# taz.de -- Erhöhung des Mindestlohns um 41 Cent: Wo bleibt die Aufregung? | |
> Die Mindestlohnerhöhung ist so minimal, dass sie einen Reallohnverlust | |
> bedeutet. Wer das berechnet hat und was Gewerkschaften sagen. | |
Bild: Lebensmittel werden immer teurer. 41 Cent mehr die Stunde helfen da kaum … | |
1 Der Mindestlohn steigt 2024 auf 12,41 Euro, 2025 dann auf 12,82 Euro. | |
Warum? | |
Das hat die Mindestlohnkommission so festgelegt, die aus | |
Unternehmerverbänden, Gewerkschaftsvertretern und einem neutralen Dritten | |
besteht. Sie argumentieren, dass die Wirtschaft nach Corona und | |
Energiepreisschock nur wenig wächst. Deshalb fällt die Erhöhung gering aus. | |
Berechnet wird der Mindestlohn nach einer Formel. Seine Höhe „orientiert | |
sich nachlaufend an der Tarifentwicklung“. Das heißt: Wenn die Löhne im | |
letzten Jahr um 10 Prozent gestiegen sind, steigt der Mindestlohn demnächst | |
auch um 10 Prozent. Das soll dafür sorgen, dass Mindestlohn und Löhne sich | |
in die gleiche Richtung bewegen. Allerdings steigt der Mindestlohn somit | |
immer später als die Tariflöhne. Weil die Löhne in den letzten beiden | |
Jahren nur um 3 Prozent gestiegen sind, wird der Mindestlohn zweimal nur um | |
41 Cent angehoben – 3 Prozent pro Jahr. | |
Aber wenn es nur dieses mechanische Verfahren gäbe, dann könnte man die | |
Mindestlohnkommission auflösen. Da würde ein Beamter im Arbeitsministerium | |
mit einem Taschenrechner reichen. Es ist komplexer. Die Kommission soll | |
beim Taxieren des Mindestlohns mehrere Motive beachten, die sich | |
widersprechen können. Er soll nämlich ein „angemessener Mindestschutz“ f�… | |
Beschäftige sein – also hoch genug. Andererseits soll er keine Jobs | |
gefährden – also nicht zu hoch sein. Der Mindestlohn ist daher keine | |
Rechenaufgabe, sondern das Ergebnis politischer Kämpfe. | |
2 Warum gibt es einen Mindestlohn? | |
Als Gerhard Schröder 2003 die Hartz-Gesetze einführte, hätte es fast einen | |
Mindestlohn gegeben. Die SPD wollte, die Gewerkschaften wollten nicht – | |
Lohnpolitik sei ihre Sache. Sie fürchteten, entmachtet zu werden. Das war | |
eine katastrophale Fehleinschätzung. Hartz IV ohne Lohnregulierung führte | |
zu einem extrem großen Niedriglohnsektor und einer dramatischen Entwertung | |
von Arbeit. Das sei eben Marktwirtschaft, befand die FDP. Doch wenn viele | |
(vor allem Frauen, vor allem im Osten) weniger als 4 oder 5 Euro in der | |
Stunde verdienen, während in der Finanzkrise Steuerzahler Banken mit | |
Hunderten Milliarden stützen müssen, ist Marktwirtschaft vielleicht doch | |
keine so gute Idee. | |
Je destruktiver die neoliberale Marktgläubigkeit wirkte, umso attraktiver | |
wurde der Mindestlohn. 2015 führte die Große Koalition endlich und sehr | |
spät den allgemeinen Mindestlohn von 8,50 Euro ein – auf Drängen von | |
Linkspartei, SPD und DGB und gegen den Widerstand von Union, FDP und | |
Unternehmern. | |
3 Wieso legt eine Kommission die Höhe fest – und nicht der Arbeitsminister? | |
Für die weiteren Erhöhungen ist seit 2015, nach dem Vorbild | |
Großbritanniens, die unabhängige Kommission zuständig. Die Idee: | |
Tarifpolitik ist Sache von Unternehmern und Gewerkschaften. Deshalb sollen | |
sie staatsfern mit einem neutralen Vermittler den Mindestlohn anpassen. | |
Denn dessen Höhe beeinflusst ja auch die Löhne oberhalb des Mindestniveaus. | |
Konservative und Liberale argwöhnen zudem, dass (linke) Politiker aus | |
wahltaktischen Gründen den Mindestlohn zu oft erhöhen würden. Außerdem | |
passt so eine Kommission prima zum beteiligungsorientierten, | |
sozialpartnerschaftlichen deutschen Modell. | |
4 War der Mindestlohn seit 2015 ein Erfolg? | |
Der Mindestlohn hatte höchst erfreuliche Auswirkungen. Die von neoliberalen | |
Ökonomen an die Wand gemalten Schreckensszenarien – massive Jobverluste und | |
Firmenpleiten – blieben aus. Dafür stieg die Kaufkraft – das half der | |
schwachen Binnennachfrage. Die mit der „Agenda 2010“ drastisch gestiegene | |
Ungleichheit der Einkommen ging wieder etwas zurück. Dabei war die | |
Kommission mehr als vorsichtig, sie hob den Mindestlohn von 2015 bis 2021 | |
gerade mal um 1 Euro an – auf 9,50 Euro. So recht verständlich war diese | |
Zurückhaltung nicht. Olaf Scholz hatte 2017 daher die richtige Idee (das | |
Copyright hat die Linkspartei): Wenn die Kommission es nicht hinbekommt, | |
muss – Staatsferne hin, Tarifautonomie her – die Regierung eben 12 Euro | |
Mindestlohn durchsetzen. Der gilt seit dem 1. Oktober 2022. Das war ein | |
politischer Erfolg der SPD, die „Respekt“ auch für einfache Arbeit | |
einforderte. | |
5 Warum sind angemessene Löhne wichtig? | |
Der US-Philosoph Michael Sandel hat die politische Notwendigkeit | |
angemessener Löhne so beschrieben: „[1][Im Vergleich zu den riesigen | |
Finanzgewinnen scheint ganz normale Arbeit wenig wert.] Und die Menschen, | |
die sie verrichten, werden gering geschätzt. Das muss sich ändern.“ Beim | |
Mindestlohn geht es also um die ganz großen politischen Themen: | |
Gerechtigkeit, Gemeinsinn und den gesellschaftlichen Zusammenhalt, ohne den | |
die Demokratie zerfällt. Wenn Menschen in einem reichen Land Vollzeit | |
arbeiten und davon nicht anständig leben können, verdampft ihr Vertrauen in | |
die Gesellschaft. [2][Zu viel Ungleichheit ruiniert die Demokratie]. Und | |
macht nachweisbar empfänglich für rechtspopulistische Botschaften. | |
6 Interessieren sich Medien für den Mindestlohn? | |
Medial ist das Thema unterbelichtet. Kein Aufreger, nichts für Seite 1, | |
höchstens Seite 10! Schwierige Materie, viele Zahlen. Und es geht um die | |
Unterschicht, also Leute, die unterdurchschnittlich oft wählen gehen und | |
nur bedingt teure Qualitätsmedien konsumieren. Alles unsexy. Dabei könnte | |
man diese 41 Cent Erhöhung durchaus ein kleines bisschen wichtiger finden, | |
als, sagen wir mal, die Krönung von Prinz Charles. Der Mindestlohn betrifft | |
schließlich gut sechs Millionen Menschen. Plus deren Familien. | |
7 Warum sind die Gewerkschaften jetzt empört? Sind 41 Cent wirklich zu | |
wenig? | |
41 Cent wären ein akzeptabler Kompromiss – wenn Putin die Ukraine nicht | |
überfallen hätte, die Gaspreise nicht explodiert wären und Lebensmittel | |
nicht drastisch teurer geworden wären. Angesichts der Inflation von knapp 7 | |
Prozent 2022 bedeuten die 41 Cent einen Reallohnverlust für Ärmere. Die | |
Gewerkschaften tragen den Entschluss der Kommission zum ersten Mal nicht | |
mit. Und haben dafür gute Gründe. Marcel Fratzscher, Chef des DIW, weist zu | |
Recht darauf hin, dass Ärmere von der Inflation heftiger betroffen sind als | |
die Mittelschicht – [3][denn sie müssen einen größeren Teil ihres Geldes | |
für Lebensmittel ausgeben. Die sind aber um fast 20 Prozent teurer | |
geworden]. Die Kommission hätte also – ihren eigenen Kriterien folgend – | |
auch 13 Euro aufwärts festlegen können, eben um einen „angemessenen | |
Mindestschutz“ für Beschäftigte zu schaffen. Hat sie aber nicht. Weil die | |
Unternehmervertreter blockierten. | |
8 Wie geht es jetzt weiter? | |
Die Gewerkschaften hoffen auf die EU-Richtlinie, die Deutschland | |
spätestens im Herbst 2024 umsetzen muss. Dann muss der Mindestlohn 60 | |
Prozent dessen betragen, was ein Durchschnittsbeschäftigter bekommt. | |
Technisch ausgedrückt: 60 Prozent des Medianlohns. Das wären laut | |
Gewerkschaften derzeit 13,50 Euro pro Stunde. Unternehmernahe Ökonomen und | |
Medien deuten die EU-Richtlinie aber nicht als exakte Vorgabe, sondern als | |
lose Orientierung, von der man auch abweichen kann. Und bei 60 Prozent vom | |
Medianlohn kommen manche Rechenkünstler nicht auf 13,50 Euro, sondern auf | |
12,40. | |
9 Und nun? | |
Die Fixierung auf die vergangene Lohnentwicklung kann zu krassen Unwuchten | |
führen. Die Kommissionskriterien müssten daher so verändert werden, dass | |
der Mindestlohn nicht mehr zu niedrig angesetzt werden kann. Dafür müssten | |
neben dem Medianlohn auch die Preisentwicklung oder aktuelle | |
Tarifabschlüsse einkalkuliert werden. Aber ist das realistisch? Die | |
Unternehmerverbände verfügen über eine schlagkräftige Lobby. Der | |
Reform-Elan der SPD scheint mit 12 Euro Mindestlohn und Bürgergeld schon | |
wieder gänzlich erschöpft zu sein. Die Linkspartei möchte in ihrer | |
Selbstbeschäftigung nicht gestört werden. | |
Also alles verloren? Nicht ganz. Es gibt einen Faktor, der allen nutzt, die | |
im Supermarkt und auf Baustellen, in Callcentern, Blumenläden und | |
Schlachthöfen arbeiten: der Arbeitskräftemangel. Weil nicht nur gut | |
ausgebildete Fachkräfte rar werden, sind Dumpinglöhne schwerer | |
durchsetzbar. Und vielleicht könnten neue Bündnisse entstehen. | |
Karl-Josef Laumann, Chef des Arbeitnehmerflügels der CDU, hat die 41 Cent | |
in Grund und Boden kritisiert. [4][Die Erhöhung sei zu gering und | |
weltfremd, die Kommission mache sich damit überflüssig]. Der Mindestlohn | |
bleibt ein politisches Kampffeld. Medial randständig, aber für Millionen | |
von zentraler Bedeutung. | |
1 Jul 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.spiegel.de/politik/michael-sandel-wie-der-harvard-philosoph-die… | |
[2] https://democracy.fes.de/topics/right-wing-populism | |
[3] https://www.diw.de/de/diw_01.c.875834.de/nachrichten/der_mindestlohn_muss_d… | |
[4] https://www.zeit.de/news/2023-06/26/laumann-kritisiert-neuen-mindestlohn-au… | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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