# taz.de -- Die Wahrheit: Der Koi als Hecht im Karpfenteich | |
> Nachruf auf einen goldigen Fisch: Ein Berliner Wahrzeichen ist den Weg | |
> allen Fleisches gegangen und bekommt nun endlich einen Namen. | |
Bild: Still zog der Koi seine Runden durch den Teich in Schöneberg | |
„Der Koi ist tot!“ Ein lautes Lamento hallte in der vorigen Woche durch | |
Schöneberg, den schönsten Ortsteil Berlins. Männer rauften sich die Bärte | |
der Trauer, Frauen legten sich die Kopftücher der Klage an, Diverse ließen | |
die Hormone der Kümmernis im Dreieck springen. Und auf dem alljährlichen | |
schwul-lesbischen Stadtfest in der Motzstraße wurden die Regenbogenflaggen | |
auf Halbmast gesetzt. „Der Koi ist tot!“ Schöneberg war entsetzt und | |
fassungslos. | |
Mitte der Woche lag er plötzlich überm Wasserspiegel, auf den obersten | |
Ästen der viel zu üppigen Unterwasserpflanzen hatte er sich zur Seite | |
gerollt und rang nach Atem. Der weiße Bauch strahlte in der brennenden | |
Sonne, beinah mehr noch als seine weithin leuchtenden orangefarbenen | |
Schuppen. Er bekam keine Luft mehr! | |
Seit Wochen schon war das Wasser des Ententeichs am U-Bahnhof Rathaus | |
Schöneberg zurückgegangen. Und die Veralgung nahm zu. Schuld sind unter | |
anderem Entenfütterer, die nicht begreifen wollen, dass ihr Lieblingssport | |
die Vögel noch mehr kacken lässt, während die Pflanzen den Stickstoff als | |
wachtumsförderndes Nitrat aufnehmen. Da half auch der Tiefbrunnen mit den | |
Umwälzpumpen nicht, Sauerstoff ins Wasser zu bringen. Dem alten Koi ging | |
die Luft aus. | |
Und alt war er. Zehn Jahre hatte er mindestens still seine Runden im Teich | |
gedreht. Als Experten getarnte Passanten, die in Berlin stets schnell | |
herbeieilen, wussten sogar von 15 Jahren zu berichten. „Der ist schon ewig | |
hier“, hieß es. Richtig ist, dass er mittlerweile ein Wahrzeichen | |
Schönebergs war – so bekannt, dass der Volksmund die Carl Zuckmayer | |
gewidmete Brücke über der U-Bahn-Station nur „Die Brücke am Koi“ nannte.… | |
Ehren des goldigen Japaners stimmten so manche Bierbrüder des Abends den | |
„River-Kwai-Marsch“ in seiner besten Version an: „Hitler has only got one | |
ball, / Göring has two but very small, / Himmler has something sim’lar, / | |
But poor old Goebbels has no balls at all.“ | |
## Unterirdische Aussicht | |
Der U-Bahnhof Schöneberg ist der schönste Berlins, weil er einerseits | |
unterirdisch unter einer Brücke und andererseits oberirdisch mit Aussicht | |
auf den Park liegt. Während des Halts gewähren die großen Fenster den | |
Fahrgästen nach Osten einen Blick auf das Wappentier Schönebergs, den | |
goldenen Hirsch hoch oben auf einer Säule mitten in einer Fontäne. Nach | |
Westen aber blickt man auf den von Trauerweiden und Schilf gesäumten Teich, | |
dessen Superstar der Koi war. | |
Japanische Karpfen können zwischen 25 und 30 Jahre alt werden, heißt es. | |
Der Legende nach soll der älteste Koi der Welt 226 Jahre auf der Flosse | |
gehabt haben. Hanako war weiblich, 7,5 Kilogramm schwer und schwamm in | |
einem Teich am Fuße des Berges Ontake in der japanischen Region Kamo. Im | |
Jahr 1960 untersuchte sie ein Professor der Women’s University in Nagoya. | |
Wie bei Bäumen die Jahresringe, können bei Kois die Schuppen Aufschluss | |
über das Alter geben. Demnach musste Hanako 1751 geboren worden sein und in | |
ihrem Todesjahr 1977 das stolze Alter von 226 Jahren erreicht haben. | |
Japaner eben, die ewigen Altersweltmeister. | |
## Kein Anglerlatein | |
Der namenlose Koi von Schöneberg aber war anfangs nicht allein. Vor zehn | |
Jahren noch gab es 40 bis 50 seiner Art im Parkteich. Doch eines Tages im | |
Jahr 2016 waren sie plötzlich fast alle verschwunden. Die einen | |
Straßenexperten machten den Reiher, der zu der Zeit den Volkspark zu seinem | |
Revier erklärt hatte, zum Täter, andere verdächtigten Aquaristen auf der | |
Suche nach billigem Nachschub. Nur ein Koi überlebte und suchte sich ein | |
ähnlich großes Karpfenweib, zeugte Nachwuchs, der zwar grau blieb, aber | |
sogar noch größere Maße annahm als sein Erzeuger und schließlich rund einen | |
Meter lang wurde. Und das ist kein Anglerlatein! | |
Klima-Apokalyptiker würden den Tod des Kois als weiteres Menetekel für den | |
Weltuntergang sehen, doch die traditionell positiv gestimmten Schöneberger | |
hoben lieber am Wochenende zu Ehren des Kois ihre immer halb voll gefüllten | |
Gläser. Im Bewusstsein, dass sein Tod nur ein gutes Vorzeichen sein kann, | |
weil demnächst ganz sicher ein anderer Big Fish das Zeitliche segnen wird, | |
toasteten sie sich mit dem nun schon seit mehr als einem Jahr einzig | |
gültigen Trinkspruch auf der Brücke am Koi zu: „Fuck Putin!“ | |
Koi, wir werden dich nie vergessen und dir hiermit aus Anlass deines | |
Ablebens endlich einen würdigen Namen geben: Iko. Ein zugleich weiblicher, | |
männlicher und diverser Name, der im Japanischen „Nummer eins“ bedeutet. | |
Apropos Nummer eins. Im Gedenken an den großen japanischen Schöneberger hat | |
die Kantine im Rathaus Schöneberg auf ihrem Speiseplan am Donnerstag ein | |
besonderes Menü: „Norddeutscher Fischteller mit Rollmops, | |
Räucherlachs-Tatar, Matjes, Kürbis-Rote-Betesalat, Remoulade und Wedges für | |
8,90 Euro“. Möge es allen Trauernden munden. | |
18 Jul 2023 | |
## AUTOREN | |
Michael Ringel | |
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Margot Käßmann | |
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