Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Das Alphabet des Scheiterns
> Das muss griechischer Humor sein: Aus den Tiefen der Erinnerung steigt
> das vergessene Wissen eines außergewöhnlichen Knirpses empor.
Bild: Christoph Waltz im Erkenntnisrausch der Sinne
Frühkindliche Bildung kann ewig nachwirken. Als ich drei Jahre alt war,
hatten wir eine Zeit lang griechische Nachbarn, die sich einen Spaß daraus
machten, mir das griechische Alphabet beizubringen. Ich konnte es bald so
gut, dass ich mich gern freudestrahlend vor meine Familie hinstellte und es
rasend schnell herunterrasselte. Die Nachbarn lachten sich jedes Mal
schlapp über den kleinen Sprachakrobaten. Noch heute, mehr als ein halbes
Jahrhundert später, kann ich die 24 Buchstaben aus dem Kopf in
handgestoppten sechs Sekunden abspulen: „Alpha, Beta, Gamma, Delta …“
Die Buchstabiererei kam kürzlich aus den Tiefen der Erinnerung wieder
hervor, als es in einem Rätsel um die Frage ging, was eine Sportfirma mit
dem griechischen Alphabet zu tun habe. Die Antwort: Kappa ist der Name
eines Sportausrüsters und der zehnte Buchstabe im Griechen-Abc. Aus einem
kindischen Impuls heraus musste ich es plötzlich im Affenzahn
herunterrattern und wurde von meiner Familie angesehen, als ob ich ein
Mondkalb wäre. Als ich es auch noch wiederholte und die Stoppuhr dabei
laufen ließ, hielten sie mich endgültig für einen Marsianer auf Ecstasy.
Der Stolz über eine weitere meiner abseitigen Fähigkeiten wich allerdings
bald einem Gefühl der Scham. Ich überprüfte nämlich noch einmal langsam mit
Hilfe eines Wörterbuchs die genaue Abfolge und stellte fest, dass ich zwar
sämtliche Buchstaben korrekt wiedergegeben hatte, sie jedoch in Gruppen
verschoben waren – als ob das Abc ein Acb wäre. Mittendrin stimmte gar
nichts.
Bis dato war mir mein durcheinander geratenes Griechen-Alphabet nie
aufgefallen. Hatte ich es im Alter schlicht verlernt? Dafür saß es zu
sicher und fest im Gedächtnis. Hatte ich es mir damals bereits fehlerhaft
angeeignet? Ein Verdacht keimte in mir auf: Könnte es sein, dass die
griechischen Nachbarn es mir absichtlich falsch beigebracht hatten? Galt
also ihr Lachen nicht der für ein Kind außerordentlichen Leistung, sondern
der diebischen Freude darüber, mich auf den Holzweg des Wissens gelotst zu
haben?
Wie gemein dem unschuldigen Jungen gegenüber, empörte ich mich und würdigte
zugleich anerkennend den Streich ganz alter Schule, der großes Vergnügen
bereitet haben muss – noch ohne „Kappa“, dieses inzwischen berühmte Emoj…
mit dem im Internet heutzutage ein sarkastischer, nicht ernst gemeinter
oder doppeldeutiger Inhalt markiert wird.
Das muss hellenischer Humor sein, geschult über antike Zeiträume hinweg.
Wahrscheinlich sitzt noch immer einer der früheren griechischen Nachbarn
auf einen Stock gestützt am Hafen seiner Heimatstadt und erinnert an den
ach so hellen Knirps in Germania, den sie seinerzeit hinters Licht geführt
haben: „Wisst ihr noch? Der Kleine und das falsche Alphabet?“ Und dann
lachen diese Griechen, bis das Meer vor Freude blau blitzt.
27 Jun 2023
## AUTOREN
Michael Ringel
## TAGS
Kolumne Die Wahrheit
Griechenland
Alphabet
Kinder
Christoph Waltz
Berlin-Schöneberg
Sprache
Margot Käßmann
Die Wahrheit
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Wein für Waltz, Schmaus fürs Auge
Alltag eines Super-Celebrity-Recognizers: Wenn Prominente dich erkennen und
freudig begrüßen. Auftritt eines Superstars im Hollywood-Streik.
Die Wahrheit: Der Koi als Hecht im Karpfenteich
Nachruf auf einen goldigen Fisch: Ein Berliner Wahrzeichen ist den Weg
allen Fleisches gegangen und bekommt nun endlich einen Namen.
Die Wahrheit: Sternenkopf
Donnerstag ist Gedichtetag auf der Wahrheit: Heute darf sich die geneigte
Leserschaft an einem Poem über ein dunkles Zeichen erfreuen.
Die Wahrheit: Labertasche für die Ewigkeit
Am Samstag wird Margot Luther Käßmann 65 Jahre alt und geht in Rente. Auf
ihr außergewöhnliches Leben und Wirken zurück schaut ein gewisser Gott.
Die Wahrheit: Im Klub der Kotzbrocken
Wie viel Wahrheit enthält die neue Autobiografie des ehemaligen
„Bild“-Chefredakteurs Kai Diekmann? Hier die erste von zwei schonungslosen
Analysen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.