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# taz.de -- Tote Tiere auf der Straße: Endstation Asphalt
> In Deutschland sterben nach Schätzungen pro Jahr 19 Millionen Tiere auf
> der Straße. Doch niemand weiß genau, wie der Verkehr das Wildleben
> beeinflusst.
Bild: Verkehrsopfer Turmfalke
Auf dem Standstreifen liegt ein platter Haufen aus grau-bräunlichem Fell.
„Das hat auch mal gelebt.“ Michael Huth bremst langsam ab und bringt den
kleinen Transporter am Straßenrand zum Stehen. Daneben donnert ein LKW nach
dem anderen über den Berliner Ring. Huth öffnet die Fahrertür, in die
Kabine schwappt tosender Autobahnlärm. Er schaut über die Schulter, steigt
aus, holt eine Schaufel aus dem Anhänger und kratzt den Fell-Fladen vom
Asphalt. Mit dem Kadaver auf der Schippe steigt Michael Huth über die
Schutzplanke, überquert den Grünstreifen am Straßenrand und hebt das tote
Tier vorsichtig über den Maschendrahtzaun. Zurück im Wagen greift er
wortlos nach einer kleinen Tastatur, die mit dem Bordcomputer verbunden
ist, und tippt: M-a-r-d-e-r.
Michael Huth ist Streckenwart, seit mehr als 30 Jahren arbeitet er bei der
Autobahnmeisterei Rangsdorf bei Berlin. Jeden Tag kontrolliert er mit einem
Kollegen Streckenabschnitte in seinem Zuständigkeitsbereich. Insgesamt 170
Kilometer hin und zurück, plus Auf- und Ausfahrten. „Der eine lenkt, der
andere denkt“, sagt Huth. Im Bordcomputer werden Schäden aufgenommen:
Verbeulte Schutzplanke, Loch im Zaun, verbogenes Straßenschild, Hitzeblasen
auf dem Asphalt – und tote Tiere. Wenn Letztere am Straßenrand liegen,
haben sie in der Regel einen brutalen, oft auch qualvollen Tod hinter sich.
Obwohl alle Strecken der Autobahnmeisterei Rangsdorf mit Zäunen und Mauern
gesäumt sind, haben Huth und sein Team im Erhebungsjahr 2021 rund 160
größere Verkehrsopfer aufgenommen. Darunter vor allem Füchse und
Waschbären, Greifvögel und Wildschweine.
Diese 160 Tiere sind ein winziger Bruchteil der Realität. Zumindest laut
den Schätzungen der portugiesischen Biologin Clara Grilo. Hochrechnungen in
ihrer [1][Studie zu Roadkill] aus dem Jahr 2020 haben ergeben: Jedes Jahr
sterben in Europa rund 29 Millionen Säugetiere und 194 Millionen Vögel
durch den Straßenverkehr. Roadkill auf deutschen Straßen hat daran einen
signifikanten Anteil. Grilo erklärt, dass sie allein für Deutschland von
drei Millionen getöteten Säugetieren und 16 Millionen Vögeln pro Jahr
ausgeht. Demnach sind deutsche Autofahrer:innen für acht bis zehn
Prozent des Roadkills in ganz Europa verantwortlich.
Dafür gibt es zwei mögliche Ursachen: Deutschland hat das dichteste
Straßennetz in ganz Europa. Und die Autos, die auf diesem Straßennetz
unterwegs sind, fahren zu schnell.
## Tempolimit zur Vorsorge
„Mit einem Tempolimit könnten viele Wildunfälle vermieden werden“, sagt
Martin Strein, Biologe an der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt
Baden-Württemberg. Wer in der Fahrschule oder im Physikunterricht
aufmerksam war, erinnert sich vielleicht: Bei doppelter Geschwindigkeit
vervierfacht sich der Bremsweg. Gerade wenn flinke Tiere wie Rehe und
Wildschweine die Straße überqueren, entscheiden deshalb insbesondere bei
höheren Geschwindigkeiten oft wenige km/h über Leben und Tod.
Das Roadkill-Risiko ist aber auch von der Verkehrsdichte zu bestimmten
Tageszeiten abhängig. Berufsverkehr fällt zu bestimmten Jahreszeiten ins
Morgengrauen oder die Dämmerung und fordert dann besonders viele
Verkehrsopfer. Mehr Straßen lösen dieses Problem allerdings nicht, denn
grundsätzlich gilt: Jede neue Straße kostet Wildleben und Biodiversität.
„Wir sollten uns als Gesellschaft gut überlegen, wie weit unser Straßennetz
noch ausgebaut werden soll, beziehungsweise kann“, sagt Martin Strein.
Deshalb sind auch alle Maßnahmen zum Schutz von Wildtieren an Verkehrswegen
lediglich ein Kompromiss. Aber je nach Region und betroffenen Tierarten
können entsprechende Schutzmaßnahmen die Überlebenschancen des umliegenden
Wildlebens zumindest deutlich verbessern. Dazu zählen
Geschwindigkeitsbegrenzungen und Warnschilder an besonders gefährlichen
Stellen, bessere Sichtbarkeit am Straßenrand, Zäune, Tunnel oder
Grünbrücken. Für jedes neue Bauvorhaben muss in Deutschland individuell
geprüft werden, ob der Lebensraum und die Bewegungsrouten unterschiedlicher
Tier- und Pflanzenarten betroffen sind. Und Roadkill ist dabei bei weitem
nicht das einzige Problem – unter anderem beeinträchtigen auch Lärm und
Luftverschmutzung, Lichtreize, Streusalz und nicht zuletzt die
Zersplitterung von Habitaten das Verhalten, die Fortpflanzungschancen und
damit das Überleben von Wildtieren.
„Unsere Gesetze sind in vieler Hinsicht ausreichend, aber die Umsetzung
dauert oft viel zu lange“, sagt Martin Strein. „Teilweise dauert es zehn
Jahre und länger, bis eine Grünbrücke steht.“ Laut den Zielen der
Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt sollten bis 2020 „von den
bestehenden Verkehrswegen in der Regel keine erheblichen Beeinträchtigungen
des Biotopverbundsystems mehr aus[gehen].“ Der Biotopverbund wurde bereits
2002 im Bundesnaturschutzgesetz beschlossen. Er soll sicherstellen, dass
Tiere und Pflanzen so sicher wie möglich von A nach B kommen. Egal ob
zwischen diesen Lebensräumen ein großes Feld, eine Siedlung oder eine
breite Straße verläuft.
## Biotope für Wildleben
Laut Bundesnaturschutzgesetz sollen außerdem zehn Prozent der Landfläche
als Biotope für Wildleben erhalten werden. Ein Lagebericht des Bundesamts
für Naturschutz aus dem Jahr 2017 betont allerdings, „dass aktuell keine
Daten vorliegen, in welchem Umfang der Biotopverbund jeweils tatsächlich
umgesetzt und rechtlich gesichert ist.“ Auf Nachfrage der taz beim
Bundesamt für Naturschutz heißt es, dass es seitdem keine weiteren
Erhebungen gegeben hat.
Der Ansatz ist also da, die Umsetzung bleibt aber unklar. Jedes Bundesland
hat eigene Biotope und macht seine eigene Biotopverbundplanung. Vorgaben zu
einem einheitlichen Vorgehen gibt es kaum. Und einheitliche Angaben dazu,
welche Bundesländer das Zehn-Prozent-Ziel erreichen und wie erfolgreich die
Verbindung zwischen einzelnen Biotopen von unterschiedlichen Arten genutzt
wird, gibt es auch nicht.
An einer Autobahnausfahrt stoppt Michael Huth seinen Transporter und zeigt
auf ein kleines Wäldchen hinter einem Feld. „Da hinten lebt wahrscheinlich
eine ganze Rotte Wildschweine. Die wühlen sich durchs Maisfeld auf
Futtersuche und laufen dann auch die Ausfahrt runter.“ Um die Stelle
wenigstens etwas sicherer zu machen, haben Huth und seine Kollegen
Warnschilder für Wildwechsel angebracht. Seit einigen Jahren ist auf seiner
Autobahnstrecke zudem ein durchgängiger Schutzzaun installiert. Huth
schätzt, dass es seitdem dreimal weniger Roadkills gibt.
Der Streckenwart weiß aus eigener Erfahrung, was Wildschweine auf der
Autobahn anrichten können. „Vor langer Zeit, als es noch gar keinen Zaun
gab, hatte ich mal einen Nachteinsatz. Da sind mehrere Autos in eine Rotte
Wildschweine gefahren. Wir mussten dann mitten in der Nacht die ganzen
toten Schweine von der Bahn ziehen. Bei einem Schwein hat sich die
Bauchdecke immer wieder gehoben, das war wie im Gruselfilm. Da waren noch
Junge drin.“
Die meisten Roadkills, um die sich die Straßenmeisterei kümmert, werden
hinter der Schutzplanke begraben. Bleiben die Kadaver auf der Straße,
besteht die Gefahr, dass noch mehr Tiere angelockt werden, die dann
ebenfalls unter den Rädern enden. Nur größere Tiere wie Rehe und
Wildschweine nimmt die Streckenkontrolle mit – sie werden dann von der
Tierkörperbeseitigung entsorgt.
## Erste bundesweite Initiative
Wildunfälle mit Reh-, Rot-, Dam- und Schwarzwild sind auch die einzigen,
die in Deutschland offiziell erfasst werden. Laut dem Deutschen Jagdverband
werden jedes Jahr [2][250.000 bis 300.000] Fälle gemeldet. Beim Bundesamt
für Statistik werden dagegen nur die Wildunfälle erfasst, bei denen
[3][Personen zu Schaden] gekommen sind: „Das führt zu skurrilen
Situationen“, sagt Torsten Reinwald, Pressesprecher des Deutschen
Jagdverbands. „Vor mehreren Jahren sollte die Bundesregierung auf Anfrage
der Opposition offenlegen, wie viele Wildunfälle es pro Jahr gibt. Die
Antwort: Naja, so, knapp 3000.“
Kleinere Arten wie Eichhörnchen, Igel oder Singvögel fallen oft vollkommen
durchs Raster. Die einzigen Zahlen stammen von lokalen Initiativen,
Tierschutzvereinen, Forschungsprojekten und Museen. Einen bemerkenswerten
Datensatz sammelt schon seit 1990 das Museum der Westlausitz in Sachsen.
Olaf Zinke, Zoologe und stellvertretender Museumsleiter, seziert,
präpariert und katalogisiert jedes Jahr 600 bis 700 Tiere, darunter viele
Roadkills. „Ich würde mir wünschen, dass diese Aufgabe deutschlandweit von
öffentlichen Institutionen übernommen wird“, sagt Zinke.
Erst seit wenigen Jahren gibt es eine erste bundesweite Initiative. Beim
Tierfund-Kataster können Freiwillige tote Tiere und Roadkills via App
selbst melden.
Wie stark Roadkill den Bestand einzelner Arten tatsächlich bedroht, ist
schwer zu schätzen. Oftmals ist gar nicht bekannt, wie viele Tiere
einzelner Arten es überhaupt bei uns gibt. Eine gemeinsame Analyse von
Deutschem Jagdverband und Bundesamt für Naturschutz zeigt allerdings: Für
einige seltene Arten ist das Auto der Prädator Nummer 1. Laut
Roadkill-Erhebungen aus ganz Europa werden bei Luchs und Wolf bis zu 50
Prozent der Todesfälle durch den Verkehr verursacht. Beim Fischotter sind
es sogar 70 Prozent.
Michael Huth setzt den Blinker und biegt in die Einfahrt zur
Autobahnmeisterei. Dort wird er die Daten der Streckenkontrolle aus dem
Bordcomputer auswerten – Fundort, Zeitpunkt und Gegenstand. In den letzten
drei Jahrzehnten in der Autobahnmeisterei hat er viel gesehen. Schlimme
Autounfälle, einen totgefahrenen jungen Wolf, eine große aufblasbare
Gummipuppe im Straßengraben, die ihm einen ordentlichen Schrecken versetzt
hat. Die Bilanz der kurzen Kontrollfahrt auf der A10 von Rangsdorf bis
Ludwigsfelde-Ost, elf Kilometer hin, elf Kilometer zurück liest sich
dagegen harmlos: Rund ein Dutzend Reifenstücke und Fahrzeugteile. Ein
verbogenes Straßenschild. Ein Cuttermesser. Ein Schuh, Größe 42. Zwei
Krähen, ein Marder, eine Elster.
4 Aug 2023
## LINKS
[1] https://esajournals.onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/fee.2216
[2] https://www.jagdverband.de/zahlen-fakten/jagd-und-wildunfallstatistik/wildu…
[3] https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Verkehrsunfaelle/Tabe…
## AUTOREN
Friederike Walch-Nasseri
## TAGS
Autoverkehr
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Naturschutz
Deutsche Bahn
Schwerpunkt Klimawandel
Verkehrswende
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