von dem Wasser, das die Tiwag neu einziehen will, nicht | |
| mehr da sein“, so Kostenzer. „Gerade weil wir nicht wissen, welche | |
| Auswirkungen das Schmelzen der Gletscher auf Grundwasser und Quellen haben | |
| wird, muss die Politik bei der Entscheidung zu diesem Projekt dem | |
| Vorsorgeprinzip eine entscheidende Rolle geben.“ | |
| In der Vergangenheit haben Umweltverbände oft gegen die Ingenieursträume | |
| der Tiwag protestiert und den Kampf verloren. Doch jetzt formiert sich | |
| breiterer Widerstand. Eine tälerübergreifende Allianz ist entstanden, | |
| Umweltschutzorganisationen, Bürgerinitiativen, Wissenschaft gehen in den | |
| Schulterschluss mit Vertretern von Landwirtschaft und Tourismus. | |
| Und dann ist da noch WET, gegründet von Kajakfahrerinnen, die sich nicht | |
| allein aus Eigeninteresse, sondern auch aus ökologischen Beweggründen für | |
| Fließgewässer einsetzen. Denn Querbauten und Ableitungen blockieren nicht | |
| nur Paddelstrecken. Sie bringen das System Fluss durcheinander, im Wasser | |
| und an seinen Ufern – und so auch seine für den Menschen unverzichtbaren | |
| Leistungen. In der [4][Filmdokumentation „Der letzte Tropfen“] haben die | |
| WET-Aktivistinnen die Stimmen und Argumente gegen den Ausbau des | |
| Kaunertalkraftwerkes zusammengetragen. | |
| ## Natur als Warenlager? | |
| Anfang des Jahres hat die Tiwag ihre Ausbaupläne zur vorgeschriebenen | |
| Umweltverträglichkeitsprüfung eingereicht. Im Juli schrieb die [5][Tiroler | |
| Tageszeitung], dass die Behörden dem Unternehmen einen Verbesserungsauftrag | |
| in 18 von 36 überprüften Fachbereichen erteilt haben – vor allem, weil in | |
| den Unterlagen die Folgen der Klimakrise unzureichend berücksichtigt | |
| wurden. Bis März 2024 müssen die Unterlagen überarbeitet werden. | |
| Frühestens 2025 wird es zu einem ersten Behördenentscheid kommen. Dann wird | |
| sich zeigen, ob die Tiroler Landesregierung eine Energiepolitik fortführt, | |
| die Natur als Warenlager versteht, Hochtäler in riesige Wannen verwandelt | |
| und Flüsse auf Knopfdruck an- und ausschaltet. Oder ob sie der Strategie | |
| des österreichischen Bundesministeriums für Klimaschutz folgt, die | |
| ausdrücklich den Ausbau von Sonnenkraft und Windenergie forcieren will. | |
| Laut einer [6][Studie der Tiroler Landesregierung] beträgt das ausbaufähige | |
| Photovoltaikpotenzial allein auf Dachflächen 4,6 Terawattstunden. Deutlich | |
| mehr, als der Ausbau des Kraftwerks Kaunertal mit dem Einzug der Ötztaler | |
| Ache und der Flutung des Platzertals bringen würden. | |
| 6 Sep 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Basis-fuer-besseres-Klimaziel/!5894540 | |
| [2] https://www.lebenswertes-kaunertal.org/ | |
| [3] https://environment.ec.europa.eu/topics/nature-and-biodiversity/nature-rest… | |
| [4] https://www.youtube.com/watch?v=4p8aUPZcXOk | |
| [5] https://www.tt.com/artikel/30845959/tiwag-am-zug-entscheidende-tage-fuer-da… | |
| [6] https://www.tirol.gv.at/fileadmin/themen/umwelt/wasser_wasserrecht/PV-FREIF… | |
| ## AUTOREN | |
| Margarete Moulin | |
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