# taz.de -- Die Wahrheit: Wein für Waltz, Schmaus fürs Auge | |
> Alltag eines Super-Celebrity-Recognizers: Wenn Prominente dich erkennen | |
> und freudig begrüßen. Auftritt eines Superstars im Hollywood-Streik. | |
Bild: Christoph Waltz im Erkenntnisrausch der Sinne | |
In Hollywood streiken noch immer die Schauspieler, und wer wissen möchte, | |
was sie während des Arbeitskampfs machen, muss zu meinem | |
Prickelwasserhändler „Wein & Glas“ in Berlin gehen. Als ich neulich das | |
Geschäft betrat, stand vor mir bereits ein Kunde. Es war Christoph Waltz. | |
Die Händlerin begrüßte mich, ich verwies auf Waltz, der vor mir an der | |
Reihe war, aber mit seiner Christoph-Waltz-Stimme lehnte er dankend ab: | |
„Ich werde schon bedient.“ Sie sah mich an und hatte ein einverständiges | |
Blitzen in den Augen: Ja, das ist er, der weltberühmte Schauspieler, sollte | |
das wohl heißen. Mir musste sie das nicht sagen, denn ich bin ein | |
Super-Celebrity-Recognizer. | |
Ich bestellte einen Karton „Dock“, während ein zweiter Verkäufer einen | |
Karton „Klumpp“ für Waltz brachte. So, so, der Österreicher trinkt | |
deutschen Wein aus dem badischen Kraichgau, dachte ich, während der | |
Verkäufer die Leinwandgröße gelangweilt fragte: „Und? Auf welchen Namen?“ | |
Meine Verkaufskraft giggelte. Denn offensichtlich erkannte der junge | |
Kollege Christoph Waltz nicht, den Liebling Hollywoods, den zweifachen | |
Oscar-Preisträger, den Bond-Bösewicht Ernst Stavro Blofeld, den | |
Django-Freund Dr. King Schultz, der jetzt ungerührt seinen Namen zu | |
buchstabieren begann: „W – A – L …“ Meine Verkäuferin musste noch me… | |
kichern. Waltz aber gab den coolen Hund. Er verzog keine Miene. Hollywood | |
streikt, und hier läuft die private Superstar-Show. | |
## Das Phänomen ist im deutschen Provinzkrimi angekommen | |
Seit einiger Zeit vermehren sich die Berichte über ein neues Phänomen: | |
Super-Recognizer. Sie arbeiten meist für die Polizei bei der | |
Gesichtserkennung in der Fahndung. Als kürzlich im deutschen Provinzkrimi | |
Nummer eins „Tatort“ erstmals eine Dortmunder Super-Recognizerin auftrat, | |
war endgültig klar: Das Recognizing ist in der Mitte der Gesellschaft | |
angekommen. | |
Manche Menschen halten Super-Recognizer für Nerds oder sogar Autisten, | |
dabei zeichnet sie lediglich eine besondere Fähigkeit aus: Sie können | |
Gesichter sehr gut wiedererkennen – und das oft über Jahre hinweg. Das | |
lässt sich nicht trainieren, es ist eine Naturbegabung, die nicht leicht | |
erklärt werden kann. Ich versuche es immer so: Frage ich jemanden, wie spät | |
es ist, schaut er auf die Uhr und sagt die Zeit an. Bitte ich ihn nur zwei | |
Sekunden später, mir zu beschreiben, ob das Ziffernblatt römische oder | |
arabische Ziffern hat, kann er es nicht beantworten, selbst wenn er die Uhr | |
bereits seit Jahren besitzt. Denn das eine setzt einen funktionalen, das | |
andere einen formierten Blick voraus. Beim einen nehme ich die Funktion des | |
Geräts, beim anderen die Erscheinungsgestalt wahr. | |
Jeder kennt die Redensart „Liebe macht blind“. Zu Beginn einer | |
Liebesbeziehung haben Verliebte nur einen vagen Gesamteindruck des | |
Gegenübers, der zudem von den Hormonen beeinträchtigt wird. Nach einer | |
Weile wird das angebetete Wesen jedoch genauer unter die Lupe genommen, | |
werden Pickel, Warzen und charakterliche Hässlichkeiten entdeckt. Das ist | |
eine Bewährungsprobe für Beziehungen, die sich an dem Punkt entweder | |
weiterentwickeln, wenn sich eine gegenseitige Akzeptanz für die | |
körperlichen und anderen Schwächen einstellt, oder es ist Schluss. | |
Nicht dass ich Celebrities lieben würde, beruflich habe ich die Devise | |
ausgegeben: „Prominente sind die Kotze Gottes.“ Sind doch die meisten arg | |
schlichte Geister. Privat habe ich ein paar kennengelernt. Deshalb weiß ich | |
auch, sie lechzen danach, erkannt zu werden, wollen allerdings nicht | |
belästigt werden. Man sollte ihnen deshalb nur subtil zu verstehen geben, | |
dass es Klick gemacht hat. | |
Christoph Waltz habe ich nicht zum ersten Mal gesehen. Vor fast einem | |
Vierteljahrhundert stand er plötzlich neben mir in der U-Bahn. Niemand | |
außer mir beachtete den damals noch namenlosen Österreicher, der gerade als | |
Roy Black in dem deutschen Fernsehfilm „Du bist nie allein“ ins | |
Scheinwerferlicht getreten war – erst recht nicht im Berliner Untergrund. | |
Omnipräsente Figuren zu identifizieren, das kann ja jeder, könnte ein | |
Einwand gegen Super-Celebrity-Recognizer lauten. An Orten wie der | |
Hauptstadt gebe es eben jede Menge bekannter Personen, nur deshalb erkenne | |
man diese auch häufiger. Sicher ist Berlin nicht Buxtehude, wo garantiert | |
keine Prominenten an jeder Ecke herumlungern. Doch aus Erfahrung kann ich | |
nur auf meine ständige Begleitung verweisen, die jedesmal wieder baff | |
erstaunt ist, wenn ich anmerke, wen sie gerade unterwegs verpasst hat. Für | |
die meisten Menschen ist es enorm kompliziert, die fiktive Ebene | |
beispielsweise des Fernsehens mit der alltäglichen Bühne der Straße in | |
Einklang zu bringen. | |
## Hocherfreut grüßt mich Roy Black in der Berliner U-Bahn | |
Bei unserer ersten Begegnung, an die sich der Nicht-Super-Recognizer Waltz | |
hundertprozentig nicht erinnern kann, war das Nachwuchstalent jedenfalls | |
sehr froh, dass ich ihm knapp über der Grenze der Subtilität zu verstehen | |
gab, ihn bemerkt zu haben. Hocherfreut grüßte er mich. | |
Eine sonderbare Reaktion, die mir ein Politiker einmal so erklärte: Er | |
grüße inzwischen jeden, weil Passanten ihn sowieso für einen Nachbarn | |
halten würden, der er quasi auch sei, wenn er abends in der „Tagesschau“ | |
erscheine und später im wirklichen Leben. Andernfalls würden ihn alle für | |
arrogant halten. | |
Heutzutage denken viele Jugendliche oder naive Gemüter, die davon träumen, | |
prominent zu sein, weil Publizität angeblich alle Probleme löst, dass | |
Journalismus eine der besten Möglichkeiten sei, so viele Berühmtheiten wie | |
möglich kennenzulernen und darüber die eigenen Träume zu verwirklichen. | |
Kein Wunder, bei der mittlerweile ins schier Unermessliche gesteigerten | |
Boulevard-Berichterstattung allerorten. Sind doch viele Journalisten selbst | |
notorisch „promigeil“ und wollen nichts anderes, als ebenfalls zu | |
Gesichtsvermietern zu werden. Niemand mag mehr rühmen, alle wollen nur noch | |
berühmt sein, wie Robert Gernhardt einst treffend feststellte. Und wer das | |
Ekelwort „Promi“ in den Mund nimmt, der soll tausend Tode sterben. | |
Was aber passiert, wenn das Recognizen nicht subtil vor sich geht, zeigte | |
sich neulich nachts in Leipzig. Ich stand in meinem Hotel vor dem Aufzug. | |
Als er sich öffnete, rief ich zugegebenermaßen leicht angeschickert: „Ah, | |
Familie Bennent!“ Heraus traten nämlich Anne und David Bennent, die | |
Geschwister, beide berühmte Charakterdarsteller, sie als „Lulu“, er als | |
„Oskar Mazerath“. Zur Strafe für meine dümmliche Bemerkung drehte Anne | |
Bennent kurzerhand den Spieß um und fragte mich: „Wie heißt du? Ich kenn | |
dich! Sag mir deinen Namen!“ Ich Nichts aber flüsterte ihn zutiefst | |
beschämt, und sie schwebte zufrieden lächelnd davon. Rache ist süß. | |
26 Jul 2023 | |
## AUTOREN | |
Michael Ringel | |
## TAGS | |
Christoph Waltz | |
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Prominente | |
Metapher | |
Wladimir Putin | |
Berlin-Schöneberg | |
Kolumne Die Wahrheit | |
Margot Käßmann | |
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