# taz.de -- Prozess gegen Elektroschrott-Sammler: Gericht vermeidet Recycling-U… | |
> Der Hamburger Jürgen H. holte Elektroschrott aus einem Müllcontainer, um | |
> ihn wiederzuverwenden. Er wurde wegen Diebstahls angeklagt, aber nicht | |
> verurteilt. | |
Bild: Elektroschrott: Auch wenn er weggeworfen wurde, darf er nicht aus dem Con… | |
HAMBURG taz | Er habe doch nur nachgesehen, was man noch wiederverwenden | |
könne, erklärt Jürgen H. aufgeregt, als er von jenem Abend im August 2022 | |
erzählt, für den er angeklagt wurde. Der Rentner aus dem Hamburger Norden | |
hatte gemeinsam mit einem Freund Elektrogeräte aus einem Container für | |
Elektroschrott genommen, um zu prüfen, ob die Kabel und Kleinteile noch | |
verwertbar seien. „Ich bin Elektriker. Ich mache das fertig und gebe das an | |
Nachbarn und Freunde weiter oder verschenke es bei mir im Treppenhaus.“ | |
Denn: Die Hamburger Stadtreinigung prüfe eine Wiederverwertung nur bei | |
Geräten, die bei Recyclinghöfen oder im Sperrmüll abgegeben werden. | |
Der Inhalt der orangen Müllcontainer, von denen im ganzen Stadtgebiet | |
insgesamt 206 verteilt stehen, wird laut Stadtreinigung an | |
Entsorgungsfachbetriebe weitergegeben. Jürgen H. entgeistert das. | |
„Eigentlich dürfte die Stadt diese Art von Containern gar nicht | |
aufstellen“, sagt er und beruft sich dabei auf das deutsche Abfallrecht, | |
das [1][Kreislaufwirtschaftsgesetz]. | |
Dieses soll dazu dienen, natürliche Ressourcen zu schonen und eine | |
umweltverträgliche Bewirtschaftung von Abfällen zu sichern. „Wenn die | |
Stadtreinigung die Möglichkeit zum Recyceln nicht prüft, hat jeder Bürger | |
wegen des [2][Klimanotstands] das Recht, weggeworfenen Müll | |
wiederzuverwerten“, sagt er. „Ich berufe mich auf den rechtfertigenden | |
Notstand nach dem Strafgesetzbuch.“ Der Schutz des Klimas sei schließlich | |
eine zentrale Herausforderung und [3][als Notstand zu bewerten.] | |
Indes kam es im Nachklang des Abends im August 2022 zu einem | |
Gerichtsverfahren, weil H. und sein Kollege an dem Abend von einer Frau | |
gesehen wurden, die sie aufforderte, den Müll nicht mitzunehmen. | |
Unbeeindruckt davon hatten sie den Elektroschrott in eine Ikea-Tüte getan | |
und waren damit im Opel von H.s Sohn davongefahren. Die Zeugin merkte sich | |
sein Nummernschild und zeigte ihn an. Ein paar Tage später bekam er eine | |
Strafanzeige. „Es hieß, wir hätten das gestohlen“, erzählt H. Seinen Fre… | |
verriet er nicht. | |
Aus großem Unverständnis über die Strafanzeige las sich der über 70-jährige | |
H. intensiv in die Rechtslage ein, nachdem sich eine Geldstrafe von 500 | |
Euro für ihn abzeichnete. „Ich bin nun nicht ganz doof, ich habe immerhin | |
die mittlere Reife.“ | |
Einen Anwalt konnte er sich nicht leisten. Der frühere Elektriker und | |
Kurierfahrer bezieht Bürgergeld. So setzte er sich allein mit dem Thema | |
auseinander und kam zu dem Schluss, dass die Strafanzeige gegen ihn erst | |
gar nicht hätte gestellt werden dürfen: „Bei einem so geringwertigen | |
Diebstahl muss die Stadtreinigung selbst Anzeige erstatten, weil sie die | |
Besitzerin des Elektroschrotts ist. Das ist nicht passiert“, referiert er. | |
Außerdem hätte ein besonderes öffentliches Interesse formuliert werden | |
müssen. Hinzu käme ein Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgesetz, auf das | |
H. sich beruft, da beispielsweise Pfandsammler*innen nicht | |
kriminalisiert würden. Letztlich hätte er den [4][Elektroschrott] am | |
nächsten Tag sogar zurückgebracht, da dieser nicht brauchbar war, wie er | |
sagt. Für ihn ist klar. „Ich habe es rausgenommen, um das | |
wiederzuverwerten. Für mich war das kein Diebstahl.“ | |
Eine erste Gerichtsverhandlung im April im Amtsgericht Barmbek verlief | |
dennoch ergebnislos. H. stellte auf Basis seiner Recherche einen | |
Befangenheitsantrag gegen die Richterin. Diese habe den Strafantrag zu | |
Unrecht zugelassen. Da zwischen Gerichtsverhandlungen maximal drei Wochen | |
liegen dürfen, musste die Verhandlung wiederholt werden und es wurde ein | |
neuer Termin im Juli angesetzt. | |
An dem Tag erscheint H. in Jeans, einem kurzärmeligen Sweatshirt und | |
Laufschuhen frühzeitig im Gerichtsgebäude. „Wenn das dieselbe Richterin | |
ist, wie letztes Mal, stelle ich direkt einen Befangenheitsantrag. Dann | |
wird sich hier heute nichts entscheiden“, sagt er, bevor er in den Saal | |
gebeten wird. Drinnen breitet er mehrere Ordner mit Notizblättern und zwei | |
Gesetzesbücher vor sich aus, die er in einem schwarzen Rucksack mitgebracht | |
hat. | |
## Jürgen H. will ein Urteil | |
Dann eröffnet Richterin Wenke Stolter die Verhandlung. Sie ist dieselbe wie | |
in H.s erster Verhandlung. Er hat sichtlich Mühe, ihr zu folgen, da er nur | |
schwer hört. | |
Nachdem der Staatsanwalt die Anklage verlesen hat, will H. einen | |
Befangenheitsantrag stellen. Stolter erklärt, dass schon sein letzter | |
Antrag erfolglos war, da die Gründe für Befangenheit nicht erfüllt waren. | |
H. beginnt dennoch, einen langen Antrag zu verlesen. Irgendwann unterbricht | |
sie ihn und zwischen den beiden beginnt ein Disput darüber, ob er nun | |
weitermachen dürfe oder nicht. Nach einigem Hin und Her schlägt die | |
Richterin ihm vor, die Anklage fallen zu lassen, wenn er nur etwas Einsicht | |
zeige. | |
H. lehnt das Angebot ab. Der Staatsanwalt greift ein und spricht ihn direkt | |
an: „Es geht hier um eine überschaubare Sache.“ H. ist fassungslos, | |
verliest weiter den Antrag, bis ihn die zwei Jurist*innen unterbrechen. | |
„Wir setzen die heutige Verhandlung aus. Ich habe Ihnen angeboten, das | |
Verfahren wegen geringer Schuld fallen zu lassen. Sie haben das abgelehnt“, | |
sagt Stolter. „Das kommt nicht in Frage. Ich bin schuldunfähig“, sagt H. | |
„Obgleich ich ihnen so ein Angebot mache, halten sie mich für befangen“, | |
entgegnet die Richterin. | |
Schließlich liest sich Jürgen H. den betreffenden Paragrafen in einem | |
seiner Gesetzesbücher durch. Er hustet laut und versucht noch ein letztes | |
Mal, die inhaltlichen Punkte, die er sich mühsam zurechtgelegt hatte, zu | |
erklären. „Es geht mit Klimaschutz einher.“ Sie wolle sein Engagement nicht | |
kleinreden, sagt die Richterin. Das Gericht sei aber nicht der Raum, das zu | |
klären. „Wir können das Klima hier nicht retten.“ | |
## Kapitulation im letztmöglichen Moment | |
„Es geht hier um Sie. Zu der Einstellung müssen Sie bereit sein“, schaltet | |
sich der Staatsanwalt ein. „Ich stimme zu, na gut“, sagt H., und | |
kapituliert im letztmöglichen Moment, woraufhin die Richterin unmittelbar | |
verliest, dass das Verfahren mit Zustimmen des Angeklagten wegen | |
Geringfügigkeit eingestellt wird. „Lassen Sie es bitte mit dem | |
Elektroschrott sein“, sagt Stolter abschließend. | |
Doch H. wirkt, als hätte er ab dem Moment kaum noch zugehört, beruft sich | |
auch nach Ende der Verhandlung monolog-artig weiter auf Ungleichbehandlung | |
zwischen dem Sammeln von Pfand und Elektroschrott. Die Richterin und der | |
Staatsanwalt verlassen den Gerichtssaal. | |
Jürgen H. packt seine Sachen zusammen und geht nach draußen. Er ist froh, | |
die Geldstrafe nicht zahlen zu müssen, aber trotzdem unzufrieden. Er wollte | |
mit seinem Fall ein Exempel statuieren, einen sogenannten Präzedenzfall für | |
zukünftige Prozesse. „Ich bin nicht der Einzige, der Elektromüll da | |
rausholt.“ | |
Kurz ist er unentschlossen, ob er weiter Elektroschrott wiederverwenden | |
will. Doch dann ist er sicher: „Ich würde das immer wieder machen. Ich bin | |
freigesprochen. Und irgendwann muss das geklärt werden mit der | |
Gleichbehandlung und dem [5][Notstand].“ | |
12 Jul 2023 | |
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## AUTOREN | |
Emmy Thume | |
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