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# taz.de -- Neue Graphic Novel von Manuele Fior: Die Vergangenheit liegt vor uns
> In „Hypericum“ führt der italienische Comicautor Manuele Fior in das
> Berlin Ende der Neunziger. Einen Crashkurs in Ägyptologie liefert er
> dabei mit.
Bild: Theresa und Ruben versuchen, sich in einer Stadt im Wandel zurechtzufinden
Was vor uns liegt, ist die Zukunft, was hinter uns liegt, ist die
Vergangenheit. Nicht so für die alten Ägypter. In „Hypericum“, der neuen
Graphic Novel [1][des italienischen Comicautoren Manuele Fior], führt die
in Berlin gelandete Ägyptologin Teresa an einer Stelle unterschiedliche
Vorstellungen von Zeit aus. Demnach haben die alten Ägypter die
Vergangenheit räumlich gesehen vor sich verortet und die Zukunft hinter
ihrem Rücken. Denn sie ist noch unbekannt, die Zukunft, deswegen muss sie
hinter einem liegen, wo man sie nicht sehen kann. Im Gegensatz dazu die
Vergangenheit: Sie „ist sehr wohl bekannt, immer sichtbar, weil bereits
gelebt. Sie entfaltet sich in voller Breite vor dem Beobachter.“
Man muss als Leser von Fiors Comic, falls man nicht ganz so vertraut ist
mit der Welt der alten Ägypter wie Teresa, diese Beschreibungen erst einmal
sacken lassen. Und man reagiert womöglich wie Ruben, dem Teresa in dem
Comic das alles erzählt. „Super. Ein echter Trip. Muss mal drüber
nachdenken“, sagt der.
Der Crashkurs in Ägyptologie, den man von Teresa bekommt, hilft durchaus,
um besser verstehen zu können, was Fior mit seinem verschachtelt erzählten
Comic im Sinn hat. Warum er seine Geschichte über die junge, aufstrebende
Wissenschaftlerin Teresa, die sich, frisch im Berlin Ende der Neunziger
angekommen, selbst zu verlieren droht in der für sie noch unbekannten
Stadt, so ausführlich mit Schilderungen von archäologischen Grabungen
koppelt. Grabungen, die im Jahr 1922 dazu geführt haben, dass das
sagenumwobene Grab Tutanchamuns im Tal der Könige in West-Theben gefunden
wurde.
Immer wieder wird man aus dem Berlin Ende des letzten Jahrtausends zurück
nach Ägypten gebeamt und verfolgt den britischen Archäologen Howard Carter
dabei, wie er sie endlich findet; die Grabstätte des vermutlich kaum älter
als 20 Jahre alt gewordenen Kindkönigs Tutanchamuns. Mehr als 3000 Jahre
lang lag er umgeben von prächtigen Schätzen in seinem Grab, von dem man
lange Zeit nur vermutete, wo es sich befinden könnte.
## Für Kenner überraschend
Erst nach und nach erschließt sich dabei dem Leser, was Fior mit seinen
Verknüpfungen verschiedener Orte und Zeitebenen eigentlich im Sinn hat. Und
was die unterschiedlichen Vorstellungen von Vergangenheit und Zukunft
letztlich mit den beiden Hauptprotagonisten seines Comics, die in Berlin in
einer Zeit zueinander finden, als die Stadt dabei war, nur noch nach vorne
zu blicken, zu tun hat. Und was die beiden am Ende auch mit Tutanchamun
verbindet.
Fior selbst, inzwischen [2][einer der bedeutendsten und bekanntesten
Comickünstler Europas], blickt mit „Hypericum“ auch zurück auf das Berlin,
das er selbst erlebt hat, als er Anfang des Jahrtausends hierher zog und wo
er mehrere Jahre lang lebte. Seine erste Graphic Novel, „Menschen am
Sonntag“ aus dem Jahr 2005, verfasste er hier. Auch sie handelte bereits
von Italienern, die versuchten, sich in Berlin, der Stadt des Wandels,
zurechtzufinden. Damals arbeitete Fior noch mit Schwarz-Weiß-Bildern, seine
neuerlichen Impressionen Berlins sind dagegen farbig.
[3][Inzwischen lebt Fior in Paris] und hat sich thematisch und zeichnerisch
mit seinen Comics als extrem wandelbar gezeigt, da ist er sozusagen ganz
der Berliner geblieben. Für Kenner seines Werks kommt es durchaus
einigermaßen überraschend, dass er sich nun noch einmal an seiner Zeit in
dieser Stadt abarbeitet. Und er zeigt in „Hypericum“, dass diese für ihn
immer noch sehr präsent ist.
Ruben und Teresa landen im Mauerpark, am Potsdamer Platz, am Alex, an all
den markanten Orten der Stadt, die auch er damals mit Staunen erkundete.
Ruben selbst wohnt im Tacheles, das noch ein Zentrum der Subkultur ist, wie
es heute nur noch in Erinnerungen fortlebt. Ständig streut Fior Verweise an
die Vergänglichkeit ein, erinnert an Vergangenes, spekuliert aber auch über
die Zukunft. Sein und Werden. Am Potsdamer Platz sieht man noch die
Baukräne, die diesen Ort gerade erst neu geschaffen haben. Eine Wohnung
sucht man noch mit dem Inseraten-Blatt „Zweite Hand“, das längst den
Segnungen des Internets weichen musste.
„Für die alten Ägypter war Zeit nichts anderes als eine zyklische
Wiederholung der Vergangenheit“, so führt Teresa gegenüber Ruben weiter
aus. Daran muss man denken, wenn Ruben mit einem damals noch ziemlich
unbekannten Objekt hantiert, mit einem Handy. „Vielleicht haben bald alle
eins. In ein paar Jahren“, mutmaßt Teresa. Ruben sagt, das glaube er nicht,
„oder kennst Du jemand, der so bekloppt ist und immer und überall
erreichbar sein will?“ Das Handy werde im Keller landen, bei den
Vinylplatten, sagt er.
Man kann annehmen, dass er schon bald das Handy, genau wie inzwischen auch
seine Schallplatten, inzwischen wieder aus de Keller geholt hat. Auch so
eine Verzahnung von Vergangenheit und Zukunft zeigt Fior in Panels, in
denen Teresa und Ruben in einem Plattenladen stehen, ihre eigene Jugend
reflektieren, das bevorstehende neue nächste Jahrtausend vor sich sehen,
„und mit ihm das Gefühl, dass das Beste noch kommt.“ Und dabei auf ein
CD-Regal blicken, in dem sich eigentlich nur alte Klassiker von Pink Floyd
bis King Crimson befinden.
Teresa, die Strebsame, ihre Karriere fest im Blick, aber auch gemartert von
den eigenen Ansprüchen an sich selbst, findet eine Zeit lang einen
Ausgleich bei Ruben, dem unsteten Punk, der in den Tag hinein lebt. Bis
sich ihre Wege vorläufig trennen. Auch Berlin, die Stadt, die ganz
offensichtlich eher für Menschen wie Ruben gemacht ist, hält sie irgendwann
nicht mehr aus und sie kehrt zurück nach Italien.
Zufällig erfährt sie dort mehr über Hypericum, auch bekannt als
[4][Johanniskraut, das ihr von Ruben immer gegen ihre Schlafstörungen
empfohlen wurde]. Als Howard Carter erstmalig die goldene Totenmaske
Tutanchamuns betrachtete, war er vor allem fasziniert von einem über all
die Jahre erhaltenen Blütenkranz auf seinem Haupt. Aus Hypericum war der
gemacht, erfährt er. Alles fügt sich, alles verbindet sich miteinander, das
Vergangene mit dem Heute und auch dem Morgen. Denn auch die Geschichte über
die Beziehung zwischen Teresa und Ruben ist noch nicht zu Ende erzählt.
9 Aug 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Andreas Hartmann
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