| # taz.de -- Internationale Blockbuster: Eine Vorliebe für Atemdepressionen | |
| > Das Humboldt Forum zeigt Filme aus Argentinien, Brasilien, Indien, | |
| > Nigeria, Thailand, Vietnam. Daheim waren sie ein Hit, im Rest der Welt | |
| > nicht zu sehen. | |
| Bild: Filmstill aus der Komödie „Nhà Bà Nữ/The House Of No Man“ von Tr… | |
| Deutschland hat’s mit Genderdiskursen: In Karoline Herfurths Episodenfilm | |
| „Wunderschön“ kämpften sich im letzten Jahr Frauenklischees (gestresste | |
| Mutter, selbstbewusste Singlefrau, komplexbeladene Agerin, dysmorphes | |
| Model, unglücklicher Teen) durch damit verbundene Körperproblematiken. Die | |
| Tragikomödie war 2022 an der Kinokasse der erfolgreichste deutsche | |
| Erwachsenenfilm. Wenn man also davon ausgeht, dass Kino das Leben spiegelt | |
| (und US-Blockbuster außer Acht lässt), dann zeichnet „Wunderschön“ die | |
| deutsche Gesellschaft als gesprächsfreudig, empfindlich und etwas bieder. | |
| Passt doch. | |
| Die Idee, Land und Kultur durch Film zu repräsentieren, und damit zu einem | |
| Diskurs über Unterschiede und Kongruenzen anzuregen, verfolgt die Filmreihe | |
| „Box Office Around the World“. Sie stellt Filme aus Argentinien, Brasilien, | |
| Indien, Nigeria, Thailand und Vietnam vor, die daheim ein Hit waren, und – | |
| im Gegensatz zur Konkurrenz aus Hollywood – nicht für den globalen Markt | |
| produziert wurden, wie die Filmexpertin Dorothee Wenner erklärt, die das | |
| Programm gemeinsam mit in der deutschen Diaspora lebenden | |
| Repräsentant:innen der verschiedenen Communitys kuratiert hat. | |
| Weit entfernt von klassisch-kitschigen Liebesträumen erzählt der | |
| Eröffnungsfilm „Afwaah“ eine düstere und blutige Geschichte über | |
| Korruption, religiöse Verschwörungstheorien und Misogynie in Indien. Mit | |
| dem eskapistischen Œuvre „Bollywoods“ hat er – trotz einer obligatorisch… | |
| Tanzszene – nicht viel zu tun. | |
| Unter anderem um Misogynie und Rassismus geht es auch [1][im | |
| brasilianischen Beitrag „Regra 34“ von Julia Murat]: Die junge, Schwarze | |
| Jurastudentin und Frauenrechtsaktivistin Simona arbeitet als Camgirl. | |
| Zwischen den sexuellen Anweisungen ihrer Zuschauer:innen und | |
| angeheiterten „Schwanzroulette“-Spielen mit Freund:innen büffelt sie | |
| Kriminalitätstheorie und Funktionalismus – der Dildo steht dabei auf dem | |
| Schreibtisch. | |
| Durch eine Freundin entdeckt Simone ihre Vorliebe für sadomasochistische | |
| Praktiken, vor allem Asphyxie hat es ihr angetan. Sie experimentiert, und | |
| lässt ihre Erfahrungen in ihren Nebenjob einfließen. Die Fragen, die Murat | |
| ihre Protagonistin stellen lässt, sind komplex: Inwiefern darf man beim | |
| BDSM, das zwar auf konsensuellem Handeln beruht, aber dabei mit | |
| Machtstrukturen spielt, jene Strukturen vergessen, denen man ausgesetzt | |
| ist? | |
| Der Konflikt spitzt sich zu, als ein Gewaltopfer Simona seine Erfahrungen | |
| schildert: „Er machte eine Nacht lang mit mir, was er wollte“, sagt die | |
| traumatisierte Frau. Später wird Simona einen anonymen Onlinesexpartner | |
| genau mit dieser Formulierung nach Hause einladen: „Du kannst eine Nacht | |
| lang mit mir machen, was du willst.“ Die Konnotation, die Murat ihrem | |
| intensiv gespielten, intimen und modernen Film mitgibt, ist bewusst | |
| ambivalent. Schließlich geht es für Simona nicht nur um die | |
| Selbstbehauptung als BDSM-liebende, sondern auch als Schwarze Frau in einer | |
| rassistischen Gesellschaft. | |
| Talks zu den Filmen | |
| In Brasilien, wo die Filmszene sich nach den repressiven Bolsonaro-Jahren | |
| erst wieder finden muss, wurde „Regra 34“ positiv aufgenommen. Was der Film | |
| über die dortige Gesellschaft auszusagen vermag, soll ein begleitendes | |
| Gespräch zwischen Wenner und der Hauptdarstellerin Sol Miranda beleuchten. | |
| Denn die Auswahl wurde laut der Kuratorin von drei Fragen geleitet, die | |
| auch bei den Talks eine Rolle spielen: Wie repräsentativ ist der Film? Was | |
| hat die Menschen in der Heimat daran angesprochen? Und was erfährt man über | |
| die jeweilige Nation und ihre Kultur? | |
| „Nhà Bà Nữ“ aus Vietnam kommt im Kleid einer schreiend-überspielten Ko… | |
| daher: Vier Frauen aus drei Generationen profitieren von der Nudelküche, | |
| die von der apodiktischen Familienmatriarchin geleitet wird. Als sich deren | |
| jüngste Tochter mit einem Frauenschwarm auf und davon macht, wird aus dem | |
| von Slapstick bestimmten Film ein Gesellschaftsdrama. Denn hinter der | |
| Comedyfassade lauern menschenverachtende Verhaltensweisen – und unter denen | |
| leiden auch die Männer, die sich zwischen Erwartungen und Bequemlichkeit | |
| aufreiben. | |
| Ein erfolgreiches Beispiel für das „Nollywood“-Kino Nigerias ist die | |
| Groteske „Battle on Buka Street“ von und mit Funke Akindele. Sie stellt die | |
| turbulenten Erlebnisse einer Großfamilie in den Mittelpunkt: Zwischen den | |
| vom polygamen Vater ausgehenden Familienzweigen herrscht kulinarisch | |
| Konkurrenz – an der „Buka Street“ in Lagos gibt es viele Straßenstände … | |
| nigerianischen Spezialitäten. Zwei verfeindete Halbschwestern sind bei der | |
| Markierung ihres Gastro-Territoriums besonders eifrig – und kein bisschen | |
| zimperlich … | |
| Der argentinische Historienfilm „Argentina, 1985“ über [2][das Ende der | |
| Militärdiktatur] war im Heimatland ebenfalls erfolgreich – inwieweit man | |
| daraus den Aufklärungswillen der Gesellschaft ablesen kann, darf der | |
| argentinische Autor und Philosoph Darío Sztajnszrajber erklären. Und der | |
| thailändische Liebesfilmhit „OMG! Oh my girl“ erzählt eine sensible | |
| Variante der Boy-meets-Girl-Story, und porträtiert dabei die junge | |
| Generation. | |
| Vielleicht sollte man aus den nationalen Unterschieden in Filmsprache, | |
| Rhythmus und Spielweisen aber eher die Gemeinsamkeiten ablesen. Denn Reihe | |
| und Begleitprogramm zeigen, wozu Film vor allem in der Lage ist: zu | |
| verbinden. | |
| 10 Aug 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Filmfestspiele-Locarno/!5871693 | |
| [2] /Dokumentarfilmer-ueber-Diktatur/!5914120 | |
| ## AUTOREN | |
| Jenni Zylka | |
| ## TAGS | |
| Film | |
| Filmreihe | |
| Humboldt Forum | |
| religiöse Gewalt | |
| Film | |
| wochentaz | |
| Schwerpunkt Kunst und Kolonialismus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Interview zum Film „Afwaah“: „Ich sehe das Feminine in mir“ | |
| Der indische Regisseur Sudhir Mishra über ethnoreligiöse Gewalt in Indien, | |
| Filmzensur und das Monster der sozialen Medien in seinem Film „Afwaah“. | |
| Chinesischer Animationsfilm „Deep Sea“: Im gleißenden Licht des Wassers | |
| Die erfolgreichsten Filme kommen inzwischen aus China, so auch der | |
| Animationsfilm „Deep Sea“. Leider ist er bei uns nicht in 3-D zu sehen. | |
| Barbie und Oppenheimer im Kino: Es geht nur gemeinsam | |
| Kinorettung oder Kinountergang? Barbie und der Feminismus, Oppenheimer und | |
| der Machismo – sie können nur gemeinsam die Welt regieren. | |
| Musikfestival des Humboldt Forums: „Ihre Magie führt zu Begegnungen“ | |
| Heute beginnt das Festival „Durchlüften“ im Humboldt Forum. Gerade im | |
| neu-alten Schlossbau könnte es viel bewirken, sagt Kuratorin Melissa | |
| Perales. |