# taz.de -- Die Wahrheit: Bloody Wladis letzter Ritt | |
> Am Freitag startete Russland eine vermeintlich unbemannte Mondmission. | |
> Die Aufzeichnung der letzten Minuten vor dem Start von Luna-25. | |
Njet! Njet! Njet!“, herrschte der im Sitz festgeschnallte, gar nicht blinde | |
Passagier mit vor Entsetzen geweiteten Augen die Vermummten in ihren weißen | |
Overalls an. „Macht mich sofort los, ihr verdammten Schweine! Ich bin der | |
Scheiß-Präsident dieses Scheiß-Landes“, verfiel der alte Mann unwillkürli… | |
in den Jargon seiner Leningrader Jugendjahre, als er noch mit einem Schrei | |
eine Ratte in die Enge treiben konnte, um sie anschließend zu erschlagen. | |
Jetzt schien ihm sein rüder Befehlston nichts mehr zu nützen. | |
Spätestens als man ihm die Windel überstreifte, die verhindern sollte, dass | |
ihm die Scheiße um die Ohren flog bei einer Startkraft von drei bis vier g, | |
hätte Wladimir Wladimirowitsch Putin wissen können, dass die Dinge nicht | |
nach seinen Vorstellungen laufen würden. Wieder einmal. Und wie so oft im | |
Leben schoss ihm ein deutsches Wort durch den Kopf: | |
„Erdschwerebeschleunigung“. Warum einfach, wenn es auch umständlich geht? | |
Er liebte dieses verdammte Deutsch. Alles Deutsche. Es war so kompliziert | |
und korrekt und kolossal scheiße, weil es ihm nie weiterhalf. | |
Wenn wenigstens ein Countdown abliefe. Aber nein, das sei bloß ein | |
Show-Effekt, den es nur im Westen gebe, nichts für vernünftige Russen, | |
hatten diese Scheiß-Bürokraten von Roskom ihm ständig erklärt. Wie er diese | |
Weltraum-Wixer mit ihren Rechenformeln und ihren weißen Kitteln verachtete. | |
Dabei hatte er sich genau eine solche Show gewünscht. Als Belohnung dafür, | |
dass er sich im Dienste Russlands die Finger schmutzig machte. Nur die | |
Deutschen hatten das Runterzählen erfinden können. Fritz Lang. Vor tausend | |
Jahren, als Stalin noch an der Macht war. Für irgendeinen Mond-Film. Und | |
dann hatten die Scheiß-Amerikaner diesen Fritz und seinen Countdown | |
eingekauft für ihre Hollywood-Nasa. Diese verfickten Amerikanski verstanden | |
einfach etwas von ihrem Geschäft. | |
Beim Start würde er Sehstörungen bekommen, war er sich sicher, vielleicht | |
würde er auch bewusstlos werden, und wahrscheinlich wollten sie die Kapsel | |
kurz nach dem Abkoppeln von der Sojus-2-Rakete auf einen falschen Kurs | |
bringen und es der Öffentlichkeit als technisches Versagen verkaufen. | |
Er spürte bereits das Rattern und Ruckeln der Triebwerke tief unter ihm. | |
300 Tonnen. Eigentlich sollte er jetzt im Beobachtungsbunker der Zündung | |
zusehen. Für diesen neuen Weltraumbahnhof Wostotschny hatte er jede Menge | |
Geld springen lassen. Und alle hatten sie einen Teil für sich abgezweigt. | |
Alle. Die im Bunker an seiner Seite stehen sollten. Schoigu und die anderen | |
aus der Idiotentruppe im Kreml. | |
## Die Verräter waren alles Nazis und Marionetten der Amerikaner | |
Wer hatte ihn verraten? Schoigu? Zu unfähig, erst recht als | |
Verteidigungsminister. Siehe den Scheiß-Ukraine-Krieg. Oder Naryschkin? | |
Verlogen, aber viel zu feige für einen Geheimdienstchef. Und unfähig. Nach | |
der öffentlichen Demütigung im Fernsehen zu Beginn der Spezialoperation | |
hätte er sich längst rächen müssen. Oder Prigoschin? Zu großmäulig und | |
käuflich, dieser schwachsinnige Wagner-Koch. Nicht mal zu einem richtigen | |
Aufstand fähig. | |
Und die Ukrainer? Die hätten es nie geschafft, ihn in diese Scheiß-Lage zu | |
bringen. Nicht allein. Alles Nazis und Marionetten der Amerikaner. Ja, die | |
Scheiß-Amerikaner, die steckten dahinter. Die und ihr „hochrangiger Spion“ | |
im Kreml, wie sie oft genug angedeutet hatten. Dass er den nicht mehr | |
auffliegen lassen konnte, das tat weh, so weh. | |
Dabei sollte Luna-25 eine unbemannte Mission sein. Die erste seit fast 50 | |
Jahren. 1976. Luna-24. Zu besten Sowjetzeiten. Luna-25 sollte daran | |
anknüpfen. Und endlich einen Erfolg präsentieren nach anderthalb Jahren | |
Scheiß-Krieg in der Ukraine. Das Volk brauchte einen Sieg. Ruhm und Ehre | |
für das Vaterland. Der Mond ist jetzt ein Russe. Und so weiter. Vier bis | |
fünf Tage wäre die Raumsonde unterwegs. Hin zum Mond. Und dann das volle | |
Programm: Bohrungen, Gesteinsproben, der ganze sinnlose | |
Wissenschaftsquatsch fürs Fernsehen. Und nach einem Jahr zurück. Landung | |
live. Glorreiche russische Technik. Trotz Sanktionen. Aber was, verfluchte | |
Scheiße, machte er dann in dieser engen Kapsel? | |
Um ihn zu verhöhnen, hatten sie nun Musik eingeschaltet: „Arlekino“ von | |
Alla Pugatschowa. Diese elende Schlagerratte. Machte ihn überall schlecht. | |
Da nützte ihr auch all ihr Sowjetruhm nichts mehr. Von wegen beliebteste | |
Schnulzensängerin Russlands. Pah! Jeder konnte ihre Scheiß-Lieder | |
mitsingen, wie diesen lausigen Hit aus dem Lautsprecher: „Ein kleiner | |
Harlekin zeigt, was er kann.“ Klein? Harlekin reimt sich auf Putin? Das | |
fanden diese Roskom-Typen wohl witzig und lachten sich tot über den großen | |
Zaren Wladimir den Kleinen. „Was dir ganz allein gehört, / Harlekin, | |
Harlekin, / Ist das Lachen, das dich ehrt …“ | |
Wenn er hier rauskommt, würde er sie alle wegsperren. Zu Nawalny. | |
Verschärftes Straflager. Stalinistische Säuberungen feinster Art. Bis das | |
Blut unter den Nägeln hervorspritzt. War doch bislang alles nur Ringelpiez | |
mit Anfassen. Demnächst würde er andere Seiten aufziehen. Schimmeliges | |
Schwarzbrot. Belegt mit Rattenkot. Als einzige Mahlzeit. Einmal in der | |
Scheiß-Woche. | |
## Die Lieblingssendung jeden Donnerstag kurz vor Mitternacht | |
Das Rattern und Ruckeln wurde stärker. Wie hieß das noch? | |
„Triebwerkzündphase.“ Wieder so ein deutsches Wort. Brillant. Was er alles | |
verpassen würde. „Maybrit Illner“. Seine Lieblingssendung. Jeden | |
Donnerstag. Im Zweiten Deutschen Fernsehen. Kurz vor Mitternacht. Moskauer | |
Zeit. Das versäumte er nie. Mit den irren Ankündigungen. Auf die er sich | |
schon immer freute. Nächste Woche wahrscheinlich: „Putin auf dem Mond! Wer | |
wird neuer Kreml-Chef?“ Maybrit. Allein der Name. Wie eine von Tschechows | |
Schwestern. Der hätte er gern mal ein Interview gegeben. Und mehr. Klasse | |
Frau. | |
Nicht mal was zu lesen hatte er dabei. „Picknick am Wegesrand“ von den | |
Strugatzkis, Arkadi und Boris. Auch aus Leningrad. Dafür hätte er beim Flug | |
Ruhe. Nie war er über die ersten Seiten hinausgekommen. Warum hatte dieser | |
Stalker nicht einfach Geld gemacht mit dem Zeug aus der Zone? Was für ein | |
Idiot! Unter ihm wäre er steinreich geworden. Diese „goldene Kugel, die | |
alle Wünsche erfüllt“, das war doch er, Wladimir Wladimirowitsch Putin | |
höchstpersönlich. | |
Aber so sind sie, diese scheiß-feinen Herren „Dichter und Denker“. Wieder | |
diese deutschen Wörter. Ach, könnte er doch nur ein letztes Mal nach | |
Dresden zurück, Dresden, du Perle, du Kugel, nein, nicht Kugel, die ist er | |
selbst, und auf der Kugel sitzt er, bereit zum Abschuss und Ritt in die | |
unendlichen Weiten, das Rattern und Ruckeln wird stärker, dann zählt er | |
eben jetzt seinen eigenen Countdown herunter, drei, zwei, eins … aber was | |
ist eigentlich das deutsche Wort für Countdown? Irgendwas mit – | |
Scheißeeeeeeeeeeeee … | |
12 Aug 2023 | |
## AUTOREN | |
Michael Ringel | |
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