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# taz.de -- Schwangerschaftsberatung in Thüringen: Kein Geld mehr übrig
> Schwangerschaftsberatungsstellen in Thüringen sind seit Jahren
> unterfinanziert. Die Politik sagt, sie habe das Thema auf der Agenda.
Bild: Ein Staubsauger ist das einzige, was eine Schwangerschaftsberatungsstelle…
Leipzig taz | Einen Staubsauger – das ist das einzige, was die
Schwangerschaftsberatungsstelle der Awo im thüringischen Mühlhausen seit
2020 angeschafft hat. Eigentlich bräuchte die Einrichtung dringend einen
Laptop, erzählt Franziska Röser am Telefon. Die 42-Jährige leitet die
Beratungsstelle seit drei Jahren. „Wir führen sehr viele sexualpädagogische
Projekte an Schulen und in Behinderteneinrichtungen durch. Hätten wir einen
Laptop, könnten wir auch mal eine Präsentation zeigen.“ Doch dafür fehlt
der Beratungsstelle das Geld.
Grund dafür ist, dass die sogenannte Sachkostenpauschale, die die Thüringer
Schwangerschaftsberatungsstellen jährlich vom Land bekommen, seit 2011
nicht erhöht worden ist. Pro vollzeitbeschäftigter
Schwangerschaftsberater:in erhält eine Einrichtung in Thüringen
16.000 Euro. Eine Beratungsstelle mit einer Vollzeit- und einer
Teilzeit-Beratungsfachkraft, die 20 Stunden in der Woche arbeitet, bekommt
also 24.000 Euro im Jahr.
Davon muss die Schwangerschaftsberatungsstelle [1][Miete und Nebenkosten]
bezahlen, Internet und Telefon, Fortbildungen, Fahrtkosten, Supervision,
Versicherungen, Druckerpatronen, Papier, Kugelschreiber,
Kontoführungsgebühr, Porto und Putzmittel. Hinzu kommen – und das ist das
große Problem – die Personalkosten für Verwaltungskräfte, also Personen,
die Termine vereinbaren, Ratsuchende empfangen und ans Telefon gehen. Diese
müssen die Einrichtungen ebenfalls von der Sachkostenpauschale bezahlen.
Die Personalkosten für die Schwangerschaftsberater:innen hingegen
übernimmt das Land Thüringen separat.
In Thüringen gibt es 26 Schwangerschaftsberatungsstellen. Diese
unterstützen Schwangere zum Beispiel bei persönlichen und finanziellen
Nöten und beraten zum Thema Abtreibung. Wer eine Schwangerschaft abbrechen
möchte, ist gesetzlich dazu verpflichtet, eine sogenannte
Schwangerschaftskonfliktberatung zu machen. 2022 haben in Thüringen knapp
8.500 Menschen Rat bei Schwangerschaftsberatungsstellen gesucht. Darüber
hinaus wurden 4.200 Konfliktberatungen durchgeführt, Folgeberatungen
miteingerechnet. Ohne die Konfliktberatung ist in Deutschland ein
Schwangerschaftsabbruch nicht möglich.
## Kleine Einrichtungen besonders in Not
Alle Beratungsangebote sind kostenlos. Das heißt, die Einrichtungen
verdienen kein Geld daran, sie sind gänzlich auf die Fördermittel des
Landes angewiesen. Je mehr Schwangerschaftsberater:innen in einer
Einrichtung arbeiten, desto mehr Geld bekommt diese vom Land. Die Zahl der
Berater:innen hängt von mehreren Faktoren ab, etwa von der
Einwohner:innenzahl des Einzugsgebietes, dem Anteil an Frauen zwischen
15 und 49 Jahren und der Geburtenrate. Laut
[2][Schwangerschaftskonfliktgesetz] braucht es je 40.000
Einwohner:innen mindestens eine:n Vollzeit-Berater:in.
„In der Stadt Erfurt haben die Einrichtungen natürlich mehr
Berater:innen als im ländlichen Raum“, sagt Julia Hohmann, Referentin
für Frauen und Familie beim Paritätischen Thüringen. Von der
Sachkostenpauschale profitierten insbesondere „große Beratungsstellen, die
vier Vollzeit-Berater:innen haben“. In Thüringen gebe es aber viele kleine
Einrichtungen, die nur 1,1 Vollzeitbeschäftige hätten.
Franziska Röser von der Awo-Schwangerschaftsberatungsstelle in Mühlhausen
kann nicht verstehen, warum das Land die Pauschale seit 2011 nicht
angehoben hat. „Es ist alles teurer geworden“, sagt die
Schwangerschaftsberaterin, von Strom, Gas und Benzin bis hin zu Bürobedarf.
„Löhne und Sozialleistungen wurden in den vergangenen zwölf Jahren ja auch
angepasst.“
Neben Röser sind in der Einrichtung in Mühlhausen und der Außenstelle im
nahegelegenen Bad Langensalza drei weitere Berater:innen angestellt.
Röser arbeitet 36 Stunden pro Woche, ihre Kolleginnen 32, 30 und 14
Stunden. „Insgesamt haben wir also 2,8 Vollzeitkräfte“, sagt Röser – was
einer Sachkostenpauschale von 44.800 Euro pro Jahr entspricht. „Davon
müssen wir zwei Beratungsstellen mit je einer Verwaltungsfachkraft
finanzieren.“
## Träger müssen immer mehr obendrauf legen
Das sei wegen der stark gestiegenen Inflation aber kaum noch machbar. Der
Eigenanteil, den der Träger erbringen müsse, liege Röser zufolge schon seit
mehreren Jahren über der gesetzlichen Vorgabe von 20 Prozent, 2022 zum
Beispiel bei 21,5 Prozent. Auch Julia Hohmann vom Paritätischen teilt mit,
dass viele Beratungsstellen in Thüringen die 20-Prozent-Grenze
überschritten hätten. „Das ist nicht erst seit diesem Jahr so, sondern
schon mindestens seit drei Jahren.“
Unter dem immer größer werdenden Eigenanteil litten vor allem [3][kleine
Träger wie Pro Familia], die nur Beratungen rund um Schwangerschaft,
Verhütung und Kinderwunsch anböten und damit kein eigenes Einkommen hätten,
sagt Hohmann. „Wenn sich nichts verändert, gehen kleine Träger an dem
Eigenanteil kaputt.“
Spricht man das von der Linken geführte Thüringer Sozialministerium auf den
wachsenden Eigenanteil an, heißt es, dass eine Überschreitung der 20
Prozent nicht bestätigt werden könne.
Die Caritas Erfurt hingegen stellt infrage, warum Träger überhaupt
Eigenanteile leisten müssen. Schließlich seien Schwangerschaftsberatungen
„Pflichtleistungen“ des Staates.
## Sparmaßnahmen reichen nicht aus
Die Awo Thüringen hat in den vergangenen Jahren schon mehrere
Trägerschaften für Schwangerschaftsberatungen abgegeben – „immer nur aus
finanziellen Gründen“, sagt Röser. Eine Schwangerschaftsberatungsstelle sei
für einen Träger „Luxus“. Bevor Röser 2012 angefangen hat, als
Schwangerschaftsberaterin zu arbeiten, habe es in Thüringen „mindestens
sechs“ Awo-Beratungsstellen gegeben. Heute gibt es nur noch eine einzige –
die, die Röser leitet.
Um zu sparen, kauft Röser das Papier für den Kopierer nicht online, sondern
geht zu Tedi oder Pfennigpfeiffer, einem Geschäft, das es nur in
Ostdeutschland gibt. „Doch selbst in diesen Läden kostet eine Packung
inzwischen sechs Euro“, sagt die Schwangerschaftsberaterin. Statt eine
Reinigungsfirma zu engagieren, putzen Röser und ihr Team die Beratungsräume
selbst – mit dem günstigsten Reinigungsmittel. Sie arbeiten an uralten,
langsamen Computern. Wenn sie Fortbildungen besuchen – was
Schwangerschaftsberater:innen mindestens einmal im Jahr müssen –,
dann nur welche in der Nähe.
Weil diese Sparmaßnahmen aber nicht ausreichten, musste die Leiterin
zusätzlich die Stunden der Verwaltungsfachkraft kürzen – was ihr „sehr
widerstrebt“ habe. Diese arbeitet jetzt nur noch 15 statt 20 Stunden in der
Woche.
Das aber sei nicht nur für die Verwaltungsfachkraft blöd, sondern
verringere auch die Qualität der Beratung. „Wenn ich eine Frau berate und
ständig das Telefon klingelt, weil die Verwaltungsfachkraft gerade nicht im
Dienst ist, dann stört das das Gespräch“, erklärt Röser. Um in Ruhe berat…
zu können, brauche es Verwaltungsfachkräfte. Hohmann vom Paritätischen
ergänzt: „Fast keine Beratungsstelle kann sich eine
Vollzeit-Verwaltungsfachkraft leisten.“
## Forderung: Land soll Verwaltungskräfte separat bezahlen
Awo, Paritätischer und Caritas fordern das Land Thüringen dazu auf, die
Personalkosten für die Verwaltungsfachkräfte separat zu übernehmen. Dann
müssten die Beratungsstellen sie nicht mehr aus dem Topf für die Sachkosten
bezahlen. „Damit wäre den Einrichtungen schon sehr geholfen, dann hätten
sie wieder Handlungsspielraum“, sagt Hohmann vom Paritätischen.
Sollten die Beratungsstellen die Verwaltungsfachkräfte jedoch weiter von
der Pauschale bezahlen müssen, müsste die Pauschale „mindestens auf 22.000
bis 24.000 Euro“ angehoben werden, sagt Hohmann. Schon seit 2011 sei der
Paritätische mit dem zuständigen Sozialministerium über die Erhöhung der
Pauschale im Austausch.
Wie das von der Linken geführte Sozialministerium auf Anfrage mitteilte,
sei ihm „die Forderung, die Verwaltungsfachkräfte separat als
Personalkosten zu betrachten“, bekannt. Eine entsprechende Änderung der
Förderverordnung sei „in der Bearbeitung“ und zum 1. Januar 2024
vorgesehen. Parallel sei die Entscheidung des Haushaltsgesetzgebers, also
des Thüringer Landtages, „maßgeblich“. Ob die Sachkostenpauschale dann no…
16.000 Euro betragen werde, wenn die Beratungsstellen davon nicht mehr die
Verwaltungsfachkräfte bezahlen müssen, stehe laut Ministerium noch nicht
fest.
Karola Stange, die frauenpolitische Sprecherin der Linksfraktion,
bezeichnete die Forderung als „berechtigt“. Die frauenpolitische Sprecherin
der Grünen Laura Wahl teilte der taz mit, den „Hilferuf“ der
Beratungsstellen wahrgenommen zu haben. In den anstehenden
Haushaltsverhandlungen werde die Grünen-Fraktion darauf hinwirken, „dass
die auskömmliche Finanzierung der Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen
und die tarifgerechte Bezahlung selbstverständlich gesichert sind“.
## Kritik aus der Opposition
Gleichzeitig wies die Grünen-Politikerin darauf hin, dass Thüringen die
Personalkosten für die Schwangerschaftsberater:innen „schon jetzt zu
hundert Prozent“ fördere, „was bundesweit ein Alleinstellungsmerkmal ist�…
Das stimmt. Wie eine Umfrage der taz unter allen Bundesländern zeigt,
bekommen die Schwangerschaftsberatungsstellen in allen anderen fünfzehn
Ländern eine Pauschale, von der sie sowohl die Personal- als auch die
Sachkosten bezahlen müssen. Je nach Bundesland werden achtzig bis neunzig
Prozent der Gesamtkosten übernommen.
Auch die SPD-Landtagsabgeordnete Cornelia Klisch sagte, dass Thüringen
„mehr für die Schwangerschaftskonfliktberatung“ mache als andere
Bundesländer. Dennoch sei die Lage aufgrund der hohen Inflation angespannt.
„Das spürt jede und jeder, so eben leider auch die Beratungsstellen.“
Der gesundheitspolitische Sprecher der FDP-Fraktion Robert-Martin Montag
hingegen teilte gegen die rot-rot-grüne Landesregierung aus. „Das unbeirrte
Festhalten an einer jahrealten Pauschale ist klar rechtswidrig“, sagte er.
Diese müsse „selbstverständlich“ an die Kostenentwicklung angepasst werde…
17 Jul 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Rieke Wiemann
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